Dienstag, 2. Oktober 2018

Wie kommt die Scheiße in die Köpfe?


Eine wissenschaftliche Konferenz in Berlin über »Marx als Anreger«

Von Jakob Hayner
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Waffenkammer: Für die Kritik der neoliberalen Konterrevolution bietet Marx massig Munition
Der 200. Geburtstag von Karl Marx ist sicher kein schlechter Anlass, um gemeinsam zu überlegen, welche Anregungen von seinem Werk ausgehen. So hatte am vergangenen Wochenende das Kollegium Wissenschaft der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg unter dem Titel »Lebendiges Denken: Marx als Anreger« zum Austausch eingeladen. Fragen der Wissenschaft standen im Vordergrund, in Vorträgen wurde der Einfluss der Marxschen Theorie dargestellt. Nicht erwünscht, so formulierten es die Organisatoren, war bloße Klassikerpflege. Marx hatte bekanntlich für eine »Professoralform« nur Spott übrig, »die ›historisch‹ zu Werke geht und mit weiser Mäßigung überall das ›Beste‹ zusammensucht, wobei es auf Widersprüche nicht ankommt«. Das war für ihn die »Grabstätte der Wissenschaft«. Im Gegenteil war lebendiges Denken gefordert.
Bemerkenswert war schon die Zusammensetzung der Referenten. Zum einen handelte es sich um ältere Wissenschaftler aus der DDR, vor allem von der Akademie der Wissenschaften und der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). So waren einige Schüler Hermann Leys vertreten, wie Karl-Friedrich Wessel, Werner Ebeling und Hubert Laitko. Ley hatte an der HU ab Ende der 50er Jahre einen Lehrstuhl für Philosophische Probleme der modernen Naturwissenschaften inne, 1990 ging daraus das Interdisziplinäre Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik hervor. Dort bemühte man sich um neue wissenschaftliche Ansätze. Noch heute war manchen der damals Forschenden die Verärgerung über die Gängelung der technischen Intelligenz aufgrund einer bornierten SED-Linie und allzu eilfertig erhobener Revisionismusvorwürfe anzumerken. Der andere Teil der Vortragenden waren junge Wissenschaftler und Autoren, die zum Teil studieren oder gerade erste längere Texte veröffentlicht haben. Sie entstammen verschiedenen Universitäten und Fachgebieten, wenn sie überhaupt an einer Hochschule tätig sind. Die Referentenriege bot somit ein treffendes Bild heutiger marxistischer Wissenschaft und Publizistik: Dort die Wissenschaftler, die einst auf Grundlage des abgeschafften Privateigentums die Probleme des Sozialismus zu lösen trachteten, hier die Kinder der neoliberalen Konterrevolution und der Wirtschaftskrise, die sich mit Marx munitionieren, um die Abschaffung der privaten Verfügung über Produktionsmittel überhaupt wieder denkbar zu machen.
Dem Eindruck nach war die außerwissenschaftliche Erfahrung der beiden hier skizzierten Generationen, zwischen denen teils ungefähr 50 Jahre Lebenszeit liegen, auch ausschlaggebend für die Wahl der Gegenstände. Laitko, der die Konferenz eröffnete, sprach über die Anregungen, welche die Wissenschaftsforschung in der DDR von dem britischen Physiker John Desmond Bernal empfing, der sie wiederum 1931 in London von einer sowjetischen Delegation unter Leitung Nikolai Bucharins erhalten hatte. Die Diskussionen über Sozialismus und Wissenschaft ab 1917 in der Sowjetunion bezogen sich auf Marx und Engels. Thomas ­Kuczynski, der jahrelang am Institut für Wirtschaftsgeschichte der HU arbeitete, stellte seine Überlegungen zur Arbeitswerttheorie vor und zeigte, wie diese für eine mit den Naturressourcen vernünftiger verfahrende Produktion anzuwenden sei.
Die 1985 geborene Autorin Luise Meier griff auf ihr Buch »MRX Maschine« (siehe junge Welt vom 27. August) zurück, um auf die Schwierigkeiten eines proletarischen Klassenbewusstseins unter neoliberalen Bedingungen zu verweisen. Dass Marx’ Text »Zur Judenfrage« bereits eine Kritik des modernen Antisemitismus und seiner Bedingungen enthält, referierte Manuel Disegni. Nikos Tzanakis Papadakis zeigte, dass Recht und Ökonomie auf Bedingungen basieren, die sie weder selbst schaffen noch Teil ihrer Begründung sind. Voraussetzung ist der außerökonomische bzw. außerrechtliche Konflikt, der Klassenkampf. Dania Alasti machte darauf aufmerksam, dass in der neueren feministischen Theorie auf Marx zurückgegriffen wird, insoweit die Reproduktion der Gesellschaft nicht in der Reproduktion des Kapitals aufgeht. Kapitalistische Mehrwertproduktion setzt andere Produktionsweisen voraus, was auch patriarchale Unterdrückung beinhaltet. Per Violet zeigte, dass die Naturwissenschaften ein dialektisches Denken im Sinne Hegels, Marx’ und Engels’ benötigen, um ihrem Gegenstand gerecht werden zu können. Das traf sich mit Überlegungen von Karl-Heinz Bernhardt, der anhand des Klimawandels demonstrierte, dass die Natur durchaus dialektische Sprünge macht. Dabei bezog er sich auf die von dem Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber sogenannten Tipping points, Momente, an denen eine bestimmte Quantität in eine neue Qualität umschlägt. Wer sich für die Details interessiert, sei an dieser Stelle auf den geplanten Tagungsband verwiesen.
Bei den jüngeren Vortragenden lag der Schwerpunkt eher auf Kritik als auf positiver Wissenschaft. Lebendiges Denken nach und mit Marx meint wohl aber genau das: sich der Situation stellen, in der man sich jeweils befindet. Der Dichter Ronald M. Schernikau stellte 1990 fest: »Wir werden uns wieder mit den ganz uninteressanten Fragen auseinanderzusetzen haben, etwa: Wie kommt die Scheiße in die Köpfe? (…) Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.« Das betrifft wohl auch die Wissenschaft.

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