Weniger Menschen, dafür mehr Arme: Trübe Aussichten für den Osten 28 Jahre nach dem Beitritt zur BRD
Von Nico Popp
Leben war früher mal: Zentrum der Kleinstadt Loitz in Mecklenburg-Vorpommern
Foto: Stefan Sauer/dpa
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Der »Tag der deutschen Einheit« steht an; und damit einmal mehr auch die besorgte und ziemlich verlogene Frage, ob das denn alles so geklappt hat und weiterhin klappt mit dem für alle Beteiligten vorteilhaften »Zusammenwachsen von Ost und West«. Offenbar nicht: In Westdeutschland, teilte das Statistische Bundesamt am Montag mit, lebten 2017 rund fünf Millionen Menschen mehr als 1990 (plus 8,2 Prozent). Dagegen ist die Einwohnerzahl in Ostdeutschland (einschließlich Berlin) im gleichen Zeitraum um rund zwei auf 16,2 Millionen (minus elf Prozent) zurückgegangen. Sachsen-Anhalt wird einer Studie des Prognos-Instituts zufolge in den nächsten beiden Jahrzehnten noch einmal jeden fünften Einwohner verlieren, Mecklenburg-Vorpommern jeden siebten.
Der Grund für die seit Jahrzehnten anhaltende Abwanderung ist eigentlich kein Geheimnis: Es war im Osten lange nicht einfach, überhaupt als Lohnarbeiter Verwendung zu finden. Und die, denen das gelang und weiter gelingt, müssen ihr Leben häufig am oder nahe am Niveau des Mindestlohns ausrichten. Wer hier lebt, ist im Durchschnitt ärmer als Menschen im Westen. Der Sozialverband VdK erklärte am Montag, die Armutsquote im Osten Deutschlands sei »vor allem deshalb so hoch, weil dort so viele Menschen nur prekär und im Niedriglohnsektor beschäftigt sind«. Viele Beschäftigte erhielten nur den gesetzlichen Mindestlohn. »Er verhindert Armut nicht«, sagte Verbandspräsidentin Verena Bentele. Der Mindestlohn müsse auf über zwölf Euro angehoben, Leiharbeit und Minijobs müssten zurückgedrängt werden.
Auf das gleiche Problem hat auch die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke am Montag hingewiesen. Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Zimmermann, warf der Bundesregierung bei der Armutsbekämpfung »Totalversagen« vor. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der »Einheit« sei es nicht nachvollziehbar, dass es immer noch ein deutliches Einkommensgefälle zwischen West und Ost gebe, sagte sie gegenüber dpa.
Eigentlich ist es das schon, und ändern wird es sich nicht. Prognos nimmt an, dass der Osten wirtschaftlich und sozial langfristig weiter zurückfallen wird. »Bis 2045 nimmt das Gefälle nach unseren Prognosen wieder zu«, heißt es in der Studie, aus der die dpa vorab zitierte. Liege die Wirtschaftsleistung pro Kopf im Osten heute bei drei Vierteln des Westniveaus, sinke sie bis 2045 auf weniger als zwei Drittel und damit sogar noch unter den Wert aus dem Jahr 2000. »Bei einer Fortsetzung der bisherigen Politik werden sich die materiellen Lebensverhältnisse zwischen Ost und West nicht angleichen«, schreiben die Autoren. Dafür machen sie allerdings nicht die spezielle Logik der kapitalistischen Produktionsweise in Ostdeutschland, sondern »Abwanderung und geringe Geburtenzahlen« verantwortlich – so elegant kann man Ursache und Wirkung verwechseln.
Joachim Ragnitz, Koautor einer gerade veröffentlichten Studie des Ifo-Instituts, stellte unterdessen sorgenvoll fest, dass im Osten »das Vertrauen« in die »demokratischen Institutionen« geringer ausgeprägt sei als im Westen. Kritische Linke sollte das eher ermuntern. Freunde jeder Form von »Einheit« sind ihnen prinzipiell verdächtig, Rufe nach »Zusammenhalt« in einer Klassengesellschaft verhasst, »Vertrauen« in den bürgerlichen Staat gedenken sie nicht zu fördern. Sie wollen wissen, wie die Klassengesellschaft und ihr politischer Überbau funktionieren – und was man dagegen tun kann. Im Osten und im Westen.
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