30. Januar 2016
Noch immer quält Mexiko die Frage, was
mit den vor fast anderthalb Jahren verschwundenen Studenten
von Ayotzinapa geschehen ist. Nur eines wird klarer: Der Staat
hat versagt.
Von Benedikt Peters
Vor bald anderthalb Jahren verschwanden in Mexiko 43
Studenten. Das Verbrechen hielt monatelang das Land in Atem,
es ist bis heute ungesühnt. Nur zwei der Verschwundenen sind
nachweislich tot. Körperteile von Jhosivani de la Cruz und
Alexander Mora Venancio wurden in einem Fluss und auf einer
Mülldeponie gefunden, zum Teil in Säcke verpackt. Alexander
wurde 19, Jhosivani 20 Jahre alt. Von den 41 anderen fehlt bis
heute jede Spur. Menschenrechtsorganisationen erheben seitdem
schwere Vorwürfe gegen Mexikos Polizei und Justiz. Zuletzt
warf Amnesty International den mexikanischen Behörden "tief
greifendes Versagen" vor. Der Verbleib von insgesamt 27 000
Menschen sei in Mexiko ungeklärt.
Die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto steht unter
Druck. Das Verbrechen an den Studenten von Ayotzinapa ist bis
heute auch ein Symbol für Mexikos Unfähigkeit, die
Drogenkriminalität zu beenden - mindestens so sehr wie die
grotesken Fluchten des Drogenbosses Joaquín Guzmán, genannt
"El Chapo".
Miguel Ruiz Cabañas, Staatssekretär in Mexikos Regierung, und
zuständig für Menschenrechte, sah sich kürzlich bei einem
Besuch in Berlin zu einer Rechtfertigung genötigt. Ja,
Ayotzinapa sei ein schreckliches Verbrechen gewesen, räumt er
ein. Aber keine Sorge: "Die mexikanische Regierung unternimmt
alle Anstrengungen, die notwendig sind, um die Wahrheit und
die Verantwortlichen zu finden und sie zu bestrafen. Egal, wie
lange das dauert."
Tatsächlich dauert es schon ziemlich lange. Am 26. September
2014 verschwanden in der 100 000-Einwohner-Stadt Iguala im
Bundesstaat Guerrero 43 Studenten. Die offizielle Version, die
die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft bald nach der Tat
verkündet hatte, geht so: Die Studenten, eingeschrieben für
das Lehramt an der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, hatten
im nahen Iguala Reisebusse gekapert, mit denen sie zu einer
Demonstration fahren wollten. Um halb zehn Uhr abends schossen
plötzlich Polizisten auf sie, sechs Menschen starben.
Die Polizisten standen in den Diensten des Drogenkartells
Guerreros Unidos. Sie nahmen 43 Studenten fest und übergaben
sie Berufskillern der Drogenbande. Die Studenten wurden von
diesen laut offizieller Version mit Kopfschüssen getötet, auf
einer Müllkippe im nahen Cocula aufgeschichtet und verbrannt.
Der frühere Generalstaatsanwalt José Murillo Karam bezeichnete
das im Januar 2015 als "historische Wahrheit". Staatspräsident
Peña Nieto sprang bei: Das Land müsse, so schrecklich das auch
sei, nun nach vorne schauen.
Die Angehörigen glauben den Behörden längst kein Wort mehr
Aber es gibt ein Problem. Es ist 560 Seiten stark und stammt
von einem Expertengremium der Interamerikanischen Kommission
für Menschenrechte (CIDH), die monatelang ermittelte. In ihrem
Untersuchungsbericht heißt es, die Studenten können nicht auf
der Müllkippe in Cocula verbrannt worden sein. Dafür gebe es
dort zu wenige Spuren. Staatssekretär Ruiz Cabañas versteht
das Problem nicht. "Das Ermittlungsverfahren war ja nie
geschlossen, alles wird aufgeklärt werden", versichert er am
Telefon. Wie das zu der "historischen Wahrheit" des früheren
Generalstaatsanwalts passt, sagt er nicht.
Als Reaktion auf die Zweifel hat die
Generalstaatsanwaltschaft inzwischen das Verfahren neu
aufgerollt. Die Müllkippe in Cocula soll noch einmal
untersucht werden, 111 Verdächtige wurden festgenommen. Unter
ihnen ist auch der mutmaßliche Drahtzieher, Gildardo López
Astudillo, bekannt als "El Gil". Zweifel an der Sorgfalt der
Ermittlungen aber sind geblieben. Beweismittel wurden offenbar
zurückgehalten. Inwieweit Sicherheitsbehörden in die Tat
verstrickt sind, ist noch immer nicht geklärt. Sicher ist nur:
Um 43 Menschen verschwinden zu lassen, braucht es viele
Helfer, auch von offizieller Stelle. Dubios bleibt auch die
Rolle des Militärs. Klar ist, dass Soldaten des 27.
Infanteriebataillons vor Ort waren, als die Polizisten die
Studenten beschossen. "Nähere dich nicht und riskiere nichts",
soll laut der spanischen Zeitung El País ein Befehl
gelautet haben. Die Angehörigen der Verschwundenen glauben
kein Wort der offiziellen Version. Seit Monaten organisieren
sie Massenproteste und rufen zu Wahlboykotten auf, unterstützt
von Menschenrechtsorganisationen. Geholfen hat der Protest
bisher nichts. Nun wollen die Angehörigen Papst Franziskus
treffen, wenn er im Februar nach Mexiko kommt.
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