Samstag, 22. November 2014
Ein Kleinod (Georg Fülberth)
Im Laika-Verlag erscheint die Reihe »Marxist Pocket Books«. Autor(inn)en kommentieren darin klassische Texte des 19./20. Jahrhunderts, zum Beispiel Terry Eagleton das Kommunistische Manifest, Dietmar Dath Lenins »Staat und Revolution« oder Barbara Kirchner die »Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin« von Alexandra Kollontai. Da die Texte schon andernorts publiziert und meist auch heute noch leicht zugänglich sind, rechtfertigt sich die Neuauflage, wenn Älteres neu gesehen und für die Gegenwart nutzbar gemacht wird.
Im Februar 2015 wird als Band 7 der Reihe »Lohn, Preis und Profit« von Karl Marx mit einer Einführung von Thomas Kuczynski herauskommen.
Wer in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik historisch-materialistisch sozialisiert wurde, meint den Text zu kennen. Er schien damals eine unmittelbare praktische Bedeutung zu haben, zum Beispiel für Lehrlingsgruppen, die von Studierenden – wie man damals sagte – »agitiert« wurden. Es ging um die Behauptungen über die Lohn-Preis-Spirale und den Arbeitsplatzverlust durch hohe Tarif-abschlüsse und weshalb das Irrlehren seien. Auch von einem »Bürger Weston« war die Rede, der diesen Aberglauben sogar in den Generalrat der Ersten Internationale hineintrug und deshalb von Karl Marx – dem die ungeteilten Sympathien seiner jungen Leserinnen und Leser nach 1968 galten – zurechtgewiesen wurde. Die größte Zustimmung aber fanden die Schlußsätze:
»Gewerkschaften tun gute Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen die Gewalttaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.«
So weit, so klar: Reformen bringen nicht viel, Revolution ist besser, und weil die gegenwärtig nicht zu haben ist, bleibt der alte Text zwar ehrwürdig, aber ohne praktische Bedeutung. Dachte man.
Liest man die Rede aus dem Jahr 1865, die erst nach Marx‘ Tod, nämlich 1898, im Druck veröffentlicht wurde, stößt man auf Schwierigkeiten, die es auch früher schon gab, die man aber wohl nicht zur Kenntnis nahm, weil es damals nur um Lohn-Preis-Spirale, Arbeitsplatzabbau sowie Reform und Revolution zu gehen schien und man deshalb offenbar damals insgeheim der Ansicht war, das alles hätte auch kürzer gesagt werden können. Marx quält sich und sein Publikum von 1865 mit methodologischen Fragen, zum Beispiel über das Verhältnis von Alltagsverstand, der an der Richtigkeit, und Wissenschaft, die an der Wahrheit interessiert sei. Vom Standpunkt des ersteren sei die Erkenntnis, die Erde kreise um die Sonne, paradox. Geschenkt, denkt man, warum hält Marx sich damit auf?
Nächste Frage: Man kann sich über den Respekt wundern, mit dem er dem von ihm kritisierten John Weston gegenübertritt. Dies unterscheidet sich deutlich von dem schneidenden Ton, in dem er sonst über Gegner herzufallen pflegte. Wie sind diese Auffälligkeiten zu erklären?
Thomas Kuczynski trägt Überraschendes vor: »Lohn, Preis und Profit« ist nicht nur ein polemischer Text aus aktuellem Anlaß, sondern, obwohl schon 1865 entstanden, eine Einführung in Band I des »Kapital«, der noch gar nicht vorlag. Er wurde erst 1867 veröffentlicht. Seitdem sind solche Zusammenfassungen Legion, in jeder Generation erscheinen parallel mehrere davon. Mit »Lohn, Preis und Profit« hätten wir sozusagen den Prototyp eines solchen Kompendiums.
Die Marx-Philologie hat im Zusammenhang der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) herausgefunden, daß der erste Band des »Kapital« für seinen Verfasser noch keineswegs der Weisheit letzter Schluß war. Er kämpfte weiter um noch größere begriffliche Klarheit. Die Fassung von 1867 war eine Zwischenstufe, überschritten schon in der zweiten Auflage 1872. Kuczynski weist darauf hin, daß in der Rede von 1865 das, was zwei Jahre später als Mehrwertrate definiert wurde, noch – weniger differenziert – als Profitrate bezeichnet ist. Hier wurde also eine Art Berichtigung nötig, die der Kommentator von 2014 in der Nachfolge von Marx vornimmt.
Die Unterscheidung von Wahrheit und Alltagswirklichkeit ist nichts anderes als eine populäre Zusammenfassung des berühmt-berüchtigten »Fetisch-Kapitels« aus dem ersten Band. Der Respekt vor John Weston ergibt sich daraus, daß er zwar Falsches, aber dennoch Weiterführendes vorträgt. Es gibt im Reich des »Richtigen« – nicht des »Wahren« – tatsächlich eine Lohn-Preis-Spirale und Jobverlust durch Lohnerhöhung, nämlich dann, wenn die Kapitalisten die Macht haben, letztere durch Preiserhöhungen und/oder Rationalisierungen mit der Folge von Entlassungen zu kompensieren. Es ist eine Frage des Kräfteverhältnisses. Marx hat zwar wissenschaftlich herausgearbeitet, daß der Lohn nicht der Preis der Arbeit, sondern der Arbeitskraft ist (das ist eine Wahrheit), im Tageskampf ist die Losung: »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« angemessen und mobilisiert stärker. John Weston verdient seine Achtung, weil er kein Anpasser, sondern ein Radikaler war: Seine falschen Auffassungen führten ihn zu der Konsequenz, das ganze Lohnsystem müsse gestürzt werden, und mit dieser Parole, aber ganz anders begründet, endet die Schrift »Lohn, Preis und Profit«.
Es zeigt sich: Dieser Text ist nicht verstaubt. Indem das, was unklar an ihm scheint, aufgehellt wird, erweist er sich als Kleinod.
Thomas Kuczynski, der sich diese Mühe gemacht hat, geboren am 12. November 1944, ist ja nun siebzig. Für einen Historiker ist dies ein gutes Alter. Wenn bis dahin ein Fundus angesammelt wurde, kann das Beste sogar noch kommen, nämlich: Gerade stellt er eine Studienausgabe des ersten Bandes des »Kapital« zusammen. Wir leben bisher mit Band 23 der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW). Dieser beruht auf der von Friedrich Engels 1890 veranstalteten vierten deutschen Auflage, die – anders als von Marx gewünscht – die von diesem autorisierte französische von 1872–1875 ebenso geringfügig berücksichtigt wie einige von Marx hinterlassene Instruktionen und Verbesserungen. Wenn das nachgeholt ist: Das wird glänzen! Aus egoistischen Gründen wünschen wir dem Arbeiter am nächsten Kleinod alles Gute.
Thomas Kuczynski: »Thomas Kuczynski zu Karl Marx: Lohn Preis Profit«, Laika-Verlag, 140 Seiten, 9,90 €. (Erscheint im Februar 2015.) Verlag und Redaktion Ossietzky gratulieren Thomas Kuczynski herzlich zum Geburtstag.
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