Samstag, 22. November 2014
Krieg ohne Kriegserklärung in Mexiko
Ralf Streck 12.11.2014
Die Entführung und vermutliche bestialische Ermordung von 43 Studenten wirft ein Schlaglicht auf einen Krieg in einem Land, das sich immer stärker zum "failed state" entwickelt
Mit der vierstündigen Blockade des Flughafens der Touristenstadt Acapulco wurde am Montag erneut der geballte Unmut über das Verschwinden von 43 Studenten deutlich. Gestern wurde der Sitz der Partido Revolucionario Institucional (PRI) in Chilpancingo, der Hauptstadt von Guerrero, angegriffen und in Brand gesetzt. Es kam zu Straßenschlachten mit der Polizei. Die PRI ist die Partei des Präsidenten Enrique Peña Nieto. Die Studenten waren am 26. September entführt worden und alles deutet darauf hin, dass sie bestialisch ermordet wurden. Hinter dem Vorgang steht ein Geflecht aus korrupten Politikern und Drogenkartellen. Der Vorgang zeigt, dass die Drogenmafia immer tiefer in zivile Bereiche vordringt und nun auch linke Aktivisten hinrichtet, die für soziale Verbesserungen eintreten. Immer klarer wird, dass der 2006 ausgerufene "Krieg gegen die Drogen" gescheitert ist, der schon mehr als 100.000 Tote gefordert hat.
Seit Wochen demonstrieren zahllose Menschen in Mexiko und fordern Aufklärung. Sie wollen wissen, was aus 43 Studenten geworden ist, die am 26. September in Iguala im Bundesstaat Guerrero verhaftet und entführt wurden. Seither kommt es zum Teil auch zu sehr gewalttätigen Protesten, die sich aus Iguala längst über das gesamte Land ausgebreitet haben. Es kommt immer wieder auch zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, im Oktober brannten Demonstranten das Verwaltungsgebäude und das Rathaus in der Provinzhauptstadt Chilpancingo ab.
Als die klaren Verwicklungen des Bürgermeisters von Iguala und seiner Frau in das Verschwinden der Studenten des Lehrerseminars Raúl Isidro Burgos Rural in Ayotzinapa bekannt wurden, ist auch das Rathaus von Iguala von wütenden Demonstranten angezündet worden. Nach der Verhaftung des Bürgermeisterpaars vergangene Woche in der Hauptstadt und dem Geständnis der mutmaßlichen Mörder kam es erneut zu Protesten und zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In Chilpancingo wurde wieder der Regierungssitz angegriffen, etwa 20 Fahrzeuge der Regionalregierung wurden umgeworfen und zum Teil in Brand gesteckt.
In der Hauptstadt Mexico DF versuchten wütende Demonstranten am Samstag auch in den Nationalpalast einzudringen. Als misslang, die massiven Türen einzurammen, versuchten sie, die Eingangstüren in Brand zu setzen. Immer stärker kommt Staatspräsident Enrique Peña Nieto unter Druck, die Rücktrittsforderung wegen der mangelnden Aufklärungen und der Vorgänge in Guerrero immer lauter, wo ebenfalls seine Partei der Institutionellen Revolution (PRI) regiert. Betroffen von den massiven Protesten im Land waren am Montag auch Touristen im Seebad Acapulco. Dort besetzten etwa 1500 Demonstranten und Familienangehörigen der Verschwundenen für vier Stunden den Flughafen, weshalb etliche Flüge ausfielen.
"Wir wollen sie lebend zurück", ist der Leitspruch von zehntausenden Menschen, die seit dem Verschwinden der 43 Studenten auch friedlich auf die Straße gehen und streiken. So lange die bisher gefundenen Reste nicht eindeutig identifiziert sind, fordern die Angehörigen weiter Aufklärung. Sie halten sich weiter am Strohhalm fest, dass die von der Polizei festgenommenen jungen Menschen noch am Leben sein könnten. Doch daran darf gezweifelt werden. Zum Wochenende hatte der Chefermittler Jesús Murillo Karam das zusammengefasst, was die mutmaßlichen Mörder der 43 Studenten nach ihrer Verhaftung ausgesagt haben sollen.
Politik und Drogenkartelle unter einer Decke
Demnach seien die Studenten auf direkte Anordnung des Bürgermeisters von Iguala zunächst mit äußerster Brutalität aufgehalten worden, weil sie angeblich eine Rede der Bürgermeistergattin während eines Wohltätigkeitsfestes stören wollten. Tatsächlich sammelten sie aber nur Spenden für ihre Aktivitäten in Iguala. Schon als die Busse der Studenten wohl auf Anordnung von Jose Luis Abarca von der Polizei gestoppt wurden, sind sechs Personen erschossen worden. Die übrigen Studenten, die von den Polizisten festgesetzt wurden, sollen nach Augenzeugenberichten in Viehtransporter verfrachtet und dann der Drogenmafia "Guerreros Unidos" " übergeben worden sein.
Mit dieser Drogenbande ist die Bürgermeisterfrau María de los Ángeles Pineda offenbar genauso eng verbunden, wie die Übergänge zwischen der Drogenmafia und der Lokalpolizei fließend sind (Mexiko: Personalunion von Kommunalpolitik und Organisierter Kriminalität). Die Bürgermeistergattin kommt aus einer bekannten und einflussreichen Drogenhändlerfamilie. Und zwei ihrer Brüder arbeiteten für das einst bestimmende Drogenkartell Beltran Leyva und wurden 2009 getötet. Ein dritter Bruder wurde schon im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Massaker an den Studenten verhaftet. Aus dem Kartell von Leyva gingen, nachdem der Drogenboss Ende 2009 erschossen wurde, die Guerreros Unidos hervor. Das Kartell kontrolliert den Anbau und Handel mit Opium in der Region. Pineda soll der Bande für ihre Dienste monatlich etwa 150.000 Euro bezahlt haben.
Wie diese Dienste aussehen, die sich sonst eher gegen Konkurrenten, kritische Journalisten oder andere richten, erklärte der Generalstaatsanwalt Murillo Karam. Nach Angaben der drei mutmaßlichen Mörder Patricio Reyes Landa, Jonathan Osorio Gómez und Agustín García Reyes seien die Studenten, die beim Transport nicht erstickt sind, später auf einer Müllhalde erschossen worden. Die Leichen sollen mit Autoreifen bedeckt und mit Benzin übergossen worden sein. Der Vorgang soll insgesamt 14 Stunden gedauert haben. Immer wieder seien Autoreifen nachgelegt und Benzin nachgegossen worden. Niemand will von dem Brand etwas bemerkt haben. Die Angst, selbst auf einer Müllkippe zu enden, ist groß.
Die Reste der Opfer und die Asche wollen die Mörder in Plastiktüten gepackt und in einen Fluss geworfen haben. Tatsächlich haben die Ermittler auf Basis der Aussagen in der Nähe der Ortschaft Cocula schließlich Tüten mit Asche, Knochen und Zähnen entdeckt. Die Proben sollen nun von forensischen Experten im österreichischen Innsbruck untersucht, um über die DNA die Identität der Opfer festzustellen. Unklar ist, ob das noch gelingen wird.
Zweifel an der Version, die gleichzeitig mit Hoffnungen der Angehörigen verbunden sind, nähren sich daraus, dass bereits vor Wochen die angeblichen Mörder der Guerreros Unidos die Ermittler zu Massengräbern geführt hatten, wo 17 der verschwundenen Studenten liegen sollten. Doch die Leichenfunde stimmten nicht mit den Vermissten überein. Es handelte sich um andere Massengräber der Drogenmafia und daraus leiten die Angehörigen die Hoffnung ab, dass die Verschwundenen noch am Leben sein können.
In Mexiko herrscht praktisch Straflosigkeit
Angesichts der Tatsache, dass in Mexiko fast nie auch nur Morde an Journalisten Mexiko fordert mehr Einsatz der USA im Kampf gegen Drogenbanden aufgeklärt werden, glauben nur die wenigsten noch an die Worte von Staatspräsident Peña Nieto, der kürzlich zu den Vorgängen in Guerrero gesagt hatte: "Die Vorgänge sind empörend, schmerzhaft und inakzeptabel. Die Behörden sind angewiesen, den Fall aufzuklären. In einem Rechtsstaat gibt es nicht den geringsten Raum für Straflosigkeit."
Absurd klingt das für Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International (AI). Sie verweisen darauf, dass in Mexiko seit langem praktisch Straflosigkeit herrsche. Denn kaum ein Mord werde aufgeklärt, zehntausende Menschen verschwinden einfach und der Staat tue wenig, um Übergriffe der eigenen Sicherheitskräfte zu verfolgen. Die sind nach Ansicht von vielen Experten nicht nur in Iguala oft eng mit den Drogenkartellen verstrickt. AI kritisiert, dass die Worte des Präsidenten nicht ausreichen. Es müsse etwas geschehen, erklärte F. Perseo Quiroz für die Menschenrechtsorganisation: "Was in Iguala passiert ist, geschah nicht aus heiterem Himmel. Es zeigt die Tatenlosigkeit des Staates."
Die Amerika-Beauftragte der Menschenrechtsorganisation Erika Guevara Rosas geht noch deutlich über die Vorwürfe hinaus. Sie spricht von einem "Staatsverbrechen". Beim Mord an den Studenten handele es sich um ein Staatsverbrechen und die Ermittlungen seien "begrenzt und unvollständig", legt sie nahe, dass offenbar Verantwortliche geschützt würden. Leider sei das Verschwindenlassen der Studenten nur der letzte Vorfall in einer langen Horrorliste in Mexiko. Auch offiziell werden auf einer langen Liste mehr als 26.000 "Verschwundene" gezählt. "Die Korruption und Gewalt sind seit Jahren für alle offensichtlich zu sehen, die sehen wollten. Die, die sie fahrlässig ignoriert haben, haben sich zu Komplizen in dieser Tragödie gemacht."
AI erinnert daran, dass der nun verhaftete Bürgermeister stets im Verdacht stand, korrupt zu sein. Schon vor seinem Amtsantritt 2012 wurde gegen José Luis Abarca wegen seiner Verbindungen zum organisierten Verbrechen ermittelt. Und damit nicht genug, soll Abarca nicht nur Morde angeordnet haben, sondern auch linke Aktivisten eigenhändig ermordet haben. Ein Zeuge, der aus Iguala geflüchtet ist, hat erklärt, dass Abarca eigenhändig den Anführer der Landarbeiterorganisation Arturo Hernández Cardona nach Folterungen erschossen hat. Nicolás Mendoza Villa beschreibt den Vorgang aus dem Jahr 2013 folgendermaßen: "Ich habe gesehen, wie Abarca auf die linke Seite seines Kopfs zielte und abdrückte". Nachdem Hernández in das Massengrab gefallen sei, habe der Bürgermeister erneut auf ihn geschossen. Insgesamt wurden von Abarca und anderen acht Landarbeiter ermordet.
So weist auch AI darauf hin, dass trotz der Aussagen des Augenzeugen, der die Vorgänge überlebt hat, keine wirklichen Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft gegen den Bürgermeister eingeleitet wurden. Sie wurden letztlich im Mai dieses Jahres komplett eingestellt. Für die Menschenrechtsorganisation ist das symptomatisch. Und die Organisation erinnert auch daran, dass schon 2011 von der Polizei zwei Studenten aus Ayotzinapa ermordet und 20 weitere gefoltert wurden, ohne dass dafür die Beamten zur Verantwortung gezogen wurden.
Mexikaner haben kein Vertrauen mehr in Politiker und Parteien
"Die Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft kommen zu spät." Hätte man vernünftig nach den Anzeigen gegen den Bürgermeister, gegen Mitglieder der lokalen Polizei und der Nationalpolizei ermittelt, wäre es vielleicht nie zu den neuen Morden und den Entführungen an den Studenten gekommen, meint Erika Guevara. Und auch die Aussagen des mexikanischen Präsidenten stünden im Gegensatz zu seinen Handlungen. So habe er die internationale Unterstützung zur Aufklärung der Vorgänge ausgeschlagen und habe trotz der schweren Menschenrechtskrise im Land eine Auslandsreise angetreten und damit sein "geringes Interesse" an den Vorgängen demonstriert.
Und dass ausgerechnet seine Partei der institutionellen Revolution(PRI) wirklich gegen die organisierte Kriminalität und die Drogenkartelle vorgeht, ist eher fraglich. Die PRI ist bekannt für ihre engen Verbindungen zur Drogenmafia, die auch zum Wahlsieg von Peña Nieto beigetragen haben (Blutige Zukunft). Es muss nicht wirklich verwundern, wenn sich sogar Nieto mit Drogenbossen umgibt, die ihre Fotos dann sogar auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichen (Künftiger mexikanischer Präsident auf Fotos mit einem mutmaßlichen Narco).
Allerdings zeigt das Beispiel des Bürgermeisters von Abarca, wie die Mafia immer tiefer in die Gesellschaft vordringt. Dass der für die linke Partei der demokratischen Revolution (PRD) antreten konnte, beweist, dass auch sie sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Denn sie hat einen Kandidaten aufgestellt, dessen Kontakte in die Unterwelt bekannt sind, der dann auch noch offensichtlich die linken Aktivisten in seiner Umgebung auszumerzen versucht.
So ist es kein Wunder, wenn Menschenrechtsaktivisten wie Alejandra Ancheita erklären, dass die Mexikaner den Glauben in die politischen Parteien verloren haben: "Die mexikanische Bevölkerung hat kein Vertrauen mehr in die politischen Parteien, egal in welche, auch nicht in die Linksparteien. Schon allein deshalb, weil keine Partei ehrlich und effektiv Stellung für die Menschen in Mexiko bezieht." Sie hat auch wenig Hoffnung auf Erneuerung. Sie sieht keine neue politische Strömung in dem Land aufsteigen: "Gerade das ist ja Teil unserer Verzweiflung, mit der wir leben: Dass wir keine Alternative sehen, der wir uns anschließen könnten, um eine wirkliche Veränderung anzustoßen. Das ist ein Defizit und das macht die Sache so kompliziert."
Wie viele Experten geht auch sie davon aus, dass die Regierungen den einseitigen Krieg gegen die Drogen auch dann verlieren werden, wenn sie ihn effektiv führen würden und ihre Parteigänger nicht tief darin verstrickt wären. Denn eigentlich kann der Kampf nur Erfolge zeitigen, wenn sich die sozialen Bedingungen in Mexiko verbessern und die schreiende Ungleichheit im Land verringert wird, wie es zum Beispiel in Bolivien geschieht (Sozialistischer Wohlstand siegt in Bolivien). In Mexiko entgleiten immer mehr Bereiche der staatlichen Kontrolle. Experten schätzen, dass die Regierung schon etwa 20% des Staatsgebiets nicht mehr kontrolliert. Dort geben meist die Drogenkartelle den Ton an, die oft sogar deutlich besser bewaffnet und ausgerüstet sind als die Polizei oder die Armee.
Ganz besonders in diesen Regionen, die sehr stark von Gewalt und Armut geprägt seien, schlössen sich viele Jugendlichen dem organisierten Verbrechen an. "Sie sehen hier einen Ausweg, dem ganzen Mangel zu entkommen, den sie selbst erleben und den sie in ihrer Umgebung wahrnehmen", erklärt auch Ancheita. Für sie muss der "Kreis aus Korruption und Straflosigkeit" im Land durchbrochen werden. Sonst wird Mexiko immer weiter in Richtung eines "failed state" abrutschen, in dem Drogenkartelle und Warlords das Bild bestimmen.
2013 war das Land im Index schon auf Rang 97 vorgerückt, der von Somalia, Kongo, Tschad, Jemen, Afghanistan… angeführt wird. Für einige sind ganze Bereiche Mexikos, wie der Bundesstaat Michoacan, schon als gescheiterte Regionen angesehen. Auch Guerrero befinde sich auf dem besten Weg dazu.
Für die Menschenrechtsaktivistin, die sich vor allem für indigene Gemeinschaften einsetzt, ist der Fall der 43 Studenten in Guerrero besonders schmerzhaft. "Weil es Jugendliche sind, die aus indigenen Gemeinden kommen. Dort ist es für die Familien so schwer, ihre Kinder auf eine Universität zu schicken. Sie sollten dort Lehramt studieren und später in ihre Gemeinden zurückkehren als Lehrer, um den anderen Kindern Bildungschancen zu geben. Das war ein Traum!"
URL: http://www.heise.de/tp/artikel/43/43304/1.html
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