Samstag, 22. November 2014
Die Resteverteiler
Armenspeisung in Deutschland: Der Andrang auf die sogenannten Tafeln wächst. Betreiber reagieren mit Ausschluss und strengerer Zuteilung.
Susan Bonath
Flüchtlinge, Obdachlose, Hartz-IV-Bezieher, aufstockende Rentner, arme Kinder: Die Schlangen an den Lebensmittelausgabestellen der Tafeln in Deutschland werden immer länger. Angebot und Nachfrage driften auseinander, der Kampf um die Reste der Wegwerfgesellschaft tobt längst. Die Mangelverwalter reagieren auf die wachsenden Probleme mit strengerer Zuteilung, Aufnahmestopps oder gar Sperren.
»Wir sammeln ein und teilen aus«, wirbt die Essener Tafel im Internet. Doch längst nicht jeder, der seine Bedürftigkeit nachweist, darf sich in der Stadt für einen symbolischen Euro mit Nahrungsmitteln versorgen. »Wir haben eine Warteliste, und die ist lang«, erklärte der Vorsitzende der Essener Tafel, Jörg Sartor, im Gespräch mit junge Welt. Danach vergibt die Einrichtung maximal 1.800 Zugangskarten an Familien. Das sind im Schnitt 6.000 Menschen. Tatsächlich leben in der nordrhein-westfälischen 500.000-Einwohner-Metropole fast 44.000 Haushalte mit mehr als 80.000 Familienmitgliedern von Hartz IV oder Grundsicherung. Doch wer Hunger und kein Geld hat, muss sich gedulden. Laut Sartor werden höchstens 50 Neuzugänge pro Woche angenommen. »Mehr geht nicht, die Kapazitäten sind nun mal begrenzt«, sagte der ehrenamtliche Tafelchef, der selbst Rentner ist. Wegen des Andrangs müsse hin und wieder ein kompletter Aufnahmestopp verhängt werden, so auch im kommenden Dezember.
Deshalb führt Sartor seine »Läden« mit strenger Hand. »Wir agieren wie ein mittelständisches Unternehmen«, räumte er ein. Die 120 Mitarbeiter, alles Ehrenamtliche, sammeln nicht nur die Spenden der Supermärkte ein. Sie prüfen auch Hartz-IV-Bescheide von Neuankömmlingen. Sie befinden darüber, wer eine Karte bekommt. Diese gilt für höchstens ein Jahr. Dann muss der »Platz« für andere geräumt werden. Nur im äußersten Ernstfall gibt es sogenannte Notkarten, die maximal sechs Wochen gültig sind, wie Sartor erläuterte. Dafür bräuchten die Hilfesuchenden allerdings Fürsprecher, wie Jugend- oder Sozialämter. Die Mitarbeiter teilen den Tafelgängern auch feste Abholtermine zu. Und sie entscheiden darüber, wer fliegt. »Wenn einer dreimal hintereinander nicht erscheint, ohne sich abzumelden, sperren wir seine Karte für ein Jahr.« Das sei nötig, um »gerecht zu bleiben«. »Es warten ja noch andere, und bei einer so großen Tafel muss schon scharf kalkuliert werden«, begründete Sartor das drastische Vorgehen. Natürlich entstehe dabei auch so etwas wie »Sozialneid«.
Das »Geschäft« der Essensverteiler beschränkt sich aber nicht nur auf die Ausgabestellen. »Wir beliefern inzwischen 110 karitative und soziale Einrichtungen«, führte der Tafel-Chef weiter aus. Darunter befänden sich 20 Anlaufstellen für Wohnungslose, eine Schlafstätte für obdachlose Jugendliche und sogar 16 Schulen. In letzteren wachse die Zahl der Kinder, die aus Geldmangel nicht am Schulessen teilnehmen. »Dann kontaktieren uns die Schulleiter, und soweit wir können, beliefern wir sie«, beschrieb er die Situation.
Nicht anders ist es in Berlin. »Derzeit fahren wir über 300 soziale Einrichtungen monatlich an, darunter etwa zehn Schulen«, sagte Sabine Werth von der Berliner Tafel gegenüber jW. Die Ausgabestellen in der Hauptstadt würden von 125.000 Menschen genutzt. Damit sei auch dort die Grenze erreicht, obwohl es sechsmal so viele Hartz-IV-Betroffene gibt. »Wir arbeiten am Limit, mancherorts wurden schon Ausgabestopps verhängt«, so Werth. Ihrer Einschätzung nach spitzt sich die Situation momentan vor allem deshalb zu, »weil immer mehr Flüchtlingsfamilien zu uns kommen«. Auch ältere Menschen suchten häufiger Hilfe, konstatierte sie. Gerade die Rentner koste der Gang zur »Armenspeisung« oft große Überwindung. »Das zeigt, wie dramatisch die Not gewachsen sein muss«, betonte Werth.
Außerdem sei jeder dritte Tafel-Gänger ein Kind, erklärte sie. Dazu komme, dass unter 25jährige von Jobcentern besonders hart bestraft werden. Für einen verpassten Termin kann ihnen das Amt bereits das gesamte Geld für drei Monate streichen. »Diese drakonischen Maßnahmen sind kontraproduktiv«, weiß Werth. Man könne von der Jugend nicht erwarten, sinnvolle Dinge zu tun, wenn man ihr keine vernünftige Gesellschaft biete. Die Tafeln sind keine Lösung des Problems, das sei ihr klar. Als »Mangelverwalter«, die die Politik von ihren Pflichten entbinden, will sie sie aber nicht sehen. Es gehe ja auch darum, die Verschwendung von Lebensmitteln einzudämmen, sagte sie.
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