Samstag, 22. November 2014
Gustav im Misthaus ohne Facebook (Matthias Biskupek)
Die Weltbühne seligen Angedenkens, jene, die von 1946 bis 1993 in der DDR erschien, hatte Sternstunden, Sternstündchen und nicht wenige Tage, in denen die Farbe der Feigheit vorherrschte. Sie war nicht so gefragt wie andere Presse-Erzeugnisse jener Zeit und Gegend, man denke an Wochenpost, Mosaik und Eulenspiegel, aber einmal schaffte sie es auch zum gänzlichen Ausverkauf: Nummer 41 vom 9. Oktober 1984.
Die Vorgeschichte: Bei einer Wanderung kamen wir im Hochsommer 1984 durchs Isergebirge und den Ort Jizerka (Klein-Iser). Zwar gab es Wanderherbergen mit freien Betten, doch die unterstanden einer Nachtlager-Diktatur. Mitten im Ort aber gab es zwar kein freies Bett mehr, aber genug Raum in der Herberge. Das war Gustav Ginzels Misthaus. Von diesem vorwiegend mit deutschen Ver- und Gebotsschildern vollgepflasterten Ort hatten wir nie gehört, mußten aber später erkennen: Fast jeder Mensch aus der DDR und gewiß jeder Wandersmann aus dem Nachbarbezirk Dresden kennt Gustav. Und wenn er Gustav wirklich nicht selber kennt, kennt er einen, der Gustav kennt. Weiß um die Geschichte, daß der gebürtige Reichenberger das Haus 1964 für 345 Kronen kaufte, den darin lagernden Schafsmist wie Augias hinausschwemmte, denselben als Dünger verkaufte, den Kaufpreis mehrfach hereinbekam und fürderhin seines Amtes waltete: »Auf jeden Krempel gehört ein Misthaus-Stempel.«
Gustav Ginzel, der tschechische Deutsche, der Forscher und Stromboli-Reisende, konnte hinreißend erzählen, flocht gern »Is loggisch, eben!« ein. Doch hinter den Schnurren steckte noch anderes:
»Wer etwas genauer hingehört hat, der spürt, daß da ein hochgebildeter Mensch spricht. Einer, der seinen böhmischen Humor als Lebenshilfe braucht, einer, der anderen davon noch abgeben kann. Und man ahnt, nein weiß, daß dieser Mann kein einfaches, stilles, blütenweißes Leben gehabt haben kann.
Doch vom Dach des Misthauses steigt Rauch: Gustav schwadroniert und schwadroniert. Vom Cotopaxi erzählt er und von den Buchen des Isergebirges, die früher in den Glashütten verheizt wurden, und von den geschützten Hochmoorgebieten. Ja, und davon, wer schon alles im Misthaus war, und was er noch zeigen könnte, wenn er genug Zeit hätte. Doch jetzt müsse er ins Bett, damit er morgen früh wieder den Bäumen beim Wachsen zusehen könne …«
So endete damals mein Text, der nach Warte-Zeiten in der Weltbühne erschien, in jenem Heft 41. Im braven Stil der Zeit hatte ich nur angedeutet, daß er als Deutscher benachteiligt, als bürgerliches, unsicheres Element behandelt wurde – was ihm das Leben rettete, weil ihm die Teilnahme an einer tödlich endenden tschechischen Anden-Expedition verweigert wurde.
Manch Misthaus-Gast von damals ist erst heute berühmt: der spätere sächsische Innenminister Heinz Eggert, der spätere DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière, der später sich fast schon als Ministerpräsident wähnende Ibrahim Böhme, der spätere tschechische Staatspräsident Václav Havel …
Doch zu jenem Heft 41: Gustav bat jeden Gast, ihm nach der Heimkehr etwas zu schicken. Und so wurde jene Weltbühne zum Sammlerstück, Gustav hortete sie, versah sie mit Stempel und verkaufte sie – gewinnbringend – weiter. »Is loggisch, eben!« So findet man bis heute bei Angeboten ganzer Weltbühnen-Jahrgänge »Außer Heft 41/84«.
Ob meine einstigen Weltbühnen-Oberen von Gustavs Popularität, seiner unangepaßten Lebens-Art, seiner Verkörperung einstigen böhmischen multikulturellen Geschichtsverständnisses wußten? Das kann ich nicht beurteilen. Immerhin ließ man einen Sonderdruck von »Gustav im Misthaus« anfertigen, der dann sofort wieder massenhaft in Jizerka bestempelt wurde.
In unserer Epoche, da man alles und jedes »teilt«, per Facebook sich in ferne Gespräche mengt, überall dabei ist und nirgends wirklich, mag dieser einstige Sturm auf Papier komisch wirken. Damals stiefelte man ganz real zu Gustav. Man lebte ja unter dem Unrechtsregime und nahm Briefe in Mengen von Gustav mit – um sie hinter der Grenze, ordnungsgemäß frankiert, der DDR-Post anzuvertrauen. Man stieß im damals nichtvirtuellen Leben immer auf Leute, mit denen man Misthaus-Erlebnisse teilte. Noch Jahre nach unserem ersten Besuch landeten Karten mit Misthaus-Stempel in unserem Briefkasten. Karten, die via Dresden, Zittau, Rostock oder Berlin-Marzahn zugeleitet wurden.
Das Misthaus brannte im August 1995 ab – oder wurde abgebrannt? Gustav forschte da im fernen Australien nach Ureinwohner-Heiligtümern. War jenes die Strafe für dieses? Als er schließlich zum Pflegefall wurde und in Kempten 2008 starb, war das neu errichtete Misthaus schon lange »wegen Krankheit geschlossen«.
»Gustav im Misthaus« – der Mann, dessen Twitter-Botschaften auf Postkarten standen. Loggisch, eben.
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