Samstag, 22. November 2014
Gescheiterter Selbstbetrug
Neue Zürcher Zeitung
17.11.2014
Mexikos Präsident glaubte, die Gewalt im Land totschweigen zu können, um Investoren anzulocken. Diese Strategie geht nach dem mutmasslichen Mord an 43 Studenten nicht mehr auf.
Kommentar von Nicole Anliker.
Enrique Peña Nieto hat sich verrechnet. Als er vor knapp zwei Jahren mitten im tobenden Drogenkrieg die Präsidentschaft Mexikos übernommen hatte, entschied er sich für einen strategischen Richtungswechsel. Die innere Sicherheit sollte keine Priorität in seiner Agenda haben. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, mit einer Reihe von Strukturreformen das Land für Auslandinvestitionen attraktiv zu machen. Mexiko sollte als aufstrebende Wirtschaftsmacht und nicht als gescheiterter Staat wahrgenommen werden. Gewalt, Morde und Entführungen verschwanden aus seinen Reden. Während gut zweier Jahre gelang ihm der Imagewechsel erstaunlich gut – vor allem im Ausland wurde sein Reformeifer gefeiert. Doch der Fall der 43 vermissten und wohl ermordeten Studenten in Iguala setzt dem ein Ende.
Miserables Krisenmanagement
Peña Nietos zögerliche Reaktion legt den Schluss nahe, dass er tatsächlich glaubte, das Bild eines effizienten, innovativen Landes langfristig vortäuschen zu können, während dieses von einem brutalen Krieg heimgesucht wird. Es war aber eine Frage der Zeit, bis er mit seiner triumphalistischen Rhetorik von der Realität eingeholt würde.
Wie alle Mexikaner weiss auch Peña Nieto um die enge Zusammenarbeit zwischen organisiertem Verbrechen, Polizei und Politikern in einigen Regionen des Landes. Er kennt die haarsträubenden Statistiken, die seit 2006 über 200 000 Opfer und Zehntausende von Verschwundenen erfasst haben. Er weiss, dass in dem von Straflosigkeit geprägten Justizsystem nicht nur Opfer verschwinden, sondern auch Täter, Komplizen, Leichen und Beweise. Ihm sind die Horrorgeschichten über Massakrierungen, Folterungen und Erpressungen bekannt. Und trotzdem hat er es nie für nötig gehalten, dagegen etwas zu unternehmen. Auch jetzt nicht, wo die ganze Welt auf Mexiko schaut und konsterniert feststellt, dass offizielle Sicherheitskräfte und Politiker wohl massgeblich an einem Massenmord beteiligt sind.
Es sind nun mehr als sieben Wochen vergangen, seit die 43 Studenten verschwunden sind. Die Suche nach ihnen geht schleppend voran und hat bisher keine eindeutigen Erkenntnisse hervorgebracht. Dafür wurde ein Massengrab nach dem anderen entdeckt. Doch die darin gefundenen Körper sind nicht jene der Studenten. Anstatt Verantwortung zu übernehmen und den Fall als nationale Angelegenheit zu behandeln, hat der Präsident als Erstes die lokale und die regionale Regierung Guerreros, die der linken Oppositionspartei angehören, beschuldigt. Zwar hat Peña Nieto Bundespolizisten in die Region geschickt, die inzwischen über 70 Personen festgenommen haben. Doch wartete er über einen Monat, bis er die Angehörigen der Opfer empfing. Und anstatt nach Iguala zu fahren und mit Betroffenen zu reden, reiste er letzte Woche, inmitten von Protestdemonstrationen, an den Apec-Gipfel nach China und an das Treffen der G-20 nach Australien. Mehr als um die Sicherheit der Bürger scheint Peña Nieto darum besorgt zu sein, dass Iguala dem Ruf Mexikos schaden und seine Reformagenda beeinträchtigen könnte.
Es ist dieses miserable Krisenmanagement, das die Mexikaner ihrem Präsidenten übelnehmen. Jahrelang haben sie den Terror der Drogenkartelle und die Untätigkeit der Regierung über sich ergehen lassen. Das Verschwinden der 43 unschuldigen Studenten hat dass Fass nun aber zum Überlaufen gebracht. Seit Jahrzehnten hat Mexiko nicht mehr derartige Proteste gesehen. Zehntausende demonstrieren, blockieren Regionalflughäfen, verwüsten öffentliche Gebäude und liefern sich Strassenschlachten mit Sicherheitskräften. Die Mexikaner sind wütend. Sie haben genug von Gewalt und Terror. Und vor allem haben sie die Untätigkeit der Regierung satt.
Langfristiger Strategiewechsel
Niemand erwartet von Peña Nieto, dass er die Gewalt über Nacht in den Griff bekommt. Doch wird eine entschiedene Reaktion auf die Tat in Iguala gefordert. Denn diese beweist einmal mehr, wie ineffizient Mexikos Vorgehen in Sicherheitsbelangen ist, weil es ausschliesslich auf militärische Repression setzt. Peña Nieto muss eine neue, langfristige Sicherheitsstrategie präsentieren. Er muss jene politischen Themen priorisieren, deren Wichtigkeit er stets heruntergespielt hat. Etwa die Stärkung des Rechtsstaats und der politischen Verantwortlichkeit sowie die Eindämmung der Straffreiheit. Dafür muss er Polizei- und Justizapparat reformieren.
Dass dies ein langfristiger, schwieriger Prozess sein wird, der ein Umdenken von einer von Korruption und Klientelismus geprägten Gesellschaft erfordert, bestreitet niemand. Will Peña Nieto Mexiko aber auf einen stabilen, wirtschaftlich prosperierenden Weg bringen, wird er nicht um diese Veränderungen herumkommen. Ein erster Schritt wäre es, das Sicherheitsproblem erst einmal anzuerkennen.
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