Freitag, 11. Juli 2014
Wer steht hinter ISIS?
Eine Bewertung von Civaka Azad zu den aktuellen
Entwicklungen in Syrien und im Irak, 19. Juni 2014
Es sollen 2.000 bis 3.000 Angreifer gewesen sein. Ihnen
gegenüber standen wohl 25.000, die die Aufgabe hatten, den
Angriff abzuwehren. Andere sprechen sogar von 800 Angreifern,
die es mit 30.000 auf der Gegenseite zu tun hatten. Welche
Zahlen nun auch stimmen mögen, Tatsache ist, dass die
Angreifer erfolgreich waren, und das anscheinend ohne Verluste.
Die Rede ist von der Übernahme der Stadt Mossul durch die
islamistische Organisation „Islamischer Staat Irak und Syrien“
(ISIS). Auf der Gegenseite stand das irakische Heer, doch von
„Gegenseite“ kann eigentlich gar nicht gesprochen werden, denn
das irakische Heer überließ die Stadt freiwillig den Islamisten.
Nun fragen sich alle, wie es dazu kommen konnte, dass die
Islamisten ohne Widerstand die Stadt Mossul, immerhin die
zweitgrößte Stadt des Iraks, einnehmen konnten.
„Wer verstehen will, wie ISIS Mossul eingenommen hat, sollte
ihre logistische Spur bis zur syrisch-türkischen Grenze
zurückverfolgen“, erklärt der Kolumnist und Nahost-Experte
Fehim Tastekin in der türkischsprachigen Zeitung Radikal. ISIS,
zunächst unter dem Namen Tawhid und Dschihad 2003 im Irak
entstanden, hat es insbesondere seit 2013 im syrischen
Bürgerkrieg zu internationaler Berühmtheit geschafft. Zunächst
kämpfte sie dort an der Seite der Freien Syrischen Armee (FSA)
gegen das Assad-Regime. Später wendete sie sich gegen die
FSA und bekämpften sie. Zuletzt kam es auch zu brutalen
Auseinandersetzungen mit anderen islamistischen
Gruppierungen wie der Al-Nusra-Front oder Ahrar al-Sham.
Gefürchtet wird die Gruppe vor allem wegen ihrer Grausamkeit
im Umgang mit ihren Gegnern. Im Videoportal Youtube
veröffentlicht sie nach gewonnenen Schlachten Bilder ihrer
ermordeten Gegner. Unterstützung erfährt die Organisation vor
allem von den Golfstaaten Saudi Arabien und Katar, die sich
durch ein Erstarken der Islamisten, den Einfluss des Irans und
Schiiten in der Region erhoffen.1
Doch kommen wir zurück zum Zitat von Fehim Tastekin und
klären auf, was es mit der logistischen Spur der Organisation an
der türkischen Grenze zu tun hat. In Syrien agiert ISIS vor allem
von den Städten ar-Raqqa und Deir ez-Zor aus, beides Städte,
die unter ihrer Kontrolle stehen. Im Norden von ar-Raqqah
kontrolliert ISIS mindestens zwei Grenzübergänge zur Türkei.
Von der gegenüberliegenden Seite der Grenze zur Türkei haben
die Islamisten in der Vergangenheit auch großzügige
Unterstützung erhalten. Während die Golfstaaten durch ISIS den
Einfluss der „schiitischen Achse“ in Syrien zurückdrängen wollen,
war die Organisation für die Türkei ein nützlicher Partner, wenn
es darum ging die Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung
in Rojava (Nordsyrien) zu bekämpfen.2 Denn neben den oben
genannten Kämpfen der ISIS führen die Islamisten seit knapp
einem Jahr auch einen brutalen Krieg gegen die demokratischen
Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava, zunächst ganz offen,
nach internationaler Kritik mit verdeckter logistischer
Unterstützung auch von der Regierung in Ankara.
Als Mitte Mai 2013 in der türkischen Grenzstadt Reyhanli
mehrere Autobomben gezündet und mindestens 51 Menschen
ums Leben kommen, hielt sich lange das Gerücht, dass ISIS
hinter diesem Anschlag stecken könnte. Übereilige Erklärungen
aus den Reihen der AKP kurze Zeit nach den Anschlägen, dass
es sich bei den Tätern um Mitglieder oder Sympathisanten des
Baath-Regimes handele, stärkten den Verdacht, dass die
türkische Regierung etwas verdecken möchte. Denn sollte ISIS
tatsächlich hinter den Anschlägen gesteckt haben, könnte dies
die Herrschaften in Ankara in starke Bedrängnis bringen, zumal
die türkische Unterstützung für islamistische Gruppierungen wie
der ISIS im syrischen Bürgerkrieg ein offenes Geheimnis in der
Öffentlichkeit ist. Doch was damals noch unter den Teppich
gekehrt werden konnte, ist spätestens mit der Einnahme von
Mossul durch ISIS für alle offensichtlich geworden, nämlich dass
die Islamisten auch nicht davor zurückscheuen, ihren einstigen
Unterstützern aus der Türkei den Krieg zu erklären. Denn mit der
Einnahme von Mossul wurden auch Mitarbeiter des türkischen
Konsulats und türkische Sicherheitskräfte in der Stadt von ISIS
festgesetzt. Derzeit sollen sich bis zu 100 türkische Staatsbürger
in der Hand der Islamisten befinden. Über die Motive darüber,
weshalb die ISIS nun auch gegen türkische Staatsbürger
vorgeht, kann nur spekuliert werden. Manch einer sieht darin
eine Vergeltung dafür, dass die Türkei nun in Syrien zur ISIS
konkurrierende islamistische Gruppierungen unterstützt. Andere
gehen davon aus, dass die Beziehungen zwischen ISIS und der
Türkei anhalten und die Erstürmung des türkischen Konsulats in
Mossul lediglich eine kalkulierte Aktion sei, um die
Weltöffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen. Mitglieder der
ISIS haben, kurz nachdem sie die Konsulatsmitarbeiter
festgesetzt haben, erklärt, dass diese keine Geiseln sondern
Gäste seien, die sich an einem sicheren Ort befinden würden.
Und in den türkischen Medien ist man überraschenderweise sehr
schnell wieder zur Tagesordnung des politischen Alltags
übergegangen und die Entführungen sind bereits so gut wie kein
Thema mehr.
Als die Türkei den Krieg von ISIS gegen Rojava unterstützt hatte,
warnten kurdische Politiker aus der Region, dass das Feuer,
welches die Türkei jenseits ihrer Grenze entfache, auch bald sie
verbrennen werde.3 Wenn dieser Fall noch nicht mit den
Anschlägen von Reyhanli eingetreten war, so ist er es
spätestens nun mit den aktuellen Ereignissen im Irak. Doch die
türkischen Verantwortlichen scheinen daraus nicht wirklich viel
gelernt zu haben. Denn während nun in der Türkei auf einmal die
Wut gegenüber ISIS groß ist, hat die Türkei erst kürzlich eine
erfolgreiche Operation der anderen beiden islamistischen
Gruppierungen in Syrien, der Al-Nusra Front und der Gruppe
Ahrar al-Sham, am türkisch-syrischen Grenzort Kassab
unterstützt. Mittlerweile ist der Ort allerdings wieder unter
Kontrolle des Baath-Regimes. Eine wichtige Anmerkung an
dieser Stelle sei, dass die Türkei ganz aktuell die Al-Nusra Front,
den offiziellen syrischen Arm der Al-Kaida, aus ihrer Terrorliste
gestrichen hat.
Warum konnte ISIS ohne Gegenwehr Mossul und andere
Städte einnehmen?
Es bleibt die offene Frage, warum die ISIS quasi ohne
Gegenwehr eine Stadt wie Mossul einnehmen konnte. Und
Mossul ist noch nicht einmal ein Einzelfall, auch die Geburtsstadt
des irakischen Ex-Diktators Saddam Hussein und seit dem 16.
Juni auch die zumeist turkmenisch bewohnte Stadt Tel Afar
stehen bereits unter der Kontrolle von ISIS. Ein Grund hierfür
wird sicherlich sein, dass ISIS, ganz im Gegenteil zur Situation in
Syrien, im Irak eine gewisse Sympathie unter der sunnitischen
Bevölkerung genießt. Der Grund hierfür ist vor allem auf das
Scheitern des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki
zurückzuführen. Dieser hatte kaum Wert darauf gelegt, die
sunnitische Bevölkerung des Landes in seiner Politik zu
berücksichtigen. Der schiitische Ministerpräsident ist aus diesem
Grund auch ein verhasster Mann unter den Sunniten des
Landes. Viele von ihnen wünschen sich die Zeit des Baath-
Regimes unter Saddam Hussein zurück. Unter dem Ex-Diktator
waren die Sunniten im Irak an der Macht, unter Maliki sind es die
Schiiten, jeweils zum Leidwesen der anderen Gruppe. Kaum
verwunderlich ist es, dass nun in Mossul auch untergetauchte
Mitglieder des ehemaligen Baath-Regimes wie Izzat Ibrahim ad-
Duri wieder aufgetaucht sein sollen. Ad-Duri war das einzige
Mitglied des Baath-Regimes, den die US-Amerikaner nicht zu
schnappen bekommen haben. Nun soll er, mittlerweile
Generalsekretär der irakischen Baath-Partei, gemeinsame Sache
mit der ISIS im Irak machen.
Über die Kapitulation des irakischen Heers vor ISIS gibt es wilde
Spekulation. Manche sprechen von einem Schachzug al-Malikis,
denn dieser habe durch das Zulassen der Machtübernahme
durch die Islamisten im Zentrum des Landes den Notstand
ausrufen wollen, um seine Machtbefugnisse zu erweitern.
Andere sprechen hingegen von einem Putschversuch der
Militärführung gegen die Maliki-Regierung. Fakt ist, derzeit
leisten die kurdischen Verbände im Norden des Iraks am Boden
den einzigen ernstzunehmenden Widerstand gegen ISIS. Dort
kämpfen nicht nur Peshmerga der Autonomen Region Kurdistans
gegen die Islamisten, sondern auch die
Volksverteidigungseinheiten der YPG am Grenzgebiet zu
Rojava. Zeitweise agieren die beiden kurdischen Einheiten gar
zusammen, was eine neue innerkurdische Entwicklung darstellt.
Als die Islamisten der ISIS nämlich ihre Angriffe auf Rojava
konzentrierten, hatte nicht nur die Türkei durch das Schließen
ihrer Grenzen die Situation für die Zivilbevölkerung in der Region
verschärft, sondern auch die südkurdische KDP beteiligte sich
durch das Schließen der Grenzen der Autonomen Region
Südkurdistans an dem Embargo gegen die Bevölkerung von
Rojava und hat somit zumindest indirekt die Angriffe der
Islamisten befördert.
Das irakische Heer hat nun bei seinem Rückzug aus Mossul
auch gleich die erdölreiche Nachbarstadt Kirkuk geräumt. Die
Stadt Kirkuk, eigentlich seit dem Sturz des Baath-Regimes
Streitthema zwischen der Autonomen Region Kurdistan und der
irakischen Zentralregierung, steht derzeit faktisch unter der
Kontrolle der kurdischen Autonomieregion. Die Zentralregierung
beschränkt sich bei seiner Gegenwehr gegen die ISIS derzeit auf
Luftangriffe, doch die Islamisten bauen destotrotz ihre Basis
weiter aus. Es stellt sich die Frage, wie die irakische Regierung
und die globalen und regionalen Mächte reagieren werden, wenn
ISIS die Kontrolle über die größten Erdölraffinerien des Iraks in
der Stadt Baidschi oder die Erdölpipelines in Richtung Türkei in
der Stadt Kirkuk erlangt.
Und wie steht’s mit der Mitverantwortung des „Westens“?
Die Entstehung und das Erstarken einer Organisation wie der
ISIS sind auf jeden Fall eng verbunden mit der Politik der
westlichen Mächte und ihrer regionalen Verbündeten im Mittleren
Osten. Die Geburt der Organisation fällt zusammen mit dem
Chaos, das die US-Intervention im Irak verursacht hat. Ihr
Erstarken ist Folge des Syrienkrieges, bei dem ebenfalls der
westliche Einfluss unbestreitbar ist. Es geht hier nicht darum, für
Diktatoren wie Saddam Hussein oder Bashar al-Assad Partei zu
ergreifen, der Volksaufstand gegen sie ist mehr als legitim. Doch
wenn der Westen versucht diese legitimen Volksaufstände zu
kontrollieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, sind
Folgen, wie wir sie derzeit in Syrien und im Irak erleben, leider
unausweichlich. Für die grauenhaften Bilder von
Massenexekutionen aus Tikrit und Mossul trägt der Westen also
eine Mitschuld. Und wie man sich selbst verbrennen kann, wenn
man Organisationen wie die ISIS für das eigene politische Kalkül
unterstützt, dafür ist wohl die Türkei das Paradebeispiel.4
Während die ISIS im Irak derzeit einen Erfolg nach dem anderen
verbucht, sind ihr im vergangenen Jahr im Norden Syriens, in
Rojava, die Grenzen aufgezeigt worden. Sowohl ihre
Großoperationen in Serê Kaniyê (Ras al-Ain) als auch in Kobanê
konnten von der Volksverteidigungseinheiten (YPG) erfolgreich
abgewehrt werden. Der erfolgreiche Widerstand in Rojava gibt
Hoffnung für einen sonst düsteren Ausblick für die Region.5 In
Rojava haben die dort lebenden Kurdinnen und Kurden
gemeinsam mit allen Volksgruppen der Region ein
demokratisches Gesellschaftssystem errichtet. Und so haben
auch all diese Volksgruppen bei der Verteidigung dieses
Systems gegen die ISIS mitgewirkt. Einen über Volks- und
Konfessionsgrenzen überschreitenden Widerstand für eine
gemeinsame demokratische Zukunft bedarf es nun auch im
Kampf gegen die ISIS im Irak. Der Widerstand von Rojava
könnte da als Vorbild dienen.
1. Zur Unterstützung der ISIS durch die Golfstaaten siehe das Interview
mit Michael Lüders “Kampf gegen ISIS wird Jahre dauern” für die
Deutsche Welle am 12.06.2014
2. Zur der Unterstützung und Förderung islamistischer Gruppierung in
Syrien für den Kampf gegen Rojava siehe “Kurdischer Puffer oder
islamistischer Terrorstaat” aus der FAZ vom 11.06.2014
3. In offiziellen Stellungnahmen der Türkei hieß es stets, dass keine
Waffen nach Syrien geschickt werden. Doch das Gegenteil geht aus
den Angaben der UN und des türkischen Statistikamtes hervor; siehe
dazu auch hier: http://civaka-azad.org/beweise-dass-waffen-nach-
syrien-gehen/
4. Zur möglichen Gefahr, die durch die ISIS über die Türkei für Europa
ausgehen könnte, sieh das Interview mit Michael Lüders “Es rollt ein
Tsunami auf uns zu” im Deutschlandfunk vom 11.06.2014
5. Für einen Einblick über die aktuelle Situation in Rojava siehe auch
“Wo Syrien schon demokratisch und frei ist” aus die Welt vom
03.06.2014
(http://civaka-azad.org/wer-steht-hinter-isis/)
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