Mittwoch, 23. Juli 2014
[Chiapas98] Politischer Gefangener Alejandro Sántis Díaz: „La Lucha Sigue“
Vorbemerkung:
Der Bericht ist auch deshalb wichtig, weil er darin erinnert, dass es nach Freilassung von Alberto Patishtan weiterhin politische Gefangene in chiapas gibt.
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Alejandro Sántis Díaz- „La Lucha Sigue“
Von Julius Martin-Humpert
Zwischen einer bunten Geräuschkulisse aus Musik, Familien, die mit Essen vollgestopften Tüten kommen und grölenden Glücksspielern. Die Sonne knallt auf bekritzelte Wände, aufgehängte Wäsche und einzelne Tortillas, die in der Hitze trocknen. Auch auf einen kleinen Pavillon unter dem in ein paar bunten Plastikbechern Cafe vor sich hindampft.
Uns gegenüber dieses markante Gesicht, eindrucksvoll geprägt von seiner Geschichte, etwas müde, aber trotzdem mit diesem Leuchten in den Augen. Es gehört zu Alejandro Sántis Díaz, der seit 1999 zu unrecht eingesperrt ist. Der mittlerweile 33 jährige lebte zu dem damaligen Zeitpunkt vom Verkauf von Süssigkeiten in den Strassen von Veracruz und wie ein Grossteil der indigenen Bevölkerung mit gerade genug Einkommen um von Tag zu Tag zu leben. Eines Abends ging er mit seiner Frau einkaufen und seine ein Jahr und sieben Monate alte Stieftochter bleibt mit seinem Cousin in der gemeinsamen Unterkunft. Bei der Rückkehr findet das Ehepaar das Kind am Fuss der Treppe, bereits tot. Der Cousin verschwunden. Als Alejandro sich aufmacht einen Krankenwagen zu suchen und zurückkehrt wird er von Polizisten gewaltsam festgenommen, geschlagen und aufs Revier gebracht. Zu diesem Zeitpunkt spricht Alejandro nur Tzotzil, den indigenen Maya-Dialekt, jedoch kein Wort spanisch, sodass er, als man ihm am nächsten Tag der Vergewaltigung und des Mordes seiner Schwiegertochter beschuldigt, keinerlei Möglichkeit hat zu verstehen, geschweige denn sich zu verteidigen. Aufgrund des Mangels finanzieller Mittel bleibt ihm auch das Recht auf einen Anwalt verwährt. Er wird zu 29 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt.
Von da an beginnt eine Odysee durch verschiedenste Gefängnisse von Veracruz und Chiapas. Bis er im Januar 2010 in das Gefaengnis Cereso 05 nahe San Cristobal verlegt wurde. Hier sitzen wir nun und lauschen wie Alejandro uns all das mit unglaublicher Ruhe und Ausführlichkeit erzählt. Und heute in perfektem Castilla, wie die Indigenen das Spanisch nennen. Das, so sagt er, sei in gewisser Weise nur möglich durch die Begegnung mit Alberto Patishtan hier im Cereso 05, der seit dem 31 Oktober 2013, nach 13 Jahren politischer Inhaftierung in seine Freiheit entlassen wurde. Patishtan, der Professor Tzotzil aus Chiapas, wurde in den letzten Jahren zum Gesicht einer Kapagne, die die sozialen Missstände, die Ungerechtigkeit und Verstösse gegen die Menschenrechte im Land und besonders gegenüber der indigenen Bevölkerung und politscher Häftlinge anprangert. Aus dem Gefängnis setzte er sich permanent und kontinuierlich für eine Veränderung und einen Paradigmenwechsel in der Gesellschaft sowohl ausserhalb als auch innerhalb des Gefängnisses ein. „Patishtan“, so Alejandro „ hat mir beigebracht stets die Wahrheit zu sagen, und die Dinge stets öffentlich zu machen, denn wer schweigt, macht sich zum Komplizen.“ Für Alejandro war die Tatsache, dass er sich als Unschuldiger in der isolierten Gesellschaft der Inhaftierten wiederfindet und die Begegnung mit Patishtan insofern entscheidend, weil all das- so Diáz- ihm die Augen geöffnet hat. In all den Jahren habe er gelernt, was Ungerechtigkeit ist, was die Abwesenheit von Recht bedeutet, wie die Autoritäten in verschiedensten Positionen ihre Macht missbrauchen. Und auch was es heisst zu kämpfen, sich einzusetzen für einen Wandel, für Gleicheit, für eine umfassende Gerechtigkeit.
Es versammeln sich mehr Leute am Tisch. Einer von ihnen ist Roberto Paciencia, der uns erzählt wie er im Mai letzten Jahres aus dem Nichts festgenommen wurde, beschuldigt der Entführung einer Person, die er nie gesehen hat. Gefoltert um ein falsches Geständnis zu bekommen, findet er sich jetzt hier. Leider keine Ausnahme. Viele der 400 Insassen im Cereso 05 haben so oder ähnlich ihren Weg hier hinein gefunden. 90 Prozent von ihnen sind Indigene, die oft kein oder kaum Spanisch sprechen. Da grosse Teile der indigenen Population in ärmsten Verhaltnissen leben, kaum das Castilla beherrschen, von der Gesellschaft diskriminiert werden und ihre Rechte nicht kennen, sind sie leichte Beute falls einmal ein Schuldiger gebraucht wird. In dem korrupten System bezahlt oft der wahre Schuldige und man sucht sich einen x-Beliebigen, der seine Strafe aussitzt. Das sei, so Alejandro, eine etablierte Strategie der Ministerien und Staatsanwaltschaft. Leider nicht nur hier in Chiapas, sondern in grossen Teilen von Mexiko, Mittel- und Südamerikas.
Bei einem Rundganng durch das Gefängnis bekommen wir ein Bild von der verrückten Welt, in der sich die Häftlingen bewegen. Ich fühle mich wie im Film „Carinduru“ von Babénco. Wir schlängeln uns durch engste Gänge, vorbei an freundlich grüssenden Budenbesitzern, die Chips und Zigaretten verkaufen, kleinen Gasküchen und tätowierten Kartenspieler mit traurigen Gesichtern. Wir kommen in winzige Zellen mit bis zu 10 Häftlingen, jeder mit einem ein auf zwei Meter Bett/ Zimmer/ Kleiderschrank/ Wohnzimmer.
Seit Patishtan Oktober vergangenen Jahres schlussendlich aus der Haft entlassen wurde, nimmt Alejandro Sántiz Díaz in gewisser Weise die Rolle ein, die Missstände, wie zum Beispiel das Fehlen von desinfizierendem Alkohol für medizinische Behandlung oder die korrupten Strukturen im Gefängnis zu reklamieren. Im Gefängnis selbst fungiert er als eine Art Ratgeber, um seine Erfahrungen zu teilen und ist Vorbild für den politschen Aktivismus eines Inhaftierten. Die Fortsetzung dieses Kampfes nach der Freilassung Patiasthans und neun weiteren politischen, indigenen Inhaftierten am 4. Julio 2013, zeigt, dass deren Bemühungen nicht umsonst waren und anderen Kraft gegeben hat.
Alejandro Sántis Díaz strahlt. Am 11. Mai sind es 15 Jahre, dass er unschuldig im Gefängnis sitzt. Er sei zufrieden, sagt er. Zufrieden über die Freilassung seiner Compañeros. Zufrieden damit im Gefängnis gelandet zu sein. Hier, hinter den Gitterstäben, habe er andere Freiheiten gefunden. Obwohl eingeschlossen, so haben sich ihm doch ganze Welten eröffnet. Das erlente Spanisch, die Erkenntnisse der Ungerechtigkeit, der politsche Aktivismus und Widerstand. Es sei kein Kampf für eine persönliche Gerechtigkeit, sondern eine allumfassende. Hier zwischen der aufgehängten Wäsche den Tortillas, die in der Sonne trocknen und dem Kaffee, der inzwischen aufgehört hat zu dampfen.
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Die redaktionell bearbeitete Fassung diese Textes erschien in Lateinamerikanachrichten Nr. 480 (Juni 2014)
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