Mittwoch, 30. Juli 2014
Bretton Woods wird 70
22. Juli 2014 l Heiner Flassbeck - Friederike Spiecker l Arbeitsmarkt und Verteilung, Finanzmärkte, Wirtschaftspolitik
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Heute vor 70 Jahren, also noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde in dem kleinen Ort Bretton Woods (im Mount Washington Hotel) in New Hampshire, USA, von 44 (alliierten) Ländern eine Vereinbarung unterschrieben, deren Bedeutung für die globale wirtschaftliche Entwicklung man kaum überschätzen kann. Die gesamte westliche Welt erfuhr danach einen Boom, Vollbeschäftigung und eine enorme Ausweitung der Handelsbeziehungen, ohne dass es zu nennenswerten Krisen gekommen wäre.
Unter der Ägide des Systems von Bretton Woods erlebte der Kapitalismus (oder die Marktwirtschaft, je nachdem, worauf man die Betonung legen will) eine Glanzperiode von über zwanzig Jahren, die für viele Menschen geradezu als Sinnbild für die Fähigkeit des kapitalistischen Systems gilt, in kurzer Zeit Wohlstand für die große Mehrheit der Bevölkerung zu schaffen.
Das aber ist ein falsches Bild. Es war nämlich nicht der Kapitalismus schlechthin, der glänzte, sondern es war ein unter den Regeln von Bretton Woods gezügelter, in enge Schranken gewiesener Kapitalismus, den heute viele nicht mehr ernsthaft als Kapitalismus bezeichnen würden. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war er so erfolgreich.
Bretton Woods stand nicht nur für feste (aber anpassungsfähige) Wechselkurse der Währungen der Mitgliedsländer gegenüber dem amerikanischen Dollar. Bretton Woods stand für viel mehr: für den Willen der beteiligten Länder, große Ungleichgewichte im internationalen Handel zu verhindern; für streng reglementierte Finanzmärkte, in denen die Banken nur die quasi hoheitliche Aufgabe hatten, Kreditanträge von Investoren in Sachanlagen sorgfältig zu prüfen und die Kreditvergabe abzuwickeln; für vielfältige Kapitalverkehrskontrollen und andere direkte Eingriffe der Staaten in den internationalen Kapitalverkehr.
Bretton Woods stand ganz besonders für den festen Willen der Wirtschaftspolitik, einschließlich der Geldpolitik, jederzeit für Vollbeschäftigung zu sorgen. Damit zusammenhängend und noch wichtiger: Bretton Woods stand für die systematische Beteiligung aller Menschen am Produktivitätsfortschritt über die Lohnpolitik und zusätzliche für die Bereitschaft des Staates, in die Primärverteilung (vor allem mit einer scharfen Progression bei der Einkommensteuer) einzugreifen, um mehr Gleichheit (darunter auch mehr Chancengleichheit) und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu ermöglichen. Bretton Woods stand grundsätzlich auch für ein neues Verständnis für die Rolle des Staates bei der Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung in vielen sozialen Belangen.
Würde man heute einem jungen gut ausgebildeten Ökonomen diese „Horrorliste“ von staatlichen Eingriffen und Reglementierungen vorlegen, er käme sicher zu dem Ergebnis, dass ein System mit diesen Charakteristika niemals erfolgreich sein könne, sondern bestenfalls als Quasi-Sozialismus zu kennzeichnen sei, der unweigerlich scheitern müsse.
Wie war das möglich, fragen heute viele? Wie konnten sich noch vor dem Ende des Weltkrieges so viele Länder auf ein solch ambitioniertes Programm einigen? Darüber kann man letztlich nur spekulieren. Sicher spielte der Eindruck des verheerenden Krieges eine große Rolle bei der Bereitschaft vieler Politiker in vielen Ländern und insbesondere in den USA, eine neue internationale Ordnung zu wagen. Wie immer in solchen Situationen kommt es aber auch und ganz besonders darauf an, dass es verantwortliche Persönlichkeiten gibt, die neue Ideen erkennen und umsetzen. So würde ich vermuten, dass es ohne den amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt niemals so weit gekommen wäre, weil er grundsätzlich für neue wirtschaftspolitische Ideen offen war und auch intern nach der großen Depression eine neue Wirtschaftspolitik gegen viele Widerstände durchgesetzt hatte (die üblicherweise als New Deal bezeichnet wird). Nach dem Ende von Bretton Woods haben die USA niemals auch nur im Ansatz eine Bereitschaft gezeigt, ernsthaft über ein neues globales Währungssystem nachzudenken. Sie waren nur zu Reparaturaktionen wie dem Plaza- und Louvre-Abkommen bereit, wenn es um ihre eigenen Handelsinteressen ging.
Relativ sicher kann man aber sein, dass die Verhandlungen und das Ergebnis des Bretton Woods Abkommens entscheidend von dem Mann bestimmt wurde, dessen Gedanken zu makroökonomischen Fragen die nächsten Jahrzehnte prägen sollten. John Maynard Keynes (der auch der Leiter der britischen Delegation war) war offenbar der Spiritus Rektor dieser Konferenz und hat trotz vieler Kompromisse, die er machen musste, die großen Linien bestimmt.
Das muss man sich bildlich vorstellen: Der Mann, dessen Ideen schon in den frühen fünfziger Jahren von einflussreichen deutschen Ökonomen als „höchst gefährlich“ (so Wilhelm Röpke in Wilhelm Lautenbachs Buch „Zins/Kredit und Produktion“, das Wolfgang Stützel 1952 herausgegeben hat, S.XI) bezeichnet und der als Vertreter einer „Depressionsökonomie“ abgetan wurde, hatte die Weichen für (die einzigen) zwei Jahrzehnte einer weitgehend krisenlosen Prosperität in der ganzen Welt gestellt. Statt sich aber mit den von Keynes aufgeworfenen Fragen intensiv auseinanderzusetzen, rief man in Deutschland schnell Ludwig Erhard als geistigen Vater des scheinbar nur deutschen Wirtschaftswunders aus und hatte zwei Fliegen mit einer ideologischen Klappe geschlagen: Deutschland war besonders und natürlich besonders gut, und es war die reine Marktwirtschaft, die den Sieg errungen hatte, und nicht irgendeine Mischform, die den Gedanken eines Herrn Keynes aus England gefolgt wäre.
Und heute? Warum klappt es dann heute nicht mehr so wie damals, obwohl in den letzten 25 Jahren die Lehre von der reinen Marktwirtschaft, gemeinhin als Marktliberalismus bekannt, Oberwasser wie nie zuvor erhalten hat? Nun, die einen behaupten, das mit dem Marktliberalismus sei einfach nicht weit genug vorangetrieben worden, man säße weiterhin auf verkrusteten, nicht marktgerechten Strukturen, nach dem Motto „Nicht die Medizin ist falsch, sondern nur die Dosis zu gering“. Die anderen, denen das nun doch zu verrückt klingt, weil es in zu offensichtlichem Widerspruch zur Realität steht, erklären die wirtschaftliche Entwicklung der 1950er und 1960er Jahre flugs als quasi zwingend notwendiges Ergebnis eines Wiederaufbaus nach dem Krieg, das so heute nicht wiederholbar sei. Noch dazu unter den immer offensichtlicher werdenden ökologischen Schranken und im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung.
Wie unsinnig die Sichtweise ist, ein weitgehend zerstörter Kapitalstock bedinge unter marktwirtschaftlichem Rahmen quasi ganz von selbst hohe Wachstumsraten als eine Art Gegenreaktion auf die kriegsbedingte Talfahrt, kann man jeden Tag an vielen Orten dieser Welt sehen, die ebenfalls vor einem zerstörten oder vollkommen herunter gewirtschafteten Kapitalstock stehen und an denen sich trotz dickstem Marktliberalismus kaum etwas zum Positiven wendet und schon gar nicht in einem Tempo und einer Größenordnung wie damals in der ganzen westlichen Welt. Wenn es so einfach wäre, wie das die meist marxistisch geprägten Vertreter der These „Der Kapitalismus braucht den Krieg, um immer wieder von vorn anfangen zu können, ansonsten erstickt das System an seiner eigenen ‚Überproduktion’“ glauben machen wollen, dann hätte der „Aufbau“ in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in den letzten 25 Jahren zu einer enormen wirtschaftlichen Blüte führen müssen, nicht aber zu den wirtschaftlich kümmerlichen und gesellschaftspolitisch höchst problematischen Ergebnissen, die viele Menschen zur Abwanderung Richtung Westen bewegen.
Es ist bedrückend zu sehen, wie beide Fehlanalysen der Bretton Woods-Ära (Wirtschaftswunder durch Ludwig Erhards Marktliberalismus hier, Neustart des Kapitalismus nach kriegsbedingter Kapitalstockzerstörung da) zu einer (vermutlich ungewollten) praktischen Allianz zweier an sich gegensätzlicher Gedanken-Lager führen: Wenn man die wichtigste Triebfeder der zwei von Prosperität gezeichneten Jahrzehnte der Marktwirtschaft nicht im Abkommen von Bretton Woods sieht, dann braucht man sich auch heute keine Gedanken um enge internationale Kooperation auf der Ebene der monetären Rahmenbedingungen einschließlich der Lohn- und Verteilungspolitik zu machen. Dann empfehlen die einen einfach weiter mehr Reformen in Richtung Marktliberalismus und die anderen warten in Ruhe ab, bis das System zusammenbricht, das sie ja schon immer als auf Dauer nicht tragfähig angesehen haben. Letzteren schließen sich obendrein mehr oder weniger bewusst die ökologisch orientierten Wachstumsskeptiker, Scherentheoretiker, Anhänger der Arbeitszeitverkürzung-gegen-Arbeitslosigkeit-Theorie und Grundeinkommensbefürworter an, so dass man ziemlich sicher sein kann, dass es nie mehr rechtzeitig eine demokratische Mehrheit für das geben wird, was wir dringender als jemals zuvor bräuchten: eine internationale Ordnung, die den Grundgedanken von Bretton Woods folgt.
Das sind Aussichten, die den siebzigsten Geburtstag einer bedeutenden Errungenschaft der Menschheit nicht gerade als Festtag erscheinen lassen.
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