Freitag, 31. August 2012
Wehrpflicht, Berufsarmee oder Abschaffung des Heeres?
Von Tibor Zenker
Kominform vom 29.08.2012 (auf Kommunisten-online am 31. August 2012) – Der Krieg der Worte rund um den österreichischen Verteidigungsminister und Zivilmilitaristen Norbert Darabos (SPÖ) ist abgeflaut, die angestrebte Bundesheerreform auf die lange Regierungsbank geschoben. Doch man soll sich keinen Illusionen hingeben: Die Zeit der Wehrpflicht, die es innerhalb der EU ansonsten nur noch in Griechenland, Zypern, Finnland, Estland und mit Abstrichen in Dänemark gibt, ist auch in Österreich mittelfristig vermutlich vorbei. Für ihre Abschaffung - oder zumindest ihre Aussetzung wie z.B. in Deutschland - gibt es bereits jetzt eine parlamentarische Mehrheit (durch SPÖ, BZÖ und Grüne), im Zweifelsfall wohl doch eine (allerdings knappe) Mehrheit in der Bevölkerung sowie eine mediale Mehrheit durch die Unterstützung der SPÖ seitens der Speerspitzen des Boulevards. Selbst die gegenwärtig widerspenstigen Positionen von ÖVP und FPÖ haben mehr mit politischem Opportunismus zu tun als mit tatsächlicher Strategie. Kurzum: Der Fisch ist geputzt. Und doch oder erst recht liegt vor uns ein guter Anlass, sich mit der Bedeutung der Armee und der Art der Soldatenrekrutierung im bürgerlichen Staat auseinanderzusetzen.
Kapitalismus, Imperialismus und Militarismus
Friedrich Engels bezeichnete als einen der entscheidenden Punkte bei der Herausbildung des Staates „die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt, welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen. [...] Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art“. [1]
Die „besonderen Formationen bewaffneter Menschen“, die über die Gesellschaft gestellt werden und sich ihr entfremden, aber keineswegs über ihr stehen, sind die Polizei und die Armee, wie Lenin ausführt, der sie als „Hauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht“ [2] bezeichnet. Wichtig zu wissen ist daher, dass die Armee immer die Armee der Herrschenden ist, ein Unterdrückungswerkzeug. Daher ist die Armee im bürgerlichen Klassenstaat ein wesentliches Mittel zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung und des Kapitalismus, sie ist die Armee der Bourgeoisie oder, genauer, im fortgeschrittenen staatsmonopolistischen Kapitalismus die Armee des Monopolkapitals, der Imperialisten. Man möge sich dies gerade im 140. Jahr seit der Pariser Kommune - und eben ihrer blutigen Niederschlagung - in Erinnerung rufen und gut merken.
Dahinter kann man, wieder mit Engels, die folgende Beobachtung bezüglich der öffentlichen Gewalt machen: „Sie verstärkt sich aber in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen und wie die einander begrenzenden Staaten größer und volkreicher werden - man sehe nur unser heutiges Europa an, wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die öffentliche Macht auf eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie die ganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht.“ [3] So schrieb Engels 1884, ohne dass er ahnen konnte, dass als Konsequenz zwei Weltkriege und der Faschismus folgen würden.
Es geht also um die veränderte Bedeutung des Armee mit der Herausbildung des Imperialismus - Lenin: „Insbesondere aber weist der Imperialismus, weist die Epoche des Bankkapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der 'Staatsmaschinerie' auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparates“ [4]. Man spricht in weiterer Folge vom (kapitalistischen) Militarismus - und es geht um eine Doppelbedeutung: „Der moderne Militarismus ist ein Resultat des Kapitalismus ... als Militärmacht, die die kapitalistischen Staaten bei ihren äußeren Zusammenstößen einsetzen ('Militarismus nach außen'...), und als Waffe in den Händen der herrschenden Klassen zur Niederhaltung aller (ökonomischen und politischen) Bewegungen des Proletariats ('Militarismus nach innen').“ [5]
Aber welche Armee - und damit kommen wir wieder näher zur gegenwärtigen Debatte in Österreich -, welche Heeresverfassung entspricht diesen Aufgaben? Karl Liebknecht meinte 1907: „Freilich entwickelt der Kapitalismus ebenso wie jede andere Klassengesellschaftsordnung seine besondere Sorte Militarismus; denn der Militarismus ist seinem Wesen nach Mittel zum Zweck oder zu mehreren Zwecken, die je nach der Art der Gesellschaftsordnung verschieden und je nach ihrer Verschiedenheit auf verschieden gearteten Wegen zu erreichen sind. Das tritt nicht nur im Heerwesen zutage, sondern auch im übrigen Inhalt des Militarismus, der sich aus der Erfüllung seiner Aufgaben ergibt. Der kapitalistischen Entwicklungsstufe entspricht am besten das Heer der allgemeinen Wehrpflicht, das aber, obwohl ein Heer aus dem Volke, kein Heer des Volkes, sondern ein Heer gegen das Volk ist, oder mehr und mehr dazu umgearbeitet wird. Es tritt bald als stehendes Heer auf, bald als Miliz. Das stehende Heer, das aber auch keine Erscheinung nur des Kapitalismus ist, erscheint als seine entwickeltste, ja seine normale Form“. [6]
Einige historische Hintergründe
Die Entwicklung Richtung Wehrpflicht zeichnete sich in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts ab, wenngleich schon zuvor, nicht zuletzt im Kriegsfall, die früher üblichen Söldner- bzw. Berufsheere durch Wehrpflichtigenheere ergänzt oder sogar ersetzt worden waren, was mitunter jedoch auf willkürlichen Zwangsrekrutierungen beruhte. Die ersten durchschlagenden Erfolge eines Wehrpflichtigenheeres erbrachte die französische Armee ab 1793, schließlich wurde ein Gutteil Europas durch Napoleon Bonaparte unterworfen. Schlagartig verfügte die französische Armee damals über ein Heer von 400.000 Mann, während Österreich und Preußen einerseits jeweils keine 100.000 professionellen Soldaten zusammenbrachten, andererseits in der Kampfesmoral der französischen Revolutionsarmee unterlegen waren.
Es ist interessant, dass sich diese Tendenz zur Wehrpflicht mit der Position der frühen Arbeiterbewegung deckte. Für die Erste Internationale formulierte Karl Marx 1866: „(a) Der verderbliche Einfluss von großen stehenden Heeren auf die Produktion ist auf bürgerlichen Kongressen aller Arten, auf Friedenskongressen, ökonomischen Kongressen, statistischen Kongressen, philanthropischen Kongressen und soziologischen Kongressen, zur Genüge dargelegt worden. Wir halten es daher für überflüssig, uns über diesen Punkt zu verbreiten. (b) Wir schlagen allgemeine Volksbewaffnung und allgemeine Ausbildung im Waffengebrauch vor. (c) Wir stimmen, als einer vorübergehenden Notwendigkeit, kleinen stehenden Heeren zu, die als Schulen für Offiziere der Miliz dienen; jeder männliche Bürger soll auf kurze Zeit in diesen Armeen dienen.“ [7]
Schon ein Jahr zuvor hatte Engels festgehalten, es sei „durchaus nicht gleichgültig, ob die allgemeine Wehrpflicht vollständig durchgeführt wird oder nicht. Je mehr Arbeiter in den Waffen geübt werden, desto besser. Die allgemeine Wehrpflicht ist die notwendige und natürliche Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts; sie setzt die Stimmenden in den Stand, ihre Beschlüsse gegen alle Staatsstreichversuche mit den Waffen in der Hand durchzusetzen.“[8]
Man möge aber zwei Dinge nicht verwechseln: Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht führt natürlich keineswegs automatisch zur Abschaffung der stehenden Heere - im Gegenteil. Gerade bei längeren Dienstzeiten, wie sie in Europa im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts üblich waren oder wie es heute z.B. in Israel der Fall ist, führt die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht gerade zu sehr großen stehenden Heeren. D.h. nur in Verbindung mit einer prägnanten Ausbildungszeit sowie mit einem konsequenten Milizsystem ergibt die Wehrpflicht eine Reduzierung der stehenden Heere - und dies war auch die eigentliche Position der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, oben vermittelt durch Marx und Engels.
Die - langsame - Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Österreich war 1868 eine Schlussfolgerung aus der Niederlage von Königgrätz zwei Jahre zuvor. Ganz offensichtlich war die Zeit der Massenarmeen, scheinbarer Volksarmeen, längst gekommen. In Preußen war die Wehrpflicht bereits 1813/14 durchgesetzt worden, damals ebenso die Konsequenz einer militärischen Niederlage, nämlich jener gegen Frankreich.
Die österreichische Arbeiterbewegung jener Zeit stimmte mit Marx und Engels überein. Im „Hainfelder Programm“ von 1888/89, als Victor Adler (unter redaktioneller Mithilfe Karl Kautskys) auf dieser Grundlage die Sozialdemokratische Arbeiterpartei schuf, heißt es: „Die Ursache der beständigen Kriegsgefahr ist das stehende Heer, dessen stets wachsende Last das Volk seinen Kulturaufgaben entfremdet. Es ist daher für den Ersatz des stehenden Heeres durch die allgemeine Volksbewaffnung einzutreten.“ [9] Im „Wiener Programm“ von 1901 wurde diese Position der SDAPÖ für ein Milizheer bekräftigt, nun auch unter Verwendung des Wortlauts „allgemeine Wehrpflicht“.
Bis 1914, unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges, verfügte die österreichische Armee über ein stehendes Heer von rund 450.000 Mann, davon im Kern etwas weniger als ein Zehntel Berufssoldaten. Zu Kriegsbeginn wurde ein Mobilmachungsstand von 3,4 Millionen Soldaten erreicht, im Laufe des Krieges wurden schließlich acht Millionen österreichische Soldaten an die Front geschickt - 1,5 Millionen kamen nicht mehr zurück, weltweit waren es etwa zehn Millionen Soldaten. Damit war 1914-1918 eingetreten, wovor Wilhelm Liebknecht schon 1891 gewarnt hatte: „Im nächsten Kriege werden Millionen unter der Fahne stehen, Europa wird in Waffen starren, ganze Völker werden gegeneinander geworfen, ein Krieg, wie ihn die Weltgeschichte niemals gesehen, im Vergleich zu welchem der letzte französisch-deutsche Krieg ein Kinderspiel war und der unsere Zivilisation auf ein Jahrhundert zurückwerfen muss.“ [10] Der Zweite Weltkrieg sollte nur zwei Jahrzehnte später noch viel verheerender sein.
Offenkundig treffen in der Frage der allgemeinen Wehrpflicht innerhalb des Kapitalismus, insbesondere des Imperialismus, zwei gegensätzliche Facetten aufeinander, die den beiden Formen des Militarismus, wie sie Lenin weiter oben angeführt hat, geschuldet sind. Was den Militarismus nach außen betrifft, so diente die Wehrpflicht aus Sicht der Imperialisten der Bereitstellung von ausreichend Kanonenfutter, motiviert mit ausreichend nationalistischer Ideologie und ultrapatriotischem Pathos. In diesem Sinne möge die Parole tatsächlich lauten: Keinen Mann und keinen Cent dem Militarismus!
Dazu in scheinbarem Gegensatz stehen die zuvor genannten Positionen von Marx, Engels und Adler, die in der allgemeinen Wehrpflicht einen Fortschritt sehen - dieser ist jedoch vorrangig innerer, d.h. „innenpolitischer“ Natur. Über den Militarismus nach innen schrieb Karl Liebknecht: „Der Militarismus ist aber nicht nur Wehr und Waffe gegen den äußeren Feind, seiner harrt eine zweite Aufgabe, die mit der schärferen Zuspitzung der Klassengegensätze und mit dem Anwachsen des proletarischen Klassenbewusstseins immer näher in den Vordergrund rückt, die äußere Form des Militarismus und seinen inneren Charakter mehr und mehr bestimmend: die Aufgabe des Schutzes der herrschenden Gesellschaftsordnung, einer Stütze des Kapitalismus und aller Reaktion gegenüber dem Befreiungskampf der Arbeiterklasse. Hier zeigt er sich als ein reines Werkzeug des Klassenkampfes, als Werkzeug in den Händen der herrschenden Klassen, dazu bestimmt, im Verein mit Polizei und Justiz, Schule und Kirche die Entwicklung des Klassenbewusstseins zu hemmen und darüber hinaus einer Minderheit, koste es, was es wolle, selbst gegen den aufgeklärten Willen der Mehrheit des Volkes die Herrschaft im Staat und die Ausbeutungsfreiheit zu sichern.“ [11]
Und hier besteht die Möglichkeit, dass das Wehrpflichtigenheer an die Grenzen seiner Einsetzbarkeit stößt. Ein Berufsheer wird - ebenso wie die Polizei - jeden Befehl der Herrschenden ausführen, wenn dies „sein muss“, und auch gegen friedliche und unbewaffnete Zivilisten vorgehen, erst recht natürlich gegen eine etwaige revolutionäre Erhebung. Das Wehrpflichtigenheer hingegen, deren Soldaten im fortgeschrittenen Kapitalismus logischerweise zum Großteil aus der Arbeiterklasse stammen, wird dies nicht so bedenkenlos und gewiss nicht zur Gänze tun. Liebknecht verwies 1907 diesbezüglich auf Russland: „Aber wenn schon in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten die Armee der allgemeinen Wehrpflicht als Waffe gegen das Proletariat ein krasser, zugleich furchtbarer und bizarrer Widerspruch in sich selbst ist, so ist das Heer der allgemeinen Wehrpflicht unter dem zarisch-despotischen Regierungssystem eine Waffe, die sich notwendig mehr und mehr mit niederschmetternder Wucht gegen den zarischen Despotismus selbst wenden muss“. [12]
In der Februar- und Oktoberrevolution 1917 war dies der Fall, als sich die Bolschewiki durch ihre konsequente Friedens- und Revolutionsagitation einen relevanten Rückhalt in der Armee geschaffen hatten. Die Mehrheit der Soldaten wandte sich gegen ihre Generäle und Offiziere und stellte sich auf die Seite der Aufständischen. In den Folgejahren gelang es der neuen Roten Armee als tatsächlicher Volksarmee zudem, die Revolution gegen die Angriffe der mit den imperialistischen Staaten verbündeten Weißgardisten zu verteidigen. Liebknecht hatte also bezüglich der möglichen Revolution eine richtige Einschätzung getroffen, ebenso Lenin 1916, als er die militärischen Konsequenzen einer Revolution skizzierte: „Bürgerkriege sind auch Kriege. Wer den Klassenkampf anerkennt, der kann nicht umhin, auch Bürgerkriege anzuerkennen, die in jeder Klassengesellschaft eine natürliche, unter gewissen Umständen unvermeidliche Weiterführung, Entwicklung und Verschärfung des Klassenkampfes darstellen. Alle großen Revolutionen bestätigen das. Bürgerkriege zu verneinen oder zu vergessen, hieße in den äußersten Opportunismus verfallen und auf die sozialistische Revolution verzichten. [...] Der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern Siegen. Er wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder vorbürgerlich bleiben. Das muss nicht nur Reibungen, sondern auch direktes Streben der Bourgeoisie anderer Länder erzeugen, das siegreiche Proletariat des sozialistischen Staates zu zerschmettern. In solchen Fällen wäre ein Krieg unsererseits legitim und gerecht, es wäre ein Krieg für den Sozialismus, für die Befreiung anderer Völker von der Bourgeoisie. Engels hatte vollständig recht, als er in seinem Briefe an Kautsky vom 11. September 1883 ausdrücklich die Möglichkeit von 'Verteidigungskriegen' des Sozialismus, der schon gesiegt hat, anerkannte. Er meinte nämlich die Verteidigung des siegreichen Proletariats gegen die Bourgeoisie anderer Länder.“ [13]
Es liegt auf der Hand, dass nur eine militärisch geschulte und bewaffnete Arbeiterklasse, die sich in relevanter Zahl sodann auch entsprechend organisiert, die Bourgeoisie stürzen und die Revolution und den Sozialismus verteidigen kann. Alles andere, insbesondere eine „friedliche“, gewaltfreie Revolution, die von den Herrschenden im In- und Ausland einfach so hingenommen wird, ist zwar optimistisch ausmalbar, aber denn wohl doch Wunschdenken. Auf die Zimperlichkeit des bürgerlichen Staates, des Imperialismus, der Konterrevolution und des Faschismus zu hoffen, ist unangebracht. Nochmals Lenin: „Eine unterdrückte Klasse, die nicht danach strebt, Waffenkenntnis zu gewinnen, in Waffen geübt zu werden, Waffen zu besitzen, eine solche unterdrückte Klasse ist nur wert, unterdrückt, misshandelt und als Sklave behandelt zu werden. Wir dürfen ... nicht vergessen, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und dass außer dem Klassenkampfe keine Rettung daraus möglich und denkbar ist. In jeder Klassengesellschaft, sie möge auf der Sklaverei, Leibeigenschaft oder, wie heute, auf der Lohnsklaverei beruhen, ist die unterdrückende Klasse bewaffnet.“ [14]
Und was folgt für Lenin daraus? - „Heute militarisiert die imperialistische - und andere - Bourgeoisie nicht nur das ganze Volk, sondern auch die Jugend. Morgen wird sie meinetwegen die Frauen militarisieren. Wir antworten darauf: Desto besser! Nur immer schneller voran - je schneller, desto näher ist der bewaffnete Aufstand gegen den Kapitalismus. [...] Jetzt durchdringt die Militarisierung das ganze öffentliche Leben. Die Militarisierung wird alles. Der Imperialismus ist erbitterter Kampf der Großmächte um Teilung und Neuteilung der Welt - er muss daher zur weiteren Militarisierung in allen, auch in kleinen, auch in neutralen Ländern führen. Was sollen die proletarischen Frauen dagegen tun? Nur jeden Krieg und alles Militärische verwünschen, nur die Entwaffnung fordern? Niemals werden sich die Frauen einer unterdrückten Klasse, die revolutionär ist, mit solcher schändlichen Rolle bescheiden. Sie werden vielmehr ihren Söhnen sagen: 'Du wirst bald groß sein, man wird dir das Gewehr geben. Nimm es und erlerne gut alles Militärische - das ist nötig für die Proletarier, nicht um gegen deine Brüder zu schießen, wie es jetzt in diesem Räuberkriege geschieht und wie dir die Verräter des Sozialismus raten, sondern um gegen die Bourgeoisie deines eigenen Landes zu kämpfen, um der Ausbeutung dem Elend und den Kriegen nicht durch fromme Wünsche, sondern durch das Besiegen der Bourgeoisie und deren Entwaffnung ein Ende zu bereiten.' Wenn man nicht eine solche Propaganda und eben eine solche im Zusammenhange mit dem jetzigen Kriege treiben will, dann höre man gefälligst auf, große Worte von der internationalen revolutionären Sozialdemokratie, von der sozialen Revolution, von dem Kriege gegen den Krieg im Munde zu führen.“ [15]
Doch zurück zur Geschichte der Wehrpflicht in Österreich. - In der Ersten Republik plante man, die allgemeine Wehrpflicht beizubehalten. Von 1918 bis 1920 existierte in Österreich die so genannte „Volkswehr“, die bis zu 50.000 Mann unter Waffen hatte - praktisch handelte es sich zu diesem Zeitpunkt jedoch um ein Freiwilligenheer. Allzu weit her war es mit dem Gedanken des Volksheeres dann ohnedies doch wieder nicht, letztlich galten auch in dieser Phase Liebknechts Worte: „So steht der moderne Militarismus vor uns, der nicht mehr und nicht weniger sein will als die Quadratur des Zirkels, der das Volk gegen das Volk selbst bewaffnet, der den Arbeiter, indem er eine Altersklassenscheidung mit allen Mitteln künstlich in unsere soziale Gliederung hineinzutreiben sucht, zum Unterdrücker und Feind, zum Mörder seiner eigenen Klassengenossen und Freunde, seiner Eltern, Geschwister und Kinder, seiner eigenen Vergangenheit und Zukunft zu machen sich vermisst, der gleichzeitig demokratisch und despotisch, aufgeklärt und mechanisch sein will, gleichzeitig volkstümlich und volksfeindlich.“ [16] Die Volkswehr war ideologisch, v.a. regional betrachtet, inhomogen. Während in den Bundesländern direkt an monarchistische Traditionen angeknüpft wurde, setzte sich in Wien der sozialdemokratische und somit republikanische Einfluss durch. Dies allerdings auch mit Gewalt: Nachdem in den Jahren 1918 und 1919 in Wien und Linz bereits auf demonstrierende, zum Teil revolutionäre Arbeiter geschossen wurde und die regierende Sozialdemokratie dutzende Tote in Kauf genommen hatte, wurde im August 1919 die starke kommunistische Bastion in der Wiener Volkswehr, das Bataillon 41, das aus der Roten Garde hervorgegangen war, vom zuständigen SP-Staatssekretär Julius Deutsch aufgelöst. So konnte der spätere austrofaschistische Diktator Kurt Schuschnigg mit Recht hervorheben, es sei, „die erfolgreiche Abwehr der kommunistischen Parolen und kommunistischen Brachialgewalt im Jahre 1919 ein ausschlaggebendes Verdienst der Sozialdemokraten, das unbestritten bleibt.“ [17] Der gegenrevolutionäre Charakter der österreichischen Sozialdemokratie war leider tatsächlich schon in den Jahren 1918/19 voll ausgebildet.
Das Ende der Volkswehr und der allgemeinen Wehrpflicht wurde kurz darauf von außen bestimmt: Als Bestandteil des Friedensvertrages von Saint-Germain wurde es Österreich untersagt, ein Wehrpflichtigenheer zu unterhalten, ebenso waren bestimmte Waffengattungen, darunter die Luftwaffe, verboten. Stattdessen gab es ab 1920 ein Berufsheer, das auf 30.000 Mann limitiert war. Hatte die Sozialdemokratie zunächst noch in diesem neuen Bundesheer unter den Soldaten eine Mehrheit, so gelang es den Christlichsozialen bzw. den Austrofaschisten im Laufe der nächsten Jahre, das Heer weitgehend umzufärben - freilich unter dem Vorwand einer angeblichen „Entpolitisierung“ -, wobei viele ehemalige Berufssoldaten sozialdemokratischer Gesinnung im Republikanischen Schutzbund aufgefangen wurden.
Im zentralen Dokument der „austromarxistischen“ Sozialdemokratie jener Zeit, im „Linzer Programm“ von 1926, ist zum Thema festgehalten: „Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei muss ... die Arbeiterklasse in ständiger organisierter geistiger und physischer Bereitschaft zur Verteidigung der Republik erhalten, die engste Geistesgemeinschaft zwischen der Arbeiterklasse und den Soldaten des Bundesheeres pflegen, sie ebenso wie die anderen bewaffneten Korps des Staates zur Treue zur Republik erziehen und dadurch der Arbeiterklasse die Möglichkeit erhalten, mit allen Mitteln der Demokratie die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu brechen.“ [18] Und an selbiger Stelle wird fortgesetzt: „Wenn es aber trotz allen diesen Anstrengungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei einer Gegenrevolution der Bourgeoisie gelänge, die Demokratie zu sprengen, dann könnte die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch im Bürgerkrieg erobern.“ Natürlich ist der zweite Fall eingetreten, der „dritte“, „demokratische“ Weg zum Sozialismus war ein Irrweg in die Sackgasse.
Im kurzen Bürgerkrieg im Februar 1934, als sich - entgegen den Wünschen der SP-Führung - die Basis der Schutzbundes gegen den Faschismus auflehnte, war für die kämpfenden Antifaschisten freilich nichts mehr zu gewinnen. Dies hatte in der Verantwortung der Führung der Sozialdemokratie und des Schutzbundes politische, organisatorische und militärtaktische Ursachen, die hier nicht weiter zu erörtern sind. [19] Faktum ist jedenfalls, dass das Berufsbundesheer im Februar 1934 seinen entsprechenden Auftritt hatte: Unter Einsatz von Artillerie und Panzerfahrzeugen wurde der Aufstand militärisch niedergeschlagen. Diese Erfahrung war es, die die Einführung eines Berufsheeres in der Sozialdemokratie berechtigter Weise für Jahrzehnte zum unmöglichen Standpunkt machte, wie noch zu zeigen sein wird.
1936, im austrofaschistischen „Ständestaat“, wurde die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt. Im März 1938, als die deutsche Wehrmacht mit 65.000 Mann in Österreich einrückte, verfügte man über ein stehendes Heer von 60.000 Mann und 130.000 Reservisten. Trotzdem wurde kein einziger Schuss abgegeben, um die Okkupation zu verhindern, obwohl durchaus Verteidigungspläne ausgearbeitet worden waren - diese waren jedoch mit dem Berchtesgadener Abkommen hinfällig, der zuständige Generalstabschef Alfred Jansa wurde auf Hitlers Verlangen von Schuschnigg abberufen. Von 1938 bis 1945 wurden 1,2 Millionen Österreicher zum Kriegsdienst in der deutschen Wehrmacht eingezogen - in Deutschland hatte das NS-Regime 1935 die in der Weimarer Republik aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages abgeschaffte Wehrpflicht (ein Berufsheer von 100.000 Mann war erlaubt) wieder eingeführt. 260.000 österreichische Soldaten der deutschen Wehrmacht starben im Zweiten Weltkrieg.
1945 untersagten die vier Besatzungsmächte die Aufstellung einer neuen österreichischen Armee, deren Aufbau die Provisorische Regierung Renner durchaus schon angedacht hatte. Erst 1952 konnte als Vorläufer des späteren Bundesheeres der Zweiten Republik die so genannte „B-Gendarmerie“ gegründet werden, die bis 1956 über 6.000 Mann verfügte.
Nach dem Abschluss des österreichischen Staatsvertrages von 1955 und dem Abzug der sowjetischen, US-amerikanischen, britischen und französischen Soldaten wurde das neue, heutige Bundesheer geschaffen, wiederum auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht - diese ist auch im österreichischen Bundesverfassungsgesetz fixiert. [20] Die Wehrpflicht entsprach auch der Position der SPÖ, die in einem Parteivorstandsbeschluss am 13. Mai 1955 festgehalten hatte: „Die Sozialistische Partei sieht in einer Armee des Volkes den besten Schutz der Republik. Diesem Ziel dient die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und der Aufbau eines neuen Heeres mit milizartigem Charakter.“ [21]
Und diese programmatische Position, die auch zumindest formell zur Realität wurde, blieb in der SPÖ über Jahrzehnte unangetastet. In den Parteiprogrammen von 1958 und 1966 wurde sie unterstrichen, noch 1978 ließ Bruno Kreisky niederschreiben: „Die militärische Landesverteidigung soll auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht von einem milizartigen System getragen werden“. [22] Erst das aktuell gültige, 1998 beschlossene „Grundsatzprogramm“ der SPÖ gibt vorsichtshalber keine Auskunft mehr über die Frage der Wehrpflicht.
So verfügt der österreichische Staat gegenwärtig über ein stehendes Heer von 35.000 Mann, davon 25.000 Berufssoldaten und 10.000 Präsenzdiener. Hinzu kommen ca. 30.000 Milizsoldaten sowie rund 950.000 Reservisten. Freilich ist das nur die halbe Wahrheit: Wenn wir uns an Engels' Worte über die „Formationen bewaffneter Menschen“ erinnern, so ist die Polizei mitzudenken. Die österreichische Bundespolizei verfügt über rund 23.000 „bewaffnete Exekutivbedienstete“. Somit stehen in unserem Land annähernd 50.000 Männer und Frauen berufsmäßig unter Waffen. 1,6 Millionen Männer sind in Österreich insgesamt wehrtauglich, jedes Jahr kommen knapp 50.000 hinzu. Dies also ist der Status quo - und es gibt unterschiedliche Meinungen, in den Hauptzügen deren drei, darüber, wie die weitere Entwicklung aussehen soll.
Fußnoten:
[1] Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. In: Marx/Engels-Werke (MEW), Bd. 21, S. 165f.
[2] W. I. Lenin, Staat und Revolution. In: Lenin-Werke (LW), Bd. 25, S. 401
[3] Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats. MEW 21, S. 166
[4] W. I. Lenin, Staat und Revolution. LW 25, S. 423
[5] W. I. Lenin, Der streitbare Militarismus und die antimilitaristische Taktik der Sozialdemokratie. LW 15, S. 187
[6] Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus. In: Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 74
[7] Karl Marx, Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen. MEW 16, S. 199
[8] Friedrich Engels, Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei. MEW 16, S. 66
[9] Prinzipienerklärung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (1888/89). In: Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, Wien 1967, S. 139
[10] Wilhelm Liebknecht, Die Stellung des Proletariats zum Militarismus. In: Gegen Militarismus und Eroberungskrieg, Berlin 1986, S. 161
[11] Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus. In: Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 82
[12] ebd., S. 90
[13] W. I. Lenin, Das Militärprogramm der proletarischen Revolution. In: Ausgewählte Werke, Moskau 1946, Bd. I, S. 877f.
[14] ebd., S. 879
[15] ebd., S. 880ff.
[16] Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus. In: Reden und Aufsätze, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 82f.
[17] zitiert nach: Arnold Reisberg, Februar 1934 - Hintergründe und Folgen, Wien 1974, S. 100
[18] Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs (1926). In: Austromarxismus, Texte zu Ideologie und Klassenkampf, Frankfurt/M. - Wien 1970, S. 385
[19] vgl. Arnold Reisberg, Februar 1934 - Hintergründe und Folgen, Wien 1974, S. 190-200
[20] B-VG Art 9a §3
[21] zitiert nach: Arbeiterzeitung, 14.5.1955
[22] Das neue Parteiprogramm der SPÖ (1978). In: Wolfgang Neugebauer, Modelle für die Zukunft – Die österreichische Sozialdemokratie im Spiegel ihrer Programme, Wien 1991, S. 146
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