Montag, 4. Juni 2012
Die Tücken des vermeintlichen Abzugs aus Afghanistan
Das Ende der ISAF
http://www.imi-online.de/download/Juni2012_JS_NATO-Afgh.pdf
http://www.imi-online.de/2012/05/31/das-ende-der-isaf/
Jonna Schürkes (31. Mai 2012)
Auf dem NATO-Gipfel in Chicago wurde die Zukunft der NATO-Mission in
Afghanistan – ISAF – beschlossen. Wie schon befürchtet, wird das Ende
der ISAF allerdings nicht das Ende der Präsenz von NATO-Truppen und
schon gar nicht des Krieges in Afghanistan bedeuten[1]. Vielmehr wird es
eine „neue“ Mission geben, die sich auf „Ausbildung, Beratung und
Unterstützung“ der afghanischen Sicherheitskräfte konzentrieren wird.
Die Stärke dieser Mission soll zwischen 10.000 und 40.000 Soldaten
liegen[2]. Natürlich handelt es sich dabei nicht ausschließlich um
Ausbilder: Auch weiterhin wird es schwer bewaffnete Einheiten geben, die
die „Ausbilder“ schützen sowie Spezialeinheiten, die den Kampf gegen die
„Aufständischen“ weiterführen werden.[3] Allerdings werden die
NATO-Staaten das Ende der ISAF gegenüber ihrer Bevölkerung als
Beendigung des Krieges in Afghanistan verkaufen: „Mit dieser Reduzierung
soll der Anschein erweckt werden, der Krieg in Afghanistan sei beendet.
Wie im Falle Iraks soll das Thema von den Titelseiten und aus dem
Bewusstsein der Wähler verschwinden. Denn wenn nur noch ein paar
deutsche Ausbilder in Afghanistan sind, wird es keine ‚eingebettete‘
Berichterstattung mehr geben und auch weniger pressebegleitete Minister-
und Parlamentarierreisen.“[4] Insofern wurde auch der angekündigte Abzug
der französischen Truppen in Chicago wenig kritisiert, schließlich hat
der neue französische Präsident Hollande schon angekündigt, dass auch
französische Soldaten sich an der Nachfolgemission als „Ausbilder“
beteiligen werden.
Die Logistik des Abzugs
Dennoch bedeutet das Ende von ISAF, dass die NATO-Staaten eine große
Anzahl an Truppen mitsamt deren Material aus Afghanistan abziehen
müssen. Derzeit sind ca. 130.000 NATO-Soldaten dort stationiert. Seit
2001 wurden „rund 120.000 Container voll mit militärischem Material und
mehr als 75.000 Fahrzeuge“[5] nach Afghanistan transportiert, die
zumindest teilweise auch wieder zurückgebracht werden sollen – ein Teil
wird wohl als „Ausstattungshilfe“ an die afghanische Armee und Polizei
übergeben werden.
Auch nach dem Gipfel in Chicago ist unklar, über welche Routen die
Soldaten und das Material abgezogen werden sollen. Bisher lief der
Nachschub für die NATO-Truppen zum Großteil (ca. 80%) über Pakistan.
Laster wurden im Hafen von Karachi beladen und fuhren dann über Quetta
und die Grenzstadt Chaman nach Kandahar oder über Peshawar und Torkam
nach Kabul (s.Karte). Die pakistanische Regierung hatte die Grenze zu
Afghanistan für die Versorgung der Truppen allerdings seit November 2011
bis kurz vor dem NATO-Gipfel geschlossen, da die NATO zum wiederholten
Male pakistanische Soldaten im Grenzgebiet zu Afghanistan beschossen
hatte, im November 2011 waren dabei 24 Soldaten getötet worden. Das
Angebot Pakistans – gegen eine Gebühr von 5000 US$ pro Container – die
Route zu öffnen, wurde vom US-Verteidigungsminister Leon Panetta als
unakzeptabel zurückgewiesen.[6] Selbst wenn es allerdings eine Einigung
mit der pakistanischen Regierung geben sollte, so bleibt die Route
unsicher. Bis zur Schließung der Grenze waren immer häufiger Anschläge
auf Laster mit Material für die ISAF-Truppen in Pakistan verübt
worden.[7] Zudem hatte das US-Militär das riesige Geschäft der
Truppenversorgung an private Logistik- und Sicherheitsunternehmen
ausgelagert, die wiederum lokale Warlords bezahlen, um passieren zu
können.[8] Hinzu kommt, dass auch die Bevölkerung, die massiv unter den
Drohnenangriffen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet leidet, die
Unterbrechung des Nachschubs als Möglichkeit erkannt hat, gegen diesen
Krieg zu protestieren. So blockierten Anfang 2011 Demonstranten eine
Straße in Peschawar, über die die LKWs auf dem Weg zur Grenze müssen.[9]
Die Alternative ist die Route über Zentralasien
Die Alternativen zum Transport durch Pakistan sind allerdings sehr
begrenzt: Die kürzeste Route durch den Iran steht nicht ernsthaft zur
Debatte. So bleibt nur noch die sehr kostenaufwändige (und gefährliche)
Möglichkeit, die Truppen und das Material per Flugzeug aus Afghanistan
zu schaffen[10] und die Route über die zentralasiatischen Staaten. Seit
Jahren wird daher mit den zentralasiatischen Staaten zur Genehmigung
dieser Transporte verhandelt. Auf dem NATO Gipfel soll mit Usbekistan
über ein Abkommen verhandelt worden sein. De Maizière zufolge sei es
„unterschriftsreif“[11].
Schon für die Versorgung der ISAF-Truppen waren immer mehr Güter über
das sogenannte „Northern Distribution Network - NDN“ (s. Karte – nur im
pdf) transportiert worden. Dazu wurden – i.d.R. mit
Entwicklungshilfegeldern – Straßen, Brücken und Bahnlinien gebaut. Erst
kürzlich wurde eine Bahnstrecke zwischen Termez in Usbekistan und
Masar-i-Sharif in Afghanistan fertiggestellt. Finanziert wurde das
Projekt von der asiatischen Entwicklungsbank, Japan und den USA, die
ebenso eine Brücke zwischen Turkmenistan und Afghanistan finanzierten.[12]
Natürlich lassen sich auch die zentralasiatischen Staaten die
Genehmigung bezahlen. So haben die USA ihre Militärhilfe für Kirgisien,
Tadschikistan und Turkmenistan im Jahr 2010 massiv erhöht: „Die 2010
erfolgte Erhöhung der FMF [Foreign Military Financing] steht in einem
engen Zusammenhang mit den Verhandlungen um die NDN, auch wenn es das
State Department nicht zugeben würde“.[13] Usbekistan erhält – nachdem
das US-Militär 2005 des Landes verwiesen worden war und die USA
daraufhin sämtliche Hilfen einstellte - erstmals 2011 wieder direkte
Militärhilfe aus den USA, was auf die wichtige Rolle Usbekistans im NDN
zurückzuführen ist.[14]
Deutschland unterhält hingegen seit Jahren hervorragende Beziehungen zu
Usbekistan, die Menschrechtsverletzungen, die durch das Regime verübt
werden, toleriert dir deutsche Regierung weitgehend. Neben der engen
Zusammenarbeit mit dem usbekischen Geheimdienst[15] geht es vor allem um
die Militärbasis in Termez, über die Soldaten der Bundeswehr und anderer
NATO-Staaten eingeflogen und versorgt werden. Dazu wurde zunächst die
Durchführungsorganisation der deutschen Entwicklungshilfe „GTZ“ mit dem
Ausbau bzw. dessen Organisation des Flughafens in Termes betraut.[16]
Die GTZ wiederum vergab den Auftrag an ein usbekisches Bauunternehmen:
„Fast zehn Millionen Euro hat die Bundeswehr bisher [bis Juni 2006]
allein auf dem Flughafen investiert, oft machten Männer aus der Umgebung
Karimows hier ihren Schnitt. Für Bauvorhaben zum Beispiel zeichnete die
Firma des früheren Vizepremiers Rustam Junussow verantwortlich - dessen
Rechnungen sollen in der Regel um 15 Prozent überhöht gewesen sein“.[17]
Hinzu kommen jährliche Mieten für das Drehkreuz in Termes, sowie
sogenannte Ausgleichszahlungen für den „Transit von Personal und Gütern
durch das Hoheitsgebiet der Republik Usbekistan und die Nutzung des
Verkehrsumschlagknotens am Flughafen Termez“ seit 2010 (s. Tabelle – nur
im pdf).[18] Ob in dem Abkommen, das beim NATO-Gipfel verhandelt wurde,
Summen festgelegt wurden, ist unklar.
Truppen für den Abzug
Würde ein Großteil des Abzugs über die zentralasiatischen Länder
erfolgen, so müssten Material und Soldaten über Nordafghanistan an die
Grenze gebracht werden, d.h. sie müssten durch das Gebiet, in dem die
Bundeswehr „Führungsnation“ ist. Was das bedeuten würde, wird auf dem
i.d.R. gut informierten Blog „Soldatenglück“ kommentiert: „Diese
Transit-Region muss nun besonders gesichert werden, die Konvoi-Routen
und die 75 Kilometer lange Eisenbahn-Verbindung Mazar-i
Sharif/Afghanistan – Termez/Usbekistan könnte zum genuinen Angriffs-Ziel
der Taliban werden. Die Exit-Protection muss federführend die Bundeswehr
übernehmen und wer den Abzug sichert, muss seine Kampfkraft und
Durchhaltefähigkeit lange und teuer beibehalten und geht als letzte
Kampftruppe raus.“[19]
Doch auch ohne den Abzug der anderen NATO-Truppen zu bewachen, wird der
Abzug der Bundeswehrsoldaten ein „teures und gefährliches“[20]
Unterfangen werden. Daher fordert u.a. Elke Hoff,
verteidigungspolitische Sprecherin der FDP, ein eigenes Mandat – mitsamt
temporärer Erhöhung der Truppen und rechnet vor: „Wir haben das Beispiel
der Niederländer, die 2010 aus Afghanistan abgezogen sind. Die haben für
die Rückverlegung von 2000 Soldaten 600 bis 800 Kräfte gebraucht. Wenn
man das hochrechnet auf uns [4800 Bundeswehrsoldaten in Afghanistan]
kann man sich vorstellen, was dahintersteckt“.[21] Mit dieser Meinung
steht Hoff nicht allein da, auch de Maizière macht entsprechende
Andeutungen in einem Interview vor dem Gipfel in Chicago[22].
Die NATO zieht also noch lange nicht aus Afghanistan ab, es steht zu
befürchten, dass die Stärke der deutschen ISAF-Truppe sogar noch erhöht
werden könnte. Und auch wenn Ende 2014 tatsächlich ein Großteil der
NATO-Truppen abgezogen sein wird, bedeutet dies keinesfalls das Ende des
Krieges in Afghanistan, denn die afghanischen Sicherheitskräfte werden
ihn – bezahlt und angeleitet durch die NATO-Staaten – weiterführen.
ANMERKUNGEN
[1] Thomas Ruttig: Withdrawal in 2014? Myths and realities, Afghanistan
Analysts Network, 02.04.2012.
[2] ARD: Tagesschau vom 21.05.2012.
[3] Rolf Clement: Gipfel in Zeiten des Umbruchs, Deutschlandradio,
18.05.2012.
[4] Thomas Ruttig: Der zweite Irak, taz-online, 22.05.2012.
[5] Nato sichert erste Route für Afghanistan-Abzug, Spiegel, 20.05.2012.
[6] Panetta to confront Pakistan at NATO summit on transport costs, Los
Angeles Times, 19.05.2012.
[7] Das “South Asia Terrorism Portal” führt Angriffe auf die Versorgung
der NATO-Truppen in Pakistan auf. Diese haben in den letzten Jahren
deutlich zugenommen: 2008: 8 Angriffe; 2009: 25; 2010: 99; 2011: 113;
Quelle: NATO related attacks in Pakistan, URL: http://www.satp.org.
[8] John F. Tierney: Warlord, Inc. Extortion and Corruption along the
U.S. Supply Chain in Afghanistan, Juni 2010
[9] Pakistanis protest against US drone strikes, Al Jazeera, 22.05.2011.
[10] Militärstandorte von denen Flüge nach Afghanistan ausgehen – vor
allem nach Bagram und Kandahar – befinden sich vor allem auf der
arabischen Halbinsel (Katar, VAE, Oman, Kuweit), in der Türkei und in
Georgien, sowie in den zentralasiatischen Staaten.
[11] De Maizière: NATO-Nachschubrouten werden bald geöffnet, Stern,
21.05.2012.
[12] New Strategic Security Initiative: Afghanistan Policy Page,
21.04.2010, URL:
http://newstrategicsecurityinitiative.org/wp-content/uploads/2010/01/P29-Afghan-Policy-Page-Afghanistans-Borders.pdf.
[13] Lora Lumpe: U.S. Military Aid to Central Asia 1999-2009: Security
Priorities Trump Human Rights and Diplomacy, Central Eurasia Project,
Occasional Paper Series N°1, October 2010.
[14] Uzbekistan: Military Aid to Tashkent Would Help Protect NDN - State
Department, Eurasianet 28.09.2011, URL:
http://www.eurasianet.org/node/64237.
[15] Human Rights Watch: “Ohne nachzufragen”. Geheimdienstliche
Zusammenarbeit mit Ländern, in denen gefoltert wird, Juni 2010.
[16] Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE: Die zukünftige Rolle des Bundeswehrstützpunkts Termes
(Usbekistan), BT-Drs: 16/1759, 06.06.2008.
[17] Christian Neef: Usbekistan - Der Blutsäufer von Taschkent, 21.07.2006.
[18] Die Bundesregierung veröffentlichte diese Information in einer
Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Grünen-Abgeordneten Viola von
Cramon (BT-Drs. 17/5638). Einige Wochen später wurde die Information
nachträglich als „Verschlusssache“ eingestuft und von der Homepage des
Bundestages genommen. Sie ist aber weiterhin hier zu finden:
http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Bundeswehr/BT1705638-Auszug.pdf.
[19] Exit-Protection – Rolle der Bundeswehr in Afghanistan im
ISAF-Abzugsszenario, Soldatenglück, 21.05.2012.
[20] Abzug aus Afghanistan – Teuer und gefährlich, RP-online, 14.05.2012.
[21] "Brauchen zusätzliche Soldaten, die Abzug sichern", Berliner
Zeitung, 02.05.2012.
[22] „Der Einsatz in Afghanistan endet 2014“, The European, 16.05.2012.
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