Montag, 18. November 2019

Lyrik als kulturelles Gedächtnis (Klaus Nilius)


Der Buchhändler in der kleinen Stadt kannte meine Vorliebe für literarische Entdeckungen. Und so machte er mich, den 17-jährigen Gymnasiasten, 1959 auf ein gerade erschienenes Taschenbuch aus der Reihe rororo Klassik aufmerksam.

Sein romantisch-melancholischer Titel brachte eine Saite zum Klingen: »menschheitsdämmerung – ein dokument des expressionismus, neu herausgegeben von kurt pinthus«. Größer ging es ja nicht mehr. Die »Götterdämmerung« der Nibelungen war bekannt. Jetzt aber ein Abgesang auf die Menschheit?

Was ich beim Kauf nicht wusste: dass ich ein wahrhaft epochales Werk in Wiederauflage in den Händen hielt. Was ich nicht kannte: seine 40-jährige Geschichte. Erst nach und nach erschloss sich mir der zwischen den Buchdeckeln verborgene lyrische Schatz.

Zur 100. Wiederkehr der Erstveröffentlichung hat der Ernst Rowohlt Verlag im Oktober die Lyrik-Sammlung als hochwertige Ausgabe mit bedrucktem Vorsatz und transparentem Schutzumschlag erneut vorgelegt. Eine »der erfolgreichsten Lyrikanthologien der deutschsprachigen Literaturgeschichte – vielleicht die folgenreichste überhaupt« erhielt damit wieder das Format, das ihr gebührt, und hat vom Äußeren her nichts mehr gemein mit dem »schnöden« Taschenbuch des Jahres 1959.

Mit der aktuellen Erinnerungsarbeit begann im Februar 2019 die von Norbert Wehr herausgegebene Literatur-Zeitschrift Schreibheft mit ihrem 60-seitigen Sonderteil »100 Jahre Menschheitsdämmerung«, zusammengestellt von dem in Berlin lebenden Schriftsteller und Übersetzer Konstantin Ames. Eröffnet wird der Schwerpunkt mit demselben Gedicht, das 1919 auch am Anfang der Sammlung stand:

Jakob van Hoddis  Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu erdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Es war niemand anderes als Johannes R. Becher, seit 1954 Minister für Kultur in der DDR, der 1957, ein Jahr vor seinem Tod, in einem Bändchen mit dem Titel »Das poetische Prinzip« einen Lobgesang auf diese Zeilen veröffentlichte: »Meine poetische Kraft reicht nicht aus, um die Wirkung jenes Gedichtes wiederherzustellen, von dem ich jetzt sprechen will. Auch die kühnste Phantasie meiner Leser würde ich überanstrengen bei dem Versuch, ihnen die Zauberhaftigkeit zu schildern, wie sie dieses Gedicht […] für uns in sich barg.«

Das Schreibheft druckt Bechers »heftige Eloge« (Ames) ab, ungewöhnlich vielleicht für alle, die Becher nur als Kulturfunktionär kennen, der, wie es in einem DDR-Lexikon heißt, »sein gesamtes Schaffen bewußt in den Dienst der proletarischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus stellte«. Aber: Becher begann mit expressionistischer Lyrik, und die Anthologie veröffentlicht 14 Texte von ihm, inklusive der »Hymne auf Rosa Luxemburg«.

Zweiundzwanzig Dichter und eine Dichterin, die Protagonisten des Expressionismus, sind in dieser Sammlung der Avantgarde-Lyrik vertreten: Becher, Benn, Däubler, Ehrenstein, Goll, Hasenclever, Heym, Heynicke, van Hoddis, Klemm, Lasker-Schüler, Leonhard, Lichtenstein, Lotz, Otten, Rubiner, Schickele, Stadler, Stramm, Trakl, Werfel, Wolfenstein, Zech.

Kurt Pinthus, der Herausgeber, erläuterte 1919 in seinem Vorwort die Intention: »Dies Buch nennt sich nicht nur ›eine Sammlung‹. Es ist Sammlung!: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit.«

Pinthus, 1886 geboren, floh 1937 in die USA. Seine Werke waren seit 1933 vom NS-Regime verboten. Erst 1967 kehrte er nach Deutschland zurück. Bis zu seinem Tod im Jahr 1975 arbeitete er im Deutschen Literaturarchiv des Schiller-Nationalmuseums in Marbach am Neckar. Er war der bedeutendste Vermittler des literarischen Expressionismus in Deutschland. In der Heilbronner Straße 2 in Berlin-Schöneberg, wo Pinthus von 1926 bis 1932 lebte, befindet sich eine Hinweistafel auf den Schriftsteller und Literaturkritiker.

Für uns Nachgeborene wurde seine »Menschheitsdämmerung« zum kulturellen Gedächtnis.

»Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung«, herausgegeben von Kurt Pinthus, mit einem Nachwort von Florian Illies, Rowohlt Verlag, 423 Seiten, 34 € – Schreibheft – Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Norbert Wehr, Nr. 92, Februar 2019, 15 €

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen