Sonntag, 16. Juni 2013

Nicht nur Gemurmel (Heinz Kersten)

Auf der (Volks)Bühne vor wechselnden bunten Wänden drei Frauen und acht Männer in wechselnden Kostümen, die 70 Minuten lang in wechselnden Artikulationen choreographisch mal einzeln, mal im Chor zu Ingo Günthers musikalischem Rahmen am Marimbaphon nur immer ein Wort sprechen, brüllen, flüstern, schreien: »Murmel Murmel«. Die Vorlage lieferte der Fluxus-Künstler Dieter Roth, Regie führt Herbert Fritsch, am gleichen Ort von Anfang der 1990er Jahre bis 2007 unter Castorf als Schauspieler tätig, seitdem an mehr als einem Dutzend Theatern erfolgreicher Regisseur und 2011 bereits mit seinen Inszenierungen »Nora oder ein Puppenheim« und »Der Biberpelz«, 2012 mit »Die spanische Fliege« zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 2013 war »Murmel Murmel« wiederum der originellste Beitrag (s. auch Ossietzky 19/12). Als solchem Paroli bieten konnte nur die Produktion »Disabled Theater« des französischen Choreographen Jérôme Bel mit dem Zürcher Theater HORA. Behindertes Theater: Elf Akteure im Alter von 18 bis 51 Jahren spielen sich selbst. Alle sind »geistig behindert«, aber was heißt das schon. Zumindest sieht man es den meisten nicht an, wie vielleicht die »Normalos« im Parkett des HAU 1 erwartet hätten. Früher hieß es Hebbel-Theater, und mit diesem Haus in der Stresemannstraße verbinden sich für mich die eindrücklichsten Nachkriegstheatererinnerungen: »Wir sind noch einmal davongekommen« (welch symbolischer Titel!) von Thornton Wilder mit Joana Maria Gorvin unter Jürgen Fehlings Regie, Sartres »Fliegen« und Fritz Kortners erster Auftritt nach Rückkehr aus der Emigration als Strindbergs »Vater«. Zwölf Jahre zuvor war ein ganzes Volk geistig behindert, und noch heute sind es wieder Neo-Nazis, Antisemiten, fremdenfeindliche Rassisten. Beim Theatertreffen gab es Diskussionen, ob die Gäste aus der Schweiz nicht »vorgeführt«, die im Alltag oft Ausgegrenzten »ausgestellt« würden. Einer der Darsteller der Performance, Damian Bright, ironisierte es im Laufe ihrer Bühnenpräsenz selbst: Seine Mutter habe das Stück als »eine Art Freakshow« empfunden, aber eigentlich habe es ihr »sehr gut gefallen« . Dirigiert wird es von Chris Weinheimer, der an der Seite hinter einem Mischpult sitzt und den fünf weiblichen und sechs männlichen Beteiligten Anweisungen gibt und sie übersetzt. So wird jeder erst einmal stumm dem Publikum konfrontiert. Bei einem zweiten Auftritt stellen sie sich mit ihrem Namen, Alter und Beruf – jeder antwortet »Schauspieler« – vor, um schließlich im 3. Akt, manchmal durch ausführliche Reflexion die Dramaturgie aufbrechend, über ihre Behinderung zu sprechen. Da sitzen sie auf Stühlen aufgereiht, wo sie unterschiedlich unter sich locker auf die Situation reagierend darauf warten, vom Moderator aufgerufen zu werden. Das geschieht zuletzt mit der Aufforderung, zu ihrer Lieblingsmusik ein Solo zu tanzen. Was jeweils mit solcher Gelöstheit und Perfektion geschieht, das der Zuschauer spätestens hier mögliche anfängliche Vorbehalte gegenüber einer ungewöhnlichen Vorführung vergißt und am liebsten selbst auf die Bühne springen möchte. Tanz als Befreiung – in einem ganz anderen authentischen Sinn als vielleicht beim Technobeat in einem Club-Schuppen. Die verdiente Überraschung kam am Ende des Theatertreffens: Eine kleine rothaarige Frau aus dem HORA-Ensemble, Julia Häusermann, 21, die zu Michael Jacksons »They Don’t Care About Us« (fast ein passender symbolischer Titel) Jérôme Bels Choreographie-Intentionen gefolgt war und sich mit »I have Down’s syndrome and I’m sorry« vorgestellt hatte, erhielt den Alfred-Kerr-Darstellerpreis. Allein-Juror Thomas Thieme begründete in der Laudatio seine Wahl: »Da sah ich plötzlich den Nachwuchs, die Zukunft: ganz selbstvergessen, von anarchischem Humor, stiller Aggressivität und so unendlich traurig.« Auf andere Weise traurig stimmte mich nach den hier zuvor als beste Beiträge rezensierten einer der schlechtesten, der doch eigentlich besondere Aktualität versprach: »Die heilige Johanna der Schlachthöfe«. Aber Sebastian Baumgarten, der diesen Brecht am Schauspielhaus Zürich inszenierte, hatte dessen V-Effekt, sprich: Verfremdung, wohl falsch verstanden, denn er machte aus dem kapitalismuskritischen Stück ein Western-Musical. Die »Schwarzen Strohhüte« von der Heilsarmee, mit denen Johanna (Yvon Jansen) die Arbeiter missionieren möchte, tragen riesige mexikanische Sombreros, und die Arbeiter sind Karikaturen, wie einer durch Pelzmütze als »Russe« ausgewiesener. Frau Luckerniddle (Isabelle Menke), deren Mann ins Räderwerk einer Maschine geriet, soll wohl schokoladenbraun geschminkt mit großen Lippen und ausgestopftem Po das Klischee einer Immigrantin bedienen. Die konkurrierenden Fleischfabrikanten bewegen sich in einem Saloon wie Cowboys und werden zuletzt in blauen Ganzkörperanzügen entpersonalisiert. Das ganze Spektakel beweist wieder einmal die vielzitierte »durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers«. Ein Merkmal des diesjährigen Theatertreffens, das vielfach sein 50. Jubiläum feierte, war die Dominanz bekannter literarischer und dramatischer Vorlagen. Das begann mit Michael Thalheimers gewohnt karger Interpretation der »Medea« des Euripides vom Schauspiel Frankfurt mit einer faszinierenden Constanze Becker in der Titelrolle und endete mit Sebastian Nüblings kaum überzeugender Wiederentdeckung eines frühen Tennessee-Williams-Stücks über Außenseiterhatz in einer Kleinstadt, »Orpheus steigt herab« von den Münchner Kammerspielen. Deren hundertjährigem Jubiläum hat Elfriede Jelinek einen ihrer selbstverliebten Texte gewidmet: »Die Straße. Die Stadt. Der Überfall«. Es geht um Münchens Mode-Meile, die Maximilianstraße, an der auch die Kammerspiele liegen und Rudolph Moshammer seine Boutique hatte, der 2005 von einem Strichjungen ermordet wurde. Hier hat er zuletzt noch einmal in Gestalt von Benny Claessens in perfekter Maske gemeinsam mit der brillierenden Sandra Hüller einen Auftritt. Ein bißchen Konsumkritik war auch dabei. Regie führte Kammerspiel-Intendant Johan Simons, der dem Haus aber bald wieder den Rücken kehren wird. Gewichtiger hätte ein Beitrag des Hamburger Thalia Theaters werden können, aber Luk Percevals mehr als vierstündige Bühnenfassung von Hans Falladas Roman »Jeder stirbt für sich allein« zerfasert unübersichtlich in zu viele Details, wobei das Ehepaar Quangel mit seinem einsamen Widerstand der Verteilung von Hitler anklagenden Karten erst am Ende wieder ins Zentrum rückt. Zuvor bewegen sich um einen großen Tisch als einzigem Requisit viele kleine Leute und Gestapo-Chargen, die ein Panorama der Gesellschaft im NS-Staat bilden sollen, aber fast zu Statisten einer Comedy werden, die sich immer wieder hinter Heil-Hitler-Grüßen verstecken (s. Ossietzky 22/12). Bewundernswert gelang dagegen Sebastian Hartmann in einer Koproduktion des von ihm noch geleiteten Centraltheaters Leipzig mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen das eigentlich unlösbar erscheinende Experiment, Lew Tolstois Mammut-Epos »Krieg und Frieden« in fünf Stunden auf die Bühne zu bringen. Voraussetzung war, die knapp zweitausend Romanseiten nicht chronologisch abzuarbeiten, sondern in Motive aufzulösen mit unterschiedlichen Rollenzuweisungen, mal in intimem Dialog, mal chorisch akzentuiert. Zwei den ganzen Bühnenraum einnehmende kippbare Platten ermöglichen wechselnde bildkräftige Arrangements. Schade nur, daß das vierzehnköpfige Ensemble zuletzt den starken Eindruck kaputtmacht, indem es unter ohrenbetäubendem Krach minutenlang per Video in einer Art Sarg auf das Publikum zurast und Schauspieler schließlich von der Bühne ins Parkett hinabsteigen und dort mit Zuschauern ins Gespräch zu kommen versuchen – selbstverständlich vergeblich. Schlagen wir einen Bogen zum enthusiasmierten Anfang und enden positiv. Einen Abend ganz großen entfesselten Theaters pur brachte Karin Henkel mit Gerhart Hauptmanns »Die Ratten« vom Schauspiel Köln. Auf schwarzer Bühne war nur am Rande der immer wieder Verkleidungen ermöglichende Kostümfundus vom abgehalfterten Theaterdirektor Hassenreuter und ein fahrbares Gestell als Wohnküche der Familie John. Aus anfänglicher Komödie mit viel Geschrei und Theaterblut wird zunehmend die Tragödie der um »ihr« der polnischen »Putze« Pauline Piperkarcka (Lena Schwarz) abgekauftes Kind kämpfenden Frau John (Linda Beckmann). Vom überkommenen Naturalismus abstrahiert, gehört der Abend ganz den in wechselnden Rollen glänzenden Schauspielern bis hin zu Michael Weber als Schutzmann mit preußischer Pickelhaube und Jennifer Frank, die als Selma Knobbe ebenso überzeugt wie in ihrer Verwandlung zu einem täuschend ähnlich bellenden Hund. Nicht zu vergessen Kate Strong in gleich drei Rollen, aber vor allem mit einer nach der Pause an der Rampe improvisierten Solonummer in sprudelndem Englisch. So sehr man jedes Jahr mit der Kritikerjury über Fehlentscheidungen bei der Auswahl der »zehn bemerkenswerten Inszenierungen« hadert – auch nach fünfzig bewegten Jahren möchte man das Theatertreffen als traditionelle Institution im Berliner und deutschen Kulturleben nicht mis

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