Das Land leidet unter der Willkür seiner Soldaten und Polizisten. Die Aufklärungsquote tendiert gegen null.
Süddeutsche Zeitung,
22. April 2018
Auf einer Landstraße nahe der
nordmexikanischen Grenzstadt Nuevo Laredo fuhr am Morgen des 25. März ein Auto, in dem ein junges
Ehepaar mit seinen drei Töchtern saß. Die Familie war auf dem
Heimweg, kam aber nie an: Gegen 2:20
Uhr begann eine Spezialeinheit der mexikanischen Marine, das
Auto von einem Hubschrauber aus zu beschießen. Die Mutter, 28, sowie zwei Mädchen, vier und sechs
Jahre alt, waren sofort tot. Nachdem die Armee die Attacke
zunächst geleugnet hatte, räumte sie zwei Wochen später ihre
Verantwortung für den Vorfall ein, in den "umstandsbedingt"
ein Zivilfahrzeug verwickelt worden sei. Tenor: Es handelt
sich um einen Kollateralschaden im Krieg gegen die Drogen, tut
uns leid, Fall erledigt.
Die angeblichen Kollateralschäden dieses Krieges aber sind
seit vielen Jahren größer als das Leid durch die Drogen
selbst. Seit der ehemalige Präsident Felipe Calderón 2006 das Militär in die Schlacht gegen
die Kartelle schickte, sind in Mexiko mehr als
200 000 Menschen getötet worden,
überwiegend Zivilisten, die zur falschen Zeit am falschen Ort
waren, wie die Familie aus Nuevo Laredo. Dass die
Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, ist nicht zu
erwarten. In Mexiko, dem Land der Straflosigkeit, tendiert die
Aufklärungsquote in solchen Fällen gegen null.Die Strategie, innere Sicherheit mit dem Militär zu gewährleisten, ist offensichtlich gescheitert. 2017 war das blutigste Jahr in dem seit elf Jahren andauernden mexikanischen Drogenkrieg: ein Mord etwa alle 18 Minuten. Nicht nur die Drogenkartelle sind für diese Verbrechen verantwortlich, sondern auch jene, die sie eigentlich verhindern oder aufklären sollten: Polizisten und Soldaten. Die private Organisation Deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko spricht von einer "strukturellen Gewalt, die sich in einem tödlichen Zusammenwirken von staatlichen Polizeikräften, dem Militär und der organisierten Kriminalität ausdrückt." Zu dieser fatalen Komplizenschaft gehören auch korrupte Lokalpolitiker sowie Teile der Justiz.
Ein Hubschrauber feuert auf das Auto einer Familie mit drei Kindern
Seit 2006 wurde in sieben Staaten, in denen die Mordrate besonders hoch ist, verstärkt die Armee mit klassischen Polizeiaufgaben betraut. Laut einer aktuellen Studie nahm die Gewalt in sechs dieser Staaten seither deutlich zu. Ein anschauliches Negativbeispiel ist die Region Guerrero am Pazifik, wo Sicherheitskräfte mit Waffengewalt gegen Zivilisten vorgehen, etwa gegen streikende Lehrer oder Studenten. Vor dreieinhalb Jahren verschwanden dort 43 Lehramtsschüler in Ayotzinapa spurlos. Ihre Leichen wurden wohl verbrannt und auf einer Müllkippe verscharrt. Der Fall sorgte weltweit für Entsetzen, aber die Hintergründe sind bis heute unklar, vor allem die Rolle des Militärs und der Polizei, die auch Waffen aus Deutschland verwenden.http://www.sueddeutsche.de/politik/mexiko-im-staat-der-straflosigkeit-1.3955165
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