Freitag, 7. Dezember 2012

Mitteilung des Gefährten Mario aus dem mexikanischen Knast

Mario López (Tripa) wurde Ende Juni von einem Sprengsatz, der in seinem Rucksack explodierte, schwer verletzt und befindet sich jetzt (nach einem Krankenhausaufenthalt und Hauttransplantationen) im mexikanischen Knast, von wo aus er sich regelmäßig der Außenwelt mitteilt. Als ich die jüngsten Nachrichten in Fernsehen und Zeitung sah, bemerkte ich eine Folge von Ereignissen, die vielleicht jedes für sich genommen nicht von großer Bedeutung sind, die uns aber, zusammen und aus einer Konfliktperspektive gesehen – trotz der politischen Diskrepanzen -, ein breites Panorama eines stattfindenden sozialen Kriegs liefern, eines fortschreitenden Konflikts, dessen Kontrolle sich jedes Mal ein bisschen mehr der staatlichen Macht entzieht. Beginnend mit einer Nachricht vom letzten Donnerstag, wenn ich mich nicht irre, als eine Gruppe Vermummter die Vertretung des Bundesstaats Michoacán in Mexiko-Stadt stürmte und die Büros für eine gute Weile besetzt hielt; letzte Woche blockierte eine Gruppe von ca. 50 Personen mit Kapuzen und cohetones (zu Raketengeschossen umgebaute Feuerwerkskörper, Anm. d. Ü.) die Avenida Insurgentes (eine der Hauptverkehrsstraßen Mexiko-Stadts, Anm. d. Ü.) auf Höhe des Bombilla Parks – es gab einen Zusammenstoß mit der Polizei, der direkt und live übertragen wurde; eine Woche vorher berichteten die Medien über Zusammenstöße von “normalistas” (Lehramtsstudierende an speziellen Schulen mit linker/marxistischer Ausrichtung, Anm. d. Ü.) und der Polizei an etlichen Orten in Michoacán; die “normalistas” errichten seit einiger Zeit Blockaden und eignen sich als Druckmittel mehrere Busse an. Die Übertragungen zeigten die Zusammenstöße mit dem Einsatz von Tränengas auf der einen und Molotovcocktails auf der anderen Seite. Viele Autobusse wurden angezündet. Auch wurden zwei Bullenautos angezündet und es gab 100 Verhaftete, von denen nur acht inhaftiert wurden. Vorher gab es einen Bericht über drei brennende Polizeiautos an unterschiedlichen Orten in Mexicali, Baja California, scheinbar entzündet durch Molotovcocktails. Im September berichteten die Nachrichten über die stattgefundenen Aktionen während der Woche der Solidarität mit Gefangenen im Sozialen Krieg. Die Nachrichten erwähnten einige der Bekenner_innenschreiben, ausdrücklich Bezug nehmend auf die Aktionen – angezündete Polizeiautos, zerbombte Banken, Angriffe mit Feuerwaffen auf die Polizei, etc. -, die als “Protest” gegen die Einsperrung von Anarchist_innen in Mexiko und anderen Ländern stattfanden. Es wurde auch bemerkt, dass diese Aktionen eine Antwort auf die als “repressiv” gesehenen Handlungen gegen ein angenommenes Netzwerk internationalen, anarchistischen Terrors darstellen. Diese Antwort ist als eine auf internationalem Niveau zu verstehen, was ein unmissverständliches, qualitatives Anwachsen im Kampf gegen die Macht darstellt. Eine notwendige Antwort auf die Angriffe der Regierung auf Anarchist_innen, Nihilist_innen, Libertäre, Kämpfer_innen und soziale Rebell_innen, die auf eine Art und Weise eine Gefahr für die Macht und die Gesellschaften mit ihrem Norm- und Wertesystem darstellen. Eine antiautoritäre Antwort, die viel Kraft, Energie und Unterstützung gibt. Jetzt will uns der Governeur von Michoacán glauben machen, dass diese von ihm so genannten “ultra Radikalen” nicht in Michoacán Ansässige sind, sondern Gruppen außerhalb des Bundesstaates und der “normalista”-Schulen angehören. Laut seiner Aussage handelt es sich sowohl um Militante der Oppositionsparteien, als auch um Angehörige sozialer Gruppierungen oder besser, um “ultraradikale Elemente” aus Mexiko-Stadt oder Angehörige der “Tenochtitlan” genannten Gruppe (die gleichen “ultra Radikalen” aus Mexiko-Stadt, die dieser nicht existenten Gruppe angehören, von der sie sagen, dass sie die Büros der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft mit Sprengstoff angegriffen haben? – Aktionen, derer sie mich versuchen anzuklagen? Oder saugen sie sich jetzt aus den Fingern, dass die “Radikalen” des Oaxaca-Konflikts von 2006 jetzt nach Michoacán gezogen sind, um dort ein Klima der Instabilität zu verbreiten?). Die Regierung versucht um jeden Preis ihre Reaktionen angesichts eines Konflikts, der ihr “aus den Händen geglitten” ist, zu rechtfertigen. Meiner persönlichen Lesart nach formen all diese Ereignisse und Konfrontationsformen – von den Bomben bis zu den Barrikaden – Teil von notwendigen Aktionen, die das Anwachsen eines antiautoritären Bewusstseins und einer beständigen Haltung darstellen, obwohl uns die Macht das gerne als “Störungen im System” präsentieren würde. Im spezifischen Fall von Mexiko-Stadt richten sich alle Angriffe gegen den angenommenen “sozialen Frieden”, den die sozialdemokratische Regierung uns zu verkaufen versucht. Gemäß der Logik der Herrschenden müssen marginale Viertel dann saubergekehrt werden, wenn wir – mit all unserer unbestreitbaren Kritik an freiwilliger Knechtschaft – erkennen müssen, dass diese Menschen nicht mehr machen, als ihren Lebensraum zu verteidigen. Zufällig befinde ich mich vor dem gleichen Gericht, wie die 20 Typen, die nach den Ausschreitungen in Tepito (einer der “gefährlichsten” Bezirke Mexiko-Stadts, Anm. d. Ü.), die einen Tag nach meiner Festnahme stattfanden, festgenommen wurden; und wenn ich ihre Geschichten höre, wird mir klar, dass das nicht mehr war als ein Akt der Selbstverteidigung gegen die tagtägliche Enteignung ihrer Leben; eine verdientermaßen gewalttätige Antwort auf die von der Polizei verübte tagtägliche Gewalt. Deswegen sehen sie sich, genau wie ich mich, mit der Anklage “Angriff auf den öffentlichen Frieden” konfrontiert, außerdem versuchter Mord an Polizisten. Anklagen, die eine Haftstrafe zwischen sieben und 47 Jahren bedeuten. Was wollen sie damit erreichen? Ein Exempel statuieren? Ohne Zweifel, und die Distanz während, erinnert mich das an die Ausschreitungen in den französischen Banlieus von Paris, schön und viel kritisiert, aber wenig verstanden. All diese Konfliktmomente, handelt es sich dabei um politisierte Aktionen oder nicht, zeigen uns nicht nur die Nicht-Existenz dieses Systems des angenommenen sozialen Wohlstands auf, sondern auch, dass, wenn es denn existieren würde, wir gleichermaßen dagegen ankämpfen würden; da wir erkennen, dass die Macht, die Herrschaft der eigentliche Feind von all jenen ist, die sich die totale Freiheit ersehnen. Aber trotz des drohenden Kontrollstaats gibt es jene, die sich nicht einschüchtern lassen, die bei Tag oder Nacht, allein oder gemeinsam, mit Feuer, Feuerwerk, Blockaden, Bomben oder Feuerwaffen klarmachen, dass das nicht das Leben ist, das wir wollen, dass dieses System – zumindest aus unserer Sicht – total zerstört werden muss. Ihr verdammter sozialer Frieden ist ein Mythos, den sie uns aufdrücken wollen, es existiert einzig und allein der Konflikt. Der vom Staat aufgedrückte Frieden ist der von Grabstätten, mit dem sie versuchen, den antiautoritären Kampf auszuschalten. Die aufständischen Aktionen machen uns jedoch klar, dass es notwendig ist, mit “etwas mehr als Worten” weiterzumachen, dass der Konflikt sich ausbreiten muss. Wir müssen den Schritt vom “unbewussten” zum bewussten und generalisierten Aufstand tun, Attacken propagieren, mehr Barrikaden errichten, die Wirtschaft zerstören, den Handel angreifen, Dutzende, Hunderte, Millionen von Bezugsgruppen bilden. Es ist klar, dass wir die totale Kontrolle über unsere Leben und unsere Räume erlangen müssen, und um das zu erreichen gibt es keinen anderen Weg als den sozialen Krieg. Diese permanente Konflikthaltung, die ich betone, als Teil unserer Persönlichkeit und Individualität, ist ein Gegenwert, der sich entfacht, wenn er mit den Werten des Systems konfrontiert wird, und der sich Tag für Tag konstruiert, wenn wir uns selbst als Individuen hinterfragen und uns/ihn mit der konkreten Realität konfrontieren, eine verheerende, erschütternde Kritik am System aufrechterhalten, uns ein für allemal unsere eigenen Leben wiederaneignen. Zu leben, zu sein, auf eine andere Art Verbindungen einzugehen, im Konflikt mit dem Existenten bleiben, jeden Moment zu revolutionieren, ein “Ai ferri corti con la vita!”. Aber wir müssen die permanente Konflikthaltung auch in einen konstanten, heftigen Angriff gegen das Herrschaftssystem übersetzen. Diese Spannung und die tägliche Konfrontation gegen ein System, das versucht, uns auf reine Handelsware zu reduzieren, diese konsequente Praxis ist – zumindest für mich – weit wesentlicher als die einfache, gelegentlich “Rebellion”, der gelegentliche Protest, die revolutionäre Pose. Es sind diese Momente der Konflikthaltung, die unseren Leben Ausdruck und Sinn verleihen. Diese permanente Konflikthaltung kann niemals vom Herrschaftssystem begriffen werden und noch weniger von den sich rekonstruierenden Machtzyklen erlangt werden, da sie das natürliche Gerüst, die Grundlage der Anarchie ist. Vom Moment unserer Geburt an enteignet uns der Staat unsere Leben und damit auch unsere Kritikfähigkeit und unsere natürliche Ressource der Selbstverteidigung; die Gewalt in ein exklusives Monopol der Macht verwandelnd, um es, wenn die Ausgestoßenen oder die sich selbst Ausschließenden es benutzen, “Terrorismus” zu nennen. Aktionen gegen das System, antiautoritäre Aktionen und permanenter Konflikt machen klar, dass Gewalt auch revolutionär ist und notwendigerweise angewendet werden muss, wenn wir uns der Staatsgewalt gegenübergestellt sehen. Companer@s, Schwestern und Brüder, hier im Knast – etwas eingeschränkt – habe ich keine andere Möglichkeit zum anarchistischen Kampf beizutragen, als die Agitation etwas anzustacheln, in diesem Sinne sind viele meiner Mitteilungen und Notizen zu verstehen. Für den Moment habe ich nichts weiter hinzuzufügen als enorme Grüße an Stärke und Solidarität an alle inhaftierten, anarchistischen Gefährt_innen in Mexiko und der ganzen Welt. Eine starke Umarmung und eine herzliche Einladung zum Weitermachen, nicht einen Schritt zurück. Agitation! Für die Anarchie! Für die Ausweitung des alltäglichen Konflikts! Für den individuellen Aufstand! Für den allgemeinen Aufstand! Nicht einen Millimeter zurück…9 mm in die Köpfe der Macht! Sozialer Krieg an allen Fronten! Mit Liebe und Anarchie, Mario Antonio López Hernández Anarchistischer Gefangener Reclusorio Preventivo Sur, Centro de Observación y Clasificación, Xochimilco, Ciudad de México. 29. Oktober 2012

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