Montag, 17. Dezember 2012
Türkei, ein neues Wirtschaftswunder?
Die türkische Wirtschaft und die Gewerkschaftsbewegung
Die türkische Wirtschaft und Außenpolitik wird zurzeit viel beachtet und gelobt, vor allem von den westlichen Staaten und Unternehmen. Sie sind vor allem von dem starken Wachstum begeistert. Mittlerweile ist das Land wirtschaftlich potenter als viele EU-Staaten, sitzt im auserwählten Kreis der G-20 Länder. Nach kurzem Einbruch 2009 mit minus 4,8 Prozent glänzt die Wirtschaft wie auch zuvor wieder mit hohen Wachstumszahlen.
Dabei hat die Bevölkerung in der Türkei wenig von diesem starken Wachstum.
Fast 35% der Bevölkerung leben knapp an der Armutsgrenze oder darunter. 43,7 Prozent der Einkommen bestehen aus abhängiger Beschäftigung, 20,5 Prozent sind Sozialleistungen und 20,2 Prozent aus selbstständigen Einnahmen. Nach Angaben des Statistikinstituts der Türkei, lag der durchschnittliche Pro-Kopf-Verdienst 2011 bei 22.630 Lira, also knapp 9.800 Euro pro Jahr. Nach den offiziellen Zahlen von 2008 bekommen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung 34,1% der Nationaleinkommen und die ärmsten 10 Prozent gerade mal 2%.
Fast die Hälfte der sozialversichert Beschäftigten beziehen den Mindestlohn, der nach den neuesten Erhöhungen 886,50 Türkische Lira beträgt, etwa 385 Euro, brutto. All diese Zahlen sagen jedoch wenig aus. Nach einer aktuellen Untersuchung der Gewerkschaftsdachverbandes DISK, muss ein Mindestlöhner, eine Mindestlöhnerin für eine Durchschnittsmiete 163 Stunden, für ein Kilogramm Fleisch 8 Stunden und für einen Kita-Platz für ein Kind 19 Tage arbeiten. Es ist davon auszugehen, dass die realen Zahlen noch erschreckender sind, denn in vielen Klein- und Kleinstunternehmen, bei Subunternehmern und in der Landwirtschaft arbeitet der Großteil der Beschäftigten unter noch schlimmeren Bedingungen.
Offiziell sinkt die Arbeitslosigkeit nie unter zehn Prozent, zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass jemand, der in der Woche eine Stunde bezahlter Beschäftigung nachgeht, nicht als arbeitslos gilt! Auch gibt es sehr große Unterschiede bei den Löhnen zwischen die Industriezentren und dem Land, bzw. zwischen großen Industrieunternehmen und Klitschen.
Seit der großen Krise in der Textilindustrie in den 2000er Jahren, als hunderttausende Beschäftigte ihre Arbeit verloren, wurde auch den türkischen Kapitalisten klar, dass sie nicht mit den Niedriglöhnen in Ost- und Südostasien konkurrieren können. So entstehen auch bei hohem Wirtschaftswachstum vergleichsweise wenig neue Arbeitsplätze in der Industrie, weil die Unternehmen zunehmend in Arbeitskräfte sparende Techniken investieren. Der Unternehmerverband für Automatisierungstechnik ENOSAD gibt das jährliche Wachstum seiner Branche vor der Krise 2009 mit 15 bis 20% jährlich an, 2010 mit immerhin schon wieder 10% bei einem aktuellen Umsatz von rund 1,2 Mrd. US-Dollar.
Leistungsbilanzdefizit, Konsum auf Pump
Der Haushalt des türkischen Staates wird nach Angaben des größten türkischen Kapitalverbandes TÜSAD fast zu 70 Prozent aus Verbrauchersteuern finanziert (der Durchschnitt der OECD Länder liegt bei 35%). Der Rest setzt sich aus Privatisierungserlösen und Steuern auf Einkommen zusammen. In den vergangenen Jahren wurde die Körperschaftssteuer von 30% auf 20% abgesenkt, der Spitzensatz bei der Einkommenssteuer von 40 auf 35%, der Eingangssteuersatz liegt bei 15 Prozent. Das türkische Finanzministerium geht davon aus, dass bis zu ein Viertel der Steuern hinterzogen wird.
Ein Großteil des Wirtschaftswachstums in der Türkei beruhte in der Vergangenheit und beruht auch heute auf inländischem Konsum. Natürlich waren es nicht die bescheidenen Löhne und Gehälter, die den Konsum ankurbelten. 2011 hat die Türkei mit fast 35 % das höchste Wachstum an Kreditvergaben aller Schwellenländer. Etwa 55 % aller Kredite in der Türkei werden an Menschen mit einem Einkommen von weniger als 1.200 US-Dollar pro Monat vergeben. Das Pro-Kopf-Kreditvolumen – also die Verschuldung jedes einzelnen – hat sich innerhalb von fünf Jahren verdoppelt. Die Gesamtverschuldung der privaten Haushalte bei Banken betragen 95,4 Milliarden Euro. Betrachtet man die niedrigen Einkommen der Arbeiterklasse, ein enorm hoher Schuldenberg.
Neben den kurzlebigen Konsumgütern und Pkws wurden mit den Krediten vor allem Immobilien finanziert. Die Bauindustrie war und ist neben der Telekommunikation und dem Einzelhandel der Sektor mit den größten Zuwachsraten. Im Januar 2012 vergaben die türkischen Banken nun um 27% weniger Kredite als noch vor einem Jahr. Gleichzeitig hat die Inflationsrate mit 10,6% im Januar 2012 den höchsten Stand seit Ende 2008 erreicht. Ob sich eine Immobilienblase wie vor wenigen Jahren in einigen westlichen Ländern nun auch in der Türkei ankündigt, kann man noch nicht sagen, doch ist im letzten Quartal 2011 und im ersten 2012 die Bautätigkeit zurückgegangen. Bei höheren Kreditzinsen werden die schon jetzt hoch verschuldeten Haushalte ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen können. Wie solide die viel gelobten türkischen Banken sind, wird sich dann zeigen.
Zum 100. Jahrestag der Republikgründung – 2023 – möchte die türkische Regierung gerne unter den wichtigsten zehn Industrienationen der Welt sein, so zumindest ihre Propaganda. Was gerne ignoriert wird ist, dass das Land viel mehr importiert als exportiert. Auch die Abhängigkeit vom ausländischen Kapitalzufluss ist sehr hoch. Solange alle glauben, dass die Kapitalanlagen in der Türkei weiterhin so hohe Profite abwerfen gibt es auch keinen Grund zur Beunruhigung.
Eine neue wirtschaftliche Rezession, wie die im Jahr 2008, wird aber die Türkei hart treffen, das Land ist durch sein produzierendes Gewerbe stark von Exporten abhängig. 2011 machten die Industriegüter über 90 Prozent der Exporte aus, die im Falle einer Krise einbrechen würden. Durch das hohe Leistungsbilanzdefizit hat die Türkei einen permanent hohen Finanzierungsbedarf. Natürlich trifft solche Länder, die in diesem Ausmaß abhängig sind, die zurückhaltende Kreditvergabe der internationalen Banken umso härter.
Gewerkschaften
Die Gewerkschaftsbewegung ist in der Türkei weiterhin im Niedergang. Grundsätzlich sind in der Türkei die in der Produktion Beschäftigten und die Beamten und Angestellten getrennt organisiert. Das liegt daran, dass in früheren Jahren nur die Arbeiterinnen und Arbeiter sich gewerkschaftlich organisieren durften. Die Kämpfe der Angestellten und Beamten haben mittlerweile ermöglicht, sich gewerkschaftlich zu organisieren, aber diesen Gewerkschaften werden noch immer das Streikrecht und Tarifverhandlungen verweigert.
Organisationsgrad der Gewerkschaften
Zurzeit geben die in der Produktion organisierten Gewerkschaften ihre Mitgliederzahlen mit 5,5 Million an, was ganz schön respektabel wäre. Aber die Zahlen der Regierung liegen weit darunter. Danach gibt es nur ca. 950.000 Gewerkschaftsmitglieder. Die türkischen Sozialversicherungen geben die Anzahl der der bei ihnen versicherten Arbeiterinnen und Arbeiter mit 11,5 Millionen an. Damit wären nur knapp 7,5 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Produktion organisiert. Die Kolleginnen und Kollegen schätzen den Organisationsgrad noch niedriger ein, ca. bei sechs Prozent, weil nicht alle Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie sozialversichert beschäftigt sind, damit nicht von den Statistiken erfasst werden und auch nicht Mitglied einer Gewerkschaft sein dürfen.
Diese großen Unterschiede bei den Zahlen haben in den repressiven türkischen Gewerkschaftsgesetzen ihren Ursprung. Nach türkischen Arbeitsgesetzen werden Beschäftigte, die z.B. in die Rente gehen, arbeitslos werden bzw. die Arbeitsbranche wechseln, nicht mehr als Mitglied in ihrer alten Gewerkschaft geführt, auch wenn sie ihre Beiträge weiterhin abführen. Und für das Arbeitsministerium zählt schlussendlich nur die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, die in den Gewerkschaften organisiert sind, die die Tariffähigkeit schon besitzen; das sind eben nur 950 Tausend Beschäftigte.
Nicht immer einfach zu erreichen: Die Tariffähigkeit der Gewerkschaften
Die heute noch gültigen Gewerkschaftsgesetze sind ein Geschenk der Putschisten an die Unternehmer. Sofort nach dem Putsch 1980 wurden die meisten Gewerkschaften verboten, die Streiks ausgesetzt und tausende Kolleginnen und Kollegen und Funktionäre verhaftet.
Bisher haben alle Parteien, die an die Macht kamen, entgegen ihren Versprechen nichts Grundlegendes an diesen Gesetzen verändert. Auch die Kolleginnen und Kollegen waren trotz aller Anstrengung bisher nicht in der Lage, diese Gesetze zu kippen. So sind Betriebs- und Berufsgewerkschaften weiterhin verboten, die Gewerkschaften müssen sich in der gesamten Branche organisieren. Die Branchen werden jährlich von der Regierung festgelegt – zurzeit sind es 28 Branchen. Streikrecht gilt nur für die in gewerblichen Betrieben Arbeitenden und dort ist es auch starken Reglementierungen unterworfen. Die Angestellten und Beamten dürfen zwar mittlerweile Gewerkschaftsmitglied sein, ihre Gewerkschaften haben aber die Tarifverhandlungen im Einvernehmen mit der Regierung und den Arbeitgebern (die immer identisch sind) zu führen.
Zudem müssen die „Arbeiter-Gewerkschaften“, so die Bezeichnung der Gewerkschaften des produzierenden Sektors in der Türkei, drei Kriterien erfüllen um tariffähig zu sein:
• Mindestens 50,1 Prozent der Beschäftigten eines Betriebes müssen in der Gewerkschaft organisiert sein
• Mindestens zehn Prozent der Kolleginnen und Kollegen einer Branche müssen Mitglied in derselben Gewerkschaft sein
• Die Beschäftigten müssen ihre Mitgliedschaft notariell beglaubigen lassen und diese muss diversen örtlichen und zentralen Behörden angezeigt werden.
Dieses bürokratisch aufwendige Verfahren existiert natürlich nur für Gewerkschaften, man kann alles Mögliche – von einer GmbH bis zur politischen Partei – einfacher gründen als eine Gewerkschaft.
Die AKP-Regierung bereitet zurzeit ein neues Gesetz vor, das wohl einige Änderungen bringen wird. Wann es aber im Parlament diskutiert und mit welchen Änderungen beschlossen wird, ist noch unklar.
Die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst
Besser sieht es mit dem Organisationsgrad der Beschäftigten im öffentlichen Dienst aus: Von 1.767.737 Beschäftigten sind nach Angaben der Regierung dort 1.023.362 Mitglieder einer Gewerkschaft, ca. 58 Prozent. Die größten Dachverbände der hier aktiven Gewerkschaften sind vor allem Memur-Sen, Kamu-Sen und der KESK.
Der Dachverband KESK, mit ca. einer halben Million Mitglieder ehemals der größte der drei, hat mittlerweile nur noch 220.000. Er versteht sich explizit als eine fortschrittliche, klassenkämpferische Gewerkschaft und hat elf Mitgliedsgewerkschaften. Ihr Niedergang hängt stark mit der konservativ-neoliberalen AKP-Regierung und der dieser sehr nahe stehenden Memur-Sen, der mittlerweile an die 400.000 Mitglieder hat, zusammen.
Der Druck auf die Beschäftigten sich in einer der Regierung wohlgesonnenen Gewerkschaft zu organisieren ist enorm. Es kann sich jede und jeder ausrechnen, was die Mitgliedschaft in einer „falschen“ Gewerkschaft bedeutet: schlecht bezahlte Stellen, den in der Türkei immer noch üblichen Strafeinsatz der Beschäftigten hunderte Kilometer vom Wohnort entfernt (trifft immer nur gewerkschaftlich aktive Kolleginnen und Kollegen!) oder bei der nächsten Entlassung bzw. Outsourcing mit dabei zu sein.
Dazu kommt die direkte Repression: zurzeit sitzen in Gefängnissen der Türkei 40 Kolleginnen und Kollegen alleine der KESK aufgrund unterschiedlichster Vorwürfe in Untersuchungshaft . Wann und ob sie freikommen ist ungewiss. Und auch wenn sie nach ein paar Jahren draußen sind, können sie in den Gewerkschaften keine Funktionen mehr übernehmen, weil sie „vorbestraft“ sind.
Es gibt aber auch ganz feste, hausgemachte Gründe für den Niedergang. So sind die Gewerkschaften traditionell einer der Austragungsorte innerlinker Fraktionskämpfe. Zum einen entstehen die starken, klassenkämpferischen Gewerkschaften durch den unermüdlichen Einsatz der kommunistischen, sozialistischen Kolleginnen und Kollegen, die auch durchaus Anerkennung, Respekt und die Mitgliedschaft der Beschäftigten gewinnen. Aber irgendwann arten die Fraktionskämpfe aus, es werden verschiedene oppositionelle Listen für die diversen Wahlen aufgestellt, es wird gegeneinander gekämpft, Bündisse gegen die andere Richtung geschlossen, die Funktionärsposten werden im Proporzverfahren, wer wie viele Anhänger wo hat, verteilt… Auch das ist einer der Gründe, warum KESK Mitglieder verliert.
Ausblick
Wann der gewerkschaftliche Niedergang zu einem Ende kommen wird, ist nicht abzusehen. Der Staat und das Kapital scheinen mit allen Mitteln eine unabhängige, starke Gewerkschaftsbewegung verhindern zu wollen. Die wirtschaftliche und politische Lage ist für Gewerkschaften sehr ungünstig. Es gibt einen enormen Arbeitskräfteüberschuss und die gesetzlichen Rahmenbedingungen sind sehr repressiv. Aber selbst die bescheidenen Rechte lassen sich in der Türkei vor bürgerlicher Justiz nicht durchsetzen. So gibt es Einschätzungen, dass 99 Prozent der arbeitsrechtlichen Prozesse zugunsten der Unternehmerseite entschieden werden. Dazu kommen natürlich die extralegalen Maßnahmen der Polizei und der Gendarmerie gegen Streikende oder die straffreie Entlassung ganzer Belegschaften wegen Gewerkschaftsmitgliedschaft. Auch der Krieg in Kurdistan und der Nationalismus in der Gesellschaft spalten die Belegschaften.
Die Gewerkschaften müssen in der Türkei einen heftigen Mehrfronten-Kampf führen. Dabei fehlen ihnen in der Parteienlandschaft weitgehend politische Partner. Teile der BDP (Bar ve Demokrasi Partisi – Partei des Friedens und der Demokratie), vor allem die Vertreter der sozialistischen und kommunistischen Linken wären dafür geeignet. Doch wird die BDP von vielen immer noch als „Kurdenpartei“ wahrgenommen – die sie zum Großteil auch sicherlich ist. Das stellt für viele Kolleginnen und Kollegen ein Hindernis dar. Der überwiegende Teil der Gewerkschaften tut sich schwer eine richtige Antwort auf die nationalistische Spaltung der Klasse zu geben und laviert stattdessen herum.
Aber dennoch werden über die Probleme der Gewerkschaftsbewegung sehr gute und qualifizierte Diskussionen geführt. Und auch in dieser schweren Lage gibt es immer noch tausende Kolleginnen und Kollegen, die in den Betrieben die schwierige Organisierungsarbeit auf sich nehmen. Trotz ihrer Zersplitterung und Uneinigkeit, trotz des Streikverbots, konnten die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst am 23. Mai dieses Jahres 1.500.000 Beschäftigte für einen ganztägigen Streik mobilisieren. Und schlussendlich gehen jedes Jahr am ersten Mai Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter, Angestellte auf die Straße um zu demonstrieren, weil der erste Mai nicht Feier- sondern Kampftag ist.
"Ihr sollt nicht streiken" - gesetzliche Streikverhinderung in der Türkei
Das Streikrecht ist eng an die Tarifverhandlungen gebunden, was bedeutet, dass die Gewerkschaften bestimmte Schritte einhalten müssen.
Vor jeder Verhandlung muss durch die Ministerialbürokratie die Tariffähigkeit der Gewerkschaft festgestellt werden. Dann müssen für die Dauer von maximal 60 Tagen Kollektivverhandlungen geführt werden. Danach setzt ein offizielles Schlichtungsverfahren ein, das höchstens 21 Tage dauern darf. Nachdem die offizielle Schiedsperson beiden Parteien ihren Bericht vorgelegt hat, muss die Gewerkschaft weitere sechs Arbeitstage abwarten, bevor sie über die Aufnahme von Streikmaßnahmen entscheidet. Fällt die Entscheidung positiv aus, muss der Streik dem Arbeitgeber mindestens sechs weitere Arbeitstage vorher angekündigt werden.
Die türkische Regierung ist vom Gesetz her dazu berechtigt, einen Streik aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit für die Dauer von bis zu 60 Tagen auszusetzen. Die Gewerkschaften können beim Staatsrat einen Antrag auf Aufhebung dieser Verfügung stellen, sollte dieser aber abgelehnt werden, kann zum Ende dieser Periode ein bindender Schiedsspruch angeordnet werden.
Fristlose Kündigung per SMS
Regierung schafft das Streikrecht in der Luftfahrt-Branche ab
Der Gewerkschaft HAVA-IS und Turkish Airlines verhandelten monatelang um einen neuen Tarifvertrag. HAVA-IS ist die einzige Gewerkschaft der Branche und organisiert die Beschäftigten der Luftfahrtindustrie von den Piloten bis zum Bodenpersonal. Erst kürzlich gab die Gewerkschaft bekannt, dass sie über 400 für Sicherheitskontrollen zuständige Beschäftigte eines auf einem der Istanbuler Flughafen tätigen Unternehmen organisiert hätte. Diese Kolleginnen und Kollegen waren bisher zu Mindestlöhnen beschäftigt gewesen. Mit der Organisierung in der HAVA-IS waren Lohnerhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen zu erwarten.
Eigentlich sollten die Tarifverhandlungen bereits am 1. Januar 2011 beginnen. Die Gewerkschaft hatte schon am 16. September 2010 beim Arbeitsministerium den Antrag zur Feststellung ihrer Tariffähigkeit gestellt. Die positive Antwort der Regierung traf aber erst 3,5 Monate später ein. Kurz vor Verhandlungsbeginn bestritt dann die Unternehmerseite, dass die Gewerkschaft HAVA-IS über die notwendige Anzahl an Beschäftigten im Unternehmen und in der Branche verfüge. Nach diversen Arbeitsgerichtsprozessen stand Ende Dezember 2011 eindeutig fest, dass die Gewerkschaft alle gesetzlichen Bedingungen zur Führung der Tarifverhandlungen erfüllt. So konnten die Tarifverhandlungen für 50.000 Beschäftigte mit einem Jahr Verspätung anfangen.
Nachdem mehrere Verhandlungstermine ohne Ergebnis blieben, wurde im April nach gesetzlichen Vorschriften ein offizieller Schlichter benannt; denn gestreikt werden darf erst wenn auch bei der Schlichtung keine Einigung zustande kommt. Turkish Airlines klagte Anfang Mai gegen die Ernennung des Schlichters vor dem Arbeitsgericht – ein Vorgang, der in der Türkei noch nie vorgekommen ist. Denn die Schlichter werden durch die Regierung ernannt und sind stets unternehmerfreundlich. Es liegt auf der Hand, dass der Unternehmer durch diese Klage Zeit gewinnen wollte.
Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Regierungspartei AKP ein Gesetz vorbereitet, das Streiks im Luftverkehr verbietet. Der vorgelegte Gesetzesentwurf sah für Flug- wie Bodenpersonal ein Streikverbot vor. Am 29. Mai, in der Nacht vor der Parlamentssitzung zur Verabschiedung, machten Hunderte Beschäftigte in einem Istanbuler Flughafen aus Protest gegen den Gesetzentwurf „Dienst nach Vorschrift“ oder meldeten sich mit ärztlichen Attesten arbeitsunfähig. Etliche von Flügen fielen aus.
Noch in derselben Nacht wurde Hunderten von Kolleginnen und Kollegen per SMS und E-Mail gekündigt, ihre elektronischen Zugangsdaten zu ihren Arbeitsplätzen gelöscht, die Demonstrationen und Versammlungen auf dem Flughafengelände verboten. Auch mittels des Einsatzes von Streikbrechern durch Subunternehmer wurde der – „ungesetzliche“ – Streik sehr schnell zerschlagen.
Zurzeit sind über 300 Beschäftigte entlassen. Der Gewerkschaft HAVA-IS organisiert mit der Unterstützung vieler anderer Gewerkschaften und Organisationen überall in der Türkei Kundgebungen; ob sie zum Erfolg führen werden, bleibt abzuwarten.
Das Streikverbot in der Luftfahrt wurde in aller Eile beschlossen, vom Staatspräsidenten unterschrieben und ist bereits in Kraft getreten. Damit haben der Staat und das Kapital Voraussetzungen geschaffen, eine kämpferische Gewerkschaft, die überdies – entgegen der sonstigen Gepflogenheiten in der Türkei – die einzige Gewerkschaft der Branche ist, zu zerschlagen. Ob ihre Rechnung aufgeht, wird vor allem davon abhängen wie sich die Arbeiterklasse und ihre Organisationen in den nächsten Tagen dazu verhalten werden.
Mai 2012
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