Freitag, 14. Dezember 2012
Piratenjagd vor Gericht
IMI-Analyse 2012/027 - in: AUSDRUCK (Dezember 2012)
Das Urteil im Hamburger „Piratenprozess“ ist gesprochen
von: Anita Friedetzky | Veröffentlicht am: 12. Dezember 2012
Ursprünglich sollten im sogenannten „Piratenprozess“ in Hamburg, dem ersten seiner Art in der BRD, bereits im März 2011 die Urteile gesprochen werden. Er hatte im November 2010 begonnen. Nach 105 Verhandlungstagen endete er dann aber erst am 19.Oktober 2012. Was war geschehen?
Zehn u.a. mit Kalaschnikows und einem Kricketschläger bewaffnete Männer, drei von ihnen noch halbe Kinder, hatten am 6.April 2010 versucht, das Containerschiff „Taipan“ ca. 500 km vor der somalischen Küste zu kapern. Das Schiff war unterwegs auf dem Weg von Haifa nach Mombasa. Die Aktion scheiterte, weil die niederländische Fregatte „Tromp“ als Teil der europäischen „Antipiraterie-Mission- Atalanta“ sie aufbrachte und festsetzte.
Die Mannschaft der „Taipan“ hatte die automatische Steuerung eingeschaltet und sich im „Saferoom“ versteckt. Als die „Piraten“ die Automatik ausschalteten und die Fahrtrichtung des Schiffes änderten, verursachte der Kapitän der „Taipan“ einen „Blackout“ und die Maschinen stoppten.
Bei seiner Zeugenaussage vor Gericht gab Kapitän Eggers an, nicht das Gefühl gehabt zu haben, dass sein Leben bedroht gewesen sei. Vorm Horn von Afrika (aber auch auf anderen Handelswegen weltweit) müsse mit Derartigem gerechnet werden. Jeder Seemann hat das Recht, die Weiterfahrt in so einem Fall zu verweigern. Die meisten bleiben jedoch an Bord und bekommen als Risikozulage die doppelte Heuer. Eggers habe vor Erreichen der gefährlichen Gewässer den polnischen Kapitän ersetzt, der von Bord gegangen war.
Man sei vorbereitet gewesen. Eine sogenannte BMP (Best Managing Practice) wird seit langem von Schiffsversicherern, aber auch von der internationalen Transportarbeitergewerkschaft ITF empfohlen. Sie sieht neben der Einrichtung eines Sicherheitsraumes die Installation von NATO-Draht und starken Wasserschläuchen vor, um die „Piraten“ erst gar nicht an Bord kommen zu lassen. Kapitän Eggers hatte zudem mit Leuchtraketen auf die zwei sich schnell nähernden Skiffs gezielt. Eines wäre daraufhin beinahe gekentert. Die “Piraten“ schafften es dennoch, barfuß und in Flip-Flops über Enterleitern an Bord zu kommen.
Normalerweise, so Kapitän Eggers, würden aufgebrachte „Piraten“ wieder in ihre Skiffs gebracht. Man fülle Wasser in die Schnellboote, um sie langsamer zu machen und lasse ihnen gerade so viel Benzin, um die Küste erreichen zu können.
Warum im Fall der „Taipan“ nicht so verfahren wurde, wurde nicht geklärt. Weil der Überfall außerhalb des offiziellen Atalanta-Einsatzgebietes stattfand, habe sich der Kapitän der niederländischen Fregatte „Tromp“ anfangs quasi auf eigene Faust zur „Taipan“ begeben, habe dann aber einen offiziellen Einsatzbefehl der niederländischen Regierung bekommen, den diese wiederum mit der deutschen Regierung abgesprochen habe. Was im Einzelnen abgemacht wurde, blieb vor Gericht jedoch geheim. Mithilfe eines der beiden Bordhubschrauber der „Tromp“ war eine Art Marine-SEK unter Feuerschutz und schwer bewaffnet auf der „Taipan“ gelandet. Die „Piraten“ haben sich wohl nicht zuletzt angesichts dieser High-Tech-Übermacht widerstandslos ergeben. Die Mannschaft der Taipan konnte den Saferoom verlassen und trotz Beschädigungen am Schiff die Containerfracht zum Zielhafen in Mombasa bringen.
Bis heute weiß übrigens angeblich niemand, was die „Taipan“ geladen hatte. Das Hamburger Schiff der Reederei Komrowski fuhr zwar unter deutscher Flagge, gechartert hatte es aber eine israelische Firma. Vor Gericht behauptete der zuständige Versicherungsvertreter, nur sogenannte „riskante“ Ladungen würden genau deklariert. Im Falle der „Taipan“ habe es sich offenbar nicht um eine solche gehandelt.
Geheimoperationen
Die „Piraten“ sind auf der Taipan „festgesetzt“ (wenn jemand vor Gericht „festgenommen“ sagte, wurde dies vehement verbessert) und dann neun Tage lang auf der Tromp gefesselt festgehalten worden. Einer der somalischen Jungen sprang aus Angst ins offene Meer, wurde aber wieder an Bord geholt. Die Gefangenen wurden Verhören unterzogen, bei denen sie auch mal am Verhörstuhl festgebunden wurden. Angeblich sollen es nur harmlose Gespräche gewesen sein, die allerdings – so stellte sich vor Gericht heraus – von niederländischen Marinegeheimdienstoffizieren geführt worden waren.
Die Gesprächsprotokolle wurden dem Gericht unter Hinweis auf Geheimhaltungspflichten verweigert. Einer der Angeklagten, der spätere „Kronzeuge“ im Prozess, habe umfassende Angaben zur Piraterie in Somalia gemacht. Der Inhalt sei jedoch „for netherland eyes only“. Das sei auf höchster politischer Ebene so abgesprochen. Wer wann welchen Gefangenen zum Verhör gebracht, ihn bewacht hatte oder bei den „Gesprächen“ anwesend war, konnte vor Gericht nicht mehr rekonstruiert werden. Die Mitglieder des Sondereinsatzkommandos, das sowohl dafür als auch für die „Befreiungsaktion“ zuständig gewesen war, erschienen geschminkt, mit Perücken und unter Decknamen. Und die Wachpläne waren urplötzlich nicht mehr auffindbar.
Dennoch offenbarten ihre Zeugenaussagen u.a., dass sämtliche Fischerboote vor der Küste Somalias als potentielle Piratenboote unterschiedslos von Atalanta-Kriegsfregatten gejagt und „überprüft“, ihre Insassen ID-behandelt, fotografiert und meistens wieder freigelassen werden. So auch im Fall eines anderen der zehn Angeklagten. Bei ihm hatten die Atalanta-Soldaten ein Turaya-Telefon entdeckt, das ihm zurückgegeben wurde, weil man damit die „Bewegung der Piraten“ auf Hoher See verfolgen wollte. Eben dieses Turaya-Telefon hätten die niederländischen Geheimdienstler später auf der Brücke der „Taipan“, „allerdings ausgeschaltet“ , wiedergefunden. Den Erklärungen des Angeklagten, er sei zu dem Überfall auf die „Taipan“ gezwungen worden, schenkte das Gericht keinen Glauben. Er gehört zu denjenigen, die sie zur höchsten Strafe von sieben Jahren Haft verurteilt haben.
Die „Tromp“, so stellte sich heraus, hatte im Rahmen der Atalanta-Mission eigentlich den Auftrag, das von „Piraten“ gekaperte sogenannte „Mutterschiff“, die Dau HudHud, zu verfolgen. Angeblich hatte die „Tromp“ dieses jedoch „aus den Augen verloren“. Und das, obwohl sie dabei von einem Bundeswehr-Aufklärungsflugzeug unterstützt wurde, das auch den gesamten Überfall auf die „Taipan“ aus großer Höhe filmte. Teile des Films wurden im Gerichtssaal gezeigt.
Von der HudHud aus waren die beiden Skiffs der Angeklagten zur Kaperung der „Taipan“ gestartet. Die „Tromp“ habe das „Mutterschiff“ dann durch gezielte Schüsse gegen den Bug zum Abdrehen gezwungen. Auf der Dau habe sich u.a. der „Piratenanführer“, Dhaghaweyne, befunden, was so viel wie „der mit den großen Ohren“ bedeute.
„Der hat Sie einfach Ihrem Schicksal überlassen“, wendet sich Richter Steinmetz bei der Urteilsbegründung geradezu melodramatisch an die Angeklagten. Und obwohl er ansonsten versucht, vier Stunden lang auf jedes Detail einzugehen, erwähnt er den gesamten im Geheimdienstnebel gebliebenen Militär-Komplex nicht. „Die Befreiungsaktion, das muss hier auch mal gesagt werden, ist erfolgreich gewesen“, lobt er nur den Militäreinsatz als solchen, weil es keine Toten und Verletzten gegeben habe.
Zu dem Zeitpunkt des Prozesses, als die Zeugen von Seiten des Militärs und Geheimdienstes vor Gericht gehört wurden, hatte die internationale und überregionale Presse bereits kein Interesse mehr. Aber auch zu Beginn wurde die Verbindung zwischen dem Prozess und dem Militäreinsatz Atalanta nicht hergestellt. Selbst der „Spiegel“ schaffte es, in einem umfangreichen Bericht das, was diesen Prozess überhaupt erst ermöglicht hatte, nicht mit einem Wort zu erwähnen!
Offenbar hatte es von Anfang an Zweifel daran gegeben, dass die zehn Jungen und Männer aus Somalia, die zwar bewaffnet, aber halb verhungert und in Flip-Flops die Taipan geentert hatten, für die Legitimierung des ersten gemeinsamen europäischen Marineeinsatzes am Horn von Afrika herhalten könnten. Es ging und geht beim Atalanta-Einsatz schließlich auch um Milliardengewinne der europäischen Rüstungsindustrie – allen voran Deutschlands – und zeitgleich deren immer wieder notwendige parlamentarische Absegnung im Europaparlament und im Bundestag.
All das durfte nicht dadurch gefährdet werden, dass womöglich das Gericht dem Druck der Verteidigung und der kritischen Öffentlichkeit nachgegeben, das Verfahren eingestellt und damit den ganzen Einsatz in Frage gestellt hätte. Den Mut brachte die Kammer erwartungsgemäß auch nicht auf. Ob solch eine historische Entscheidung im Jahr 2012 für ein deutsches Landgericht überhaupt zur Debatte stehen kann, muss allerdings sehr bezweifelt werden. Denn der politische Druck, der u.a. über die Staatsanwaltschaft, aber auch über die funktionierende Vorverurteilung in den Mainstreammedien aufgebaut wurde, war immens.
Darüber hinaus hieß es auf der Webseite des Auswärtigen Amtes ab dem 27.12.2010, also einen Monat nach Prozessbeginn unmissverständlich: „Die Strafverfolgung mutmaßlicher Piraten ist wichtiger, abschreckender Bestandteil des Vorgehens gegen Piraterie“. Und ist flankierende Maßnahme der Sicherung der Seewege der europäischen Handelsflotte!
Hindernisse
Es handelte sich beim „Piratenprozess“ um einen politischen Prozess, der jedoch nicht ganz so laufen konnte, wie er vielleicht ursprünglich geplant war.
Das erste Hindernis waren die 20 überwiegend engagierten VerteidigerInnen. Sie kritisierten von Anbeginn die Militäraktion, die anschließende Verbringung der Angeklagten in niederländische Knäste und die dann folgende Auslieferung an Deutschland als völkerrechts- und grundgesetzwidrig. Und bis zum Schluss forderten sie als „PflichtverteidigerInnen“ für ihre Mandanten aus Afrika dieselben Rechte wie sie europäischen, bzw. deutschen Angeklagten zustehen.
Dies sahen Staatsanwaltschaft und Gericht jedoch faktisch anders. Sie beriefen sich darauf, dass Somalia als „failed state“ kein ordentlicher Auskunftsgeber sein könne. Weder Urkunden, noch Entlastungszeugen wurden als wirklich glaubwürdig anerkannt. Bei den Entlastungszeugen wurde mit dem Fehlen ladungsfähiger Adressen und anderen Unwägbarkeiten argumentiert. Letztlich traten deshalb ausschließlich Belastungszeugen auf.
Die Erklärung mehrerer Angeklagter, nicht nur aus Not zur „Piraterie“ gezwungen gewesen zu sein, sondern zum Überfall auf die „Taipan“ gewaltsam gezwungen, sprich: zwangsrekrutiert worden zu sein, wurde als pauschal unglaubwürdig abgetan, ohne sie zu prüfen. Die Verteidigung prangerte dies vielfach an, sprach von Verhinderung des Rechts auf Verteidigung, von „Feindrecht“ und „Nachkolonialem Herrschaftsgehabe“.
Die Urkunde eines Angeklagten, nach der sein Alter zur Zeit des Überfalls auf die „Taipan“ 13 Jahre betrug, er nach deutschem Recht also noch gar nicht strafmündig gewesen wäre, wurde denn auch wie eine Fälschung behandelt. Über mehrere Wochen ließen sich vor Gericht sogenannte Altersgutachter aus, die einzig und allein das unausgesprochene Ziel verfolgten, die fast noch kindlichen Jugendlichen älter zu machen.
Wie auf einem Viehmarkt wurden in öffentlicher Sitzung von den „Experten“ die einzelnen Zähne und Knochen beschrieben. Die Angeklagten, stellte sich dabei heraus, waren in der Regel ohne Begleitung eines Dolmetschers zu den Untersuchungen gebracht worden. Als ihre Hände unter die Röntgengeräte geklemmt wurden, dachten sie, diese würden abgehackt, weil sie das aus Somalia kannten.
Es dauerte lange, bis sie begriffen, dass ihnen nicht die Todesstrafe drohte, dass der Vorsitzende Richter Steinmetz nicht der Henker war und dass sie den RechtsanwältInnen vertrauen konnten. Fast alle hatten auch gesundheitlich gravierende Probleme, konnten nur mit Medikamenten verhandlungsfähig gehalten werden. Wenn sie die Kopfhörer wegen Kopfschmerz während der ganztägigen Sitzungen abnahmen, wurden sie ermahnt oder bekamen eine Schmerztablette. Fast immer saß ein Arzt bei den Verhandlungen, damit keine Zeit verlorenging. Noch kurz vor der Urteilsverkündung flehte einer der Angeklagten den Richter an, ihn nicht in eine Isolierzelle zu stecken – er werde auch nie mehr Selbstmord begehen wollen.
Ein weiteres Hindernis waren die Berichte der Gutachter über die Situation in Somalia. Auch wenn Dr. Matthies und Dr. Hansen Europäer sind, Ersterer gar seit 20 Jahren nicht mehr vor Ort war, wurde doch zur Genüge die große Not deutlich, aus der heraus die Angeklagten gehandelt hatten. Sie bestätigten alles, was KritikerInnen von Anfang an eingewandt hatten.
Danach sei das Land durch 20 Jahre Bürgerkrieg zerstört, es herrsche „Bürgerkriegsökonomie“. Ob einer Recht oder Unrecht habe, werde nicht vor Gerichten, sondern mit (Waffen)Gewalt entschieden. Nicht Gesetze bestimmten das Wohl und Wehe, sondern die jeweilige Clanzugehörigkeit. Fischer könnten nicht mehr als Fischer arbeiten, weil die Fischgründe vor der 3000 km langen Küste Somalias durch ausländische Fischtrawler leergefischt worden seien und der Tsunami 2004 vielen die letzte Existenzgrundlage geraubt habe. Und Dr. Hansen bestätigte auch, dass es Zwangsrekrutierung gibt.
Die meterhohen Wellen des Tsunami haben noch ein anderes Geheimnis gelüftet: Über Jahre hatten europäische Länder ihren hochtoxischen Giftmüll einfach vor der somalischen Küste ins Wasser geworfen – gebührenfrei – so wie die reich beladenen Containerschiffe der europäischen Handelsflotte auch nichts für die Nutzung der Wasserwege zahlen müssen.
Gutachter aus Somalia selbst wurden vom Gericht abgelehnt. Sie hätten zwar eine ladungsfähige Adresse gehabt, es sei aber alles zu ungewiss. Die Ausblendung des Landes und der genauen Umstände, aus denen die Angeklagten kamen, bot dem Gericht den Vorteil sagen zu können, dass es deren zum Teil unvorstellbar grausame Lebensgeschichten als „nicht zu widerlegen“ hinnehme. Was auch für die Clanzugehörigkeit gelte.
Fauler Kompromiss
Die Jugendlichen wurden zu zwei Jahren und die Erwachsenen zu Strafen zwischen sechs und sieben Jahren verurteilt. Hätte sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer Forderung nach vier bis zwölf Jahren durchgesetzt, hätten die drei Jugendlichen in der Tat wieder in den Knast zurück gemusst, obwohl sie seit April 2012 „haftverschont“ waren. Da die bereits verbüßte U-Haft aber bei allen eins zu eins angerechnet wurde, konnten sie nunmehr als „Freie“ – ohne alle Auflagen – das Gericht verlassen. Und außer im Falle des „Kronzeugen“, bei dem die Kammer die Forderung der Staatsanwaltschaft von sechs Jahren übernahm, halbierte sie die übrigen Strafen fast. Wobei diejenigen, die angegeben hatten, zwangsrekrutiert worden zu sein, mit sieben Jahren die höchste Strafe bekamen. Bei „guter Führung“ könnte das die Freilassung für den „Kronzeugen“ in weniger als einem Jahr, für die übrigen Gefangenen sukzessive innerhalb der nächsten zwei Jahre heißen. Was dann mit ihnen passiert, wurde allerdings nicht gesagt.
Das Gericht ging davon aus, dass die Angabe des „Kronzeugen“, keiner der „Piraten“ sei zu der Aktion gezwungen worden, stimmt. Ebenso seien die Angeklagten gemeinschaftlich und „quasi militärisch“ vorgegangen, wobei jeder von ihnen vorher festgelegte Aufgaben zu erfüllen gehabt hätte. Ob dies –insbesondere angesichts einiger Analphabeten unter den „Piraten“- mithilfe schriftlicher Verträge passiert war, wie der „Kronzeuge“ behauptet hatte, ließ das Gericht dagegen offen.
Bislang hat die Staatsanwaltschaft (und mit ihr der „Kronzeuge“) keine Revision eingelegt. Alles in allem kann sie auch zufrieden sein. Das Gericht hat ihre Sicht der Dinge übernommen. Es handele sich um einen „Angriff auf den Seeverkehr“ und um „erpresserischen Menschenraub“, wobei beides „vollendet“ gewesen sei, auch wenn die Aktion durch den Eingriff des Militärs letztlich gescheitert sei.
Dass die Angeklagten keine Ahnung vom deutschen StGB hatten, interessierte nicht. „Sie hätten wissen müssen, dass sie bei der Kaperung eines Schiffes auch festgenommen werden können“, sagte der Richter. Basta. Woher hätten sie das wissen sollen? Wissen die „Piraten“ in Somalia es jetzt, weil es den Prozess gab? Der Richter verneinte dies selbst.
Sichtlich Mühe bereitete es ihm, die Legitimation und den höheren Sinn des Prozesses zu definieren. Wenn er keine abschreckende Funktion hat, wenn er nicht die Probleme der Piraterie vorm Horn von Afrika lösen kann, wenn er nicht dazu geführt wurde, um den europäischen Militär- Einsatz „Atalanta“ zu legitimieren, nicht als verlängerter Arm (Hamburger) Reeder fungierte, kein „nachkoloniales Herrschaftsgehabe“ war (an dieser Stelle applaudierte eine Zuhörerin und wurde gerügt) – was war er dann, wozu war er nütze? Die Antwort des Gerichts: „Es geht um die Seeleute. Es geht um die betroffene Reederei. Die Seeleute kommen häufig selber aus ärmeren Ländern. Deshalb ist es genau für diese Seeleute wichtig, dass es Verfahren und ein Gericht gibt, das sich mit der Legitimation beschäftigt“.
Ist Richter Steinmetz also der Rächer der Armen? Indem er andere Arme in den Knast steckt und sie zu hohen Strafen verurteilt? Er zeigt strafminderndes Mitgefühl: „Durch die Verbringung nach Europa sind Sie von Ihren Familien getrennt worden. Sie sind deshalb besonders strafempfindlich aufgrund der Ferne zu Ihrer Heimat. Vor diesem Hintergrund und weil wir bei Ihnen von einer geringeren Lebenserwartung ausgehen können (sic!), als bei Gefangenen hier in Europa, ist die Strafe niedriger ausgefallen“, erklärte er.
Das Gericht suchte offensichtlich nach einem faulen Kompromiss, der einerseits dem Willen der Staatsanwaltschaft auf jeden Fall schuldig zu sprechen inhaltlich entsprach, andererseits jedoch auch der Kritik an dem Verfahren den Wind aus den Segeln nehmen sollte.
Nicht zuletzt dürfte dazu neben den engagierten VerteidigerInnen auch die kontinuierliche Schaffung von Gegenöffentlichkeit beigetragen haben. Bei jeder Verhandlung saß mindestens eine ProzessbeobachterIn im Saal, wurde das Gesagte protokolliert und konnte die internationale Öffentlichkeit Kurzprotokolle und andere Prozess-Nachrichten auf einem englischen Blog lesen. Ganze Veranstaltungsreihen, Hafenrundfahrten, ein Theaterstück und Expertenanhörungen zum Thema wurden organisiert. Dabei wurden „Seeräuber“ (wie Richter Steinmetz sie tituliert) und Seeleute nie gegeneinander ausgespielt. Und nicht nur beim Auftakt des Prozesses, sondern auch, während (nachdem bloß zwei Stunden seit den „Letzten Worten“ der Angeklagten vergangen waren) das Urteil vier Stunden lang vorgetragen wurde, forderten Menschen vorm Gerichtsgebäude die Freilassung der Angeklagten und prangerten die kriegslüsterne imperiale Haltung Deutschlands an. Ein Exilsomalier aus der Schweiz meldete sich noch vor Urteilsverkündung im Zuschauerraum zu Wort („Ich möchte noch etwas sagen!“), bekam aber, statt gehört zu werden, Hausverbot. „Wer kümmert sich um uns?“ fragen nun die Gefangenen. „Ohne meine Anwälte wäre meine Familie nicht mehr am Leben“, sagen mehrere bei ihren „Letzten Worten“. Der Richter rügt demgegenüber die Verteidigung. Sie habe den Prozess verschleppt. Man müsse sich Gedanken über die Optimierung solcher Prozesse machen.
Allein dass kein „kurzer Prozess“ gemacht wurde, hat allerdings dazu geführt, dass es wahrscheinlich keinen weiteren „Piratenprozess“ in Deutschland geben wird. Ob das zumindest ein Teilerfolg ist, oder ob das nur die sprichwörtliche Verdrängung des Problems bedeutet, wird die Geschichte zeigen. Zu befürchten ist allerdings Letzteres.
Die „Antipirateriemission Atalanta“ führt derweil im Namen auch des deutschen Volkes ihren Krieg gegen die somalische Bevölkerung weiter.
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