Montag, 17. Dezember 2012
Türkei: Träume von der Hegemonie
Als die AKP, die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, ab 2002 neben ihrer neoliberalen Politik vorsichtig eine gewisse Öffnung gegenüber den Forderungen der kurdischen Bewegung signalisierte und Reformen im Strafgesetzbuch versprach, waren nicht nur die europäischen Medien und Regierungen begeistert. Auch in der Türkei waren viele voller Hoffnung, dass sich die Verhältnisse allmählich ändern würden. Nicht zuletzt forderte der größte türkische Unternehmerverband die Beendigung des Bürgerkriegs, die Abschaffung der Anti-Terror Gesetze, die Zurückdrängung des Einflusses des Militärs und die Zulassung der kurdischen Sprache.
Dem Anschein nach schlug die AKP-Regierung auch außenpolitisch neue Wege ein: Ab sofort sollten mit allen Nachbarn gute Beziehungen gepflegt werden statt des bisherigen Säbelrasselns. Die AKP schien dazu auch in der Lage zu sein – zumindest mit den islamischen Nachbarn. Denn sie definierte sich als (islamisch) konservativ und ein Teil ihrer Klientel pflegte gute wirtschaftliche Beziehungen in die arabischen Länder, den Iran und den Kaukasus.
Die Realität
Von all diesen Hoffnungen – berechtigt oder nicht – ist nichts mehr übrig geblieben. Im Osten der Türkei werden zwischen Armee und PKK-Einheiten seit Monaten die heftigsten Kämpfe der letzen Jahre geführt, mit hunderten von Toten innerhalb kürzester Zeit.
Die Gefängnisse sind voll mit kurdischen PolitikerInnen, Studierenden, Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, JournalistInnen, Jugendlichen und ehemaligen Armeeangehörigen. Kein Land wird vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte so oft verurteilt wie die Türkei, gefolgt von Russland und der Ukraine. Innerhalb von nur acht Jahren hat die Zahl der Insassen in Gefängnissen um 250 Prozent zugenommen!
Mit fadenscheinigen Begründungen werden politische Aktivisten festgenommen und verbringen Monate und Jahre ohne Anklage in U-Haft. Es gibt weiterhin Sondergerichte die für „Terrorismus“ zuständig sind, mit Sondervollmachten für die Ankläger. Dabei kommt es zu den absurdesten Vorfällen, die ein Licht auf die türkische Rechtsstaatlichkeit werfen: Im so genannten Ergenokon-Prozess, angeblich eine Verschwörung nationalistischer Kreise mit dem Ziel die Regierung zu stürzen, sind neben Offizieren und hohen Bürokraten auch Journalisten angeklagt, die eben diese Verschwörungen aufgedeckt hatten.
Beobachter in der Türkei sprechen bereits davon, dass der Polizeiapparat und große Teile der Justiz von der AKP kontrolliert werden. Nach Massenfestnahmen und Verurteilungen hunderter Offiziere scheint auch die Armeeführung weitestgehend auf die Seite der Regierenden gewechselt zu haben.
Die Jahre nach dem Militärputsch von 1980, vor allem die 90er Jahre waren geprägt von Entführungen, Verschwindenlassen, Massenentführungen und -vertreibungen von der Zivilbevölkerung und politischen Aktivisten in Kurdistan. Der Terror dieser Jahre wurde von Sondereinsatzkommandos der Armee, der Polizei und ihren Handlangern ausgeübt und bis heute sind die Täter frei, wer wo verscharrt ist, ist unbekannt. Der türkische Menschenrechtsverein schätzte Ende 2011, dass in der Türkei 224 Massengräber mit über 3000 Leichen existieren, derer sich die Justiz bisher nicht angenommen hat.
Auch außenpolitisch sieht es düster aus: der langjährige Verbündete Israel gab eine ganze Zeit wegen der Streitigkeiten um die Gaza-Flotte Drohnen der türkischen Armee, die zur Überholung in Israel waren, nicht zurück. Im Gegenzug drohte die türkische Regierung, als Reaktion auf die gemeinsame Suche nach Gasvorkommen im Mittelmeer der Republik Zypern und Israels, die Marine zu entsenden.
Das türkische Parlament genehmigte die Aufstellung von US-Raketen im Osten der Türkei, die gegen den Iran gerichtet sind – damit ist die Mittlerrolle der Türkei im Iran-Konflikt wohl erstmal vorbei. In Syrien wurde aus dem ehemaligen „Bruder Assad“ (Ministerpräsident Erdoan) ein „blutdürstiger Tyrann, der seine eigene Bevölkerung bombardiert“ (wiederum Ministerpräsident Erdoan).
Waren vor den Revolten in den arabischen Ländern die guten Beziehungen der Regierung zu allen Despoten in der Region Gegenstand der Kritik, ist es jetzt die willige Umsetzung der US-Politik dort, besonders gegenüber Syrien.
Osmanisch-islamisch-pantürkische Synthese
Das außenpolitische Scheitern der Regierung ist relativ einfach zu erklären. Im Zuge des wirtschaftlichen Erstarkens, suchte das türkische Kapital nach Handelsbeziehungen und Anlagemöglichkeiten in der Region. Bisher recht erfolgreich – 20 Prozent der türkischen Ausfuhren gehen in den Nahen Osten. Ein Teil des türkischen Kapitals, die der AKP nahe stehenden so genannten „anatolischen Tiger“ hatten zu den islamischen Ländern schon länger enge wirtschaftliche Beziehungen.
Nun hat die AKP-Regierung in den letzten Jahren Großmacht-Ambitionen für die Türkei entwickelt. Mit der Betonung der osmanisch-islamischen Identität, vermengt mit pantürkischen Elementen, sollte die Türkei ein neuer geopolitischer Akteur im Afro-Euroasiatischen Raum werden. Hinter den seit Jahren andauernden Spannungen mit Israel liegt eben diese Großmacht-Schwärmerei. Den islamischen Ländern sollte deutlich gemacht werden, dass die Türkei nicht ein Staat ist, der die Politik des Westens vollzieht – wie sie bisher vor allem im arabischen Raum wahrgenommen wurde –, sondern ein selbstständiger Akteur. Wie glaubwürdig das angesichts ihrer NATO-Mitgliedschaft zu vermitteln war, sei mal dahin gestellt.
Diese neue Politik konnte weder Russland noch dem Iran gefallen, auch Armenien hat an die „osmanischen Wurzeln“ der Türkei keine schöne Erinnerungen. Vor allem aber kamen der neuen türkischen Charmeoffensive innerhalb kürzester Zeit die Ansprechpartner in den arabischen Ländern abhanden: die ehemaligen Herrscher von Tunesien, Ägypten, Libyen. Außerdem war man genauso wie im Westen von den Revolten in den arabischen Ländern kalt erwischt worden und hatte sich nicht rechtzeitig auf die „richtige Seite“ gestellt. Nun ist der Schlamassel da. Deshalb versucht man mit aller Macht an der Seite des Westens den Regimewechsel in Syrien zu erzwingen.
Ob das der Türkei helfen wird, das verlorene „Ansehen“ in den Nachbarstaaten wieder zu gewinnen, darf bezweifelt werden.
Reaktionäre Innenpolitik
Gut zu diesen außenpolitischen Ambitionen der AKP-Regierung passt auch ihre Politik im Inneren. Schon vor Jahren provozierte der Ministerpräsident mit seinem Ausspruch „Ich will, dass jede türkische Frau drei Kinder zur Welt bringt“ Proteste der Frauenorganisationen und der Linken. Aktuell möchte die Regierung die Abtreibungsgesetze verschärfen. Bisher ist Abtreibung in den ersten drei Monaten völlig legal, danach müssen besondere Gründe wie die Gesundheit der Frau geltend gemacht werden. Nun soll Abtreibung ab der zehnten Woche illegalisiert werden! Wer danach abtreibt bzw. dabei Hilfe leistet, soll mit zwischen zwei und vier Jahren Haft bestraft werden. Besondere Wut löste Erdoan bei den Frauenorganisationen aus mit dem Ausspruch „jede Abtreibung ist ein Uludere“. Im Dezember 2011 hatten türkische Militärflugzeuge in Uludere (kurdisch Roboski) 34 jugendliche kurdische Schmuggler mit gezielten Bombenangriffen getötet.
Das ist mehr als „nur ein Angriff“ von konservativen, reaktionären Politikern auf die Frauenrechte. Die AKP ist dabei sich für einen Kulturkampf zu rüsten. Ziel ist jetzt, nachdem sie die Hälfte der Wählerschaft hinter sich glaubt, alles was ihrer Weltsicht und ihren Moralvorstellungen nicht entspricht, zu bekämpfen.
So wird etwa unter dem scheinheiligen Vorwand des Jugendschutzes ein Festival verboten, das nach einer Biermarke benannt ist; Alkoholausschank wird im öffentlichen Raum immer mehr eingeschränkt; der Bau von Moscheen wird voran getrieben – dieses Jahr wurde zum ersten Mal in der Türkei ein Gebetsraum in einer Universität eröffnet; die Hochschulen werden für die Absolventen von mam hatip liseseleri (theologischen Gymnasien) geöffnet, die eigentlich das klerikale Personal für die Moscheen ausbilden.
Atheisten, die sich das Recht nehmen öffentlich den Islam bzw. dessen regierungsamtliche Auslegung zu kritisieren, werden wegen Verletzung religiöser Gefühle angeklagt.
Im März 2010 hielten zwei Studenten bei einer Rede Erdoans ein Transparent hoch mit der Forderung nach kostenloser Bildung und wurden sofort festgenommen. Nach 19 Monaten in U-Haft wurden sie jetzt wegen Mitgliedschaft in einer „illegalen Organisation“ (denn die gesamte Linke – legal oder illegal – fordert kostenlose Bildung für alle) zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Selbstverständlich sind die beiden Studenten nicht die einzigen, die wegen solcher Lappalien im Knast landen. Wegen ähnlicher Vorwürfe sind über 700 Studierende entweder schon verurteilt oder warten in U-Haft auf ihre Verurteilung.
Die Kritik der AKP am Kemalismus und am Militär zog viele Liberale und Ex-Linke auf ihre Seite. Kreise, deren heftige Kritik an sozialistischen und kommunistischen Organisationen auf „ewiggestrig“, „Betonköpfe“, etc. hinauslief.
Auch gewisse Teile der kurdischen Bewegung setzten ihre Hoffnung in diese reaktionär-neoliberale Regierung, denn die AKP schien als einzige in der Lage zu sein mit den alten Eliten abzurechnen.
Das ist ihr in weiten Teilen gelungen, nun macht sie sich daran, den Rest der Türkei nach ihren Moralvorstellungen zu gestalten.
September 2012
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