Montag, 17. Dezember 2012

Griechenland: Geld fließt in die Rettung der Banken, aber nicht der Menschen

Auspressen und verdrängen ATHEN/BERLIN german-foreign-policy vom 17.12.2012 (auf Kommunisteen-online am 17. Dezember 2012) – Das deutsche Spardiktat treibt Griechenland auch nach den jüngsten finanziellen „Rettungs“ Operationen tiefer in den wirtschaftlichen und sozialen Abgrund. Das Land befinde sich ökonomisch weiterhin „im freien Fall“, heißt es beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Weil die von Berlin oktroyierte Austeritätspolitik keinerlei Spielräume für wachstumsfördernde Maßnahmen lässt, rechnen Experten von der Citibank mit einem Schrumpfen der griechischen Wirtschaft um 7,4 Prozent im nächsten Jahr und um 11,8 Prozent im Jahr 2014. In diesem Zeitraum werde die Arbeitslosigkeit auf 40 Prozent steigen, urteilen die Ökonomen. Dabei geht mit der Kriseneskalation ein sozialer Zusammenbruch einher, der nicht nur die Suizidrate seit Anfang 2010 verdoppelt hat, sondern auch die Wut auf die politischen Eliten in Athen und auf die von Berlin dominierte EU schnell wachsen lässt - und von rasch zunehmender rassistischer Gewalt begleitet wird. Unlängst hat das UN-Flüchtlingshilfswerk berichtet, dass von Januar bis September mindestens 87 Migranten Opfer brutaler Übergriffe wurden - bis hin zum Mord. Zugleich erstarken neonazistische Organisationen in bislang ungekanntem Ausmaß - und heizen Putschgerüchte an. Hilfe für die Hedgefonds Auch nach den jüngsten „Rettungs“-Operationen steht Griechenland vor einer Fortsetzung seines Absturzes in die Katastrophe. Trotz des Schuldenrückkaufs befinde die griechische Wirtschaft sich noch „im freien Fall“, urteilt der Konjunkturchef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Ferdinand Fichtner. Bei einer Gesamtverschuldung von 350 Milliarden Euro sei der Rückkauf von Schulden in Höhe von 30 Milliarden zum Preis von 10 Milliarden „nur ein Tropfen auf den heißen Stein“.[1] Allerdings kommt der Schuldenrückkauf, bei dem Schulden zu etwa einem Drittel ihres aktuellen Werts beglichen werden, vor allem Hedgefonds zugute, die sich mit griechischen Staatsanleihen eindeckten, als diese ihren absoluten Tiefstand erreicht hatten und nicht einmal auf 20 Prozent ihres heutigen Werts kamen. Die Hedgefonds erzielen also durch den Rückkauf Profite in hohen zweistelligen Raten, die aus sogenannten Hilfsgeldern für Athen finanziert werden. Die Verluste hingegen tragen diejenigen, die schon lange im Besitz griechischer Staatsanleihen sind - griechische Banken, aber auch Sozialversicherer und Kleinanleger, die die Anleihen zu einem weit höheren Wert erworben haben, als sie beim Rückkauf erhalten. 40 Prozent Arbeitslosigkeit Präzise beziffert haben das mutmaßliche Ausmaß des kommenden Absturzes jüngst Experten der Citigroup. Demnach wird die Rezession, die die deutschen Spardiktate - von Berlin gegen heftigen Widerstand zahlreicher europäischer Staaten oktroyiert - verursacht haben, fortdauern und neue Höchstwerte erreichen. Nach einem Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um 7,2 Prozent im laufenden Jahr rechnen die Citigroup-Experten mit einem Rückgang um 7,4 Prozent im Jahr 2013 und um 11,8 Prozent 2014. Erst 2015 verlangsame sich die Wirtschaftskontraktion auf 3,7 Prozent. Bislang unvorstellbare Höhen wird demnach die Arbeitslosigkeit annehmen, die im dritten Quartal 2012 mit 24,8 Prozent weit über dem Vorjahresquartal lag (17,7 Prozent), junge Menschen bis zum Alter von 24 Jahren weit überproportional trifft (56,6 Prozent) und sich bei jungen Frauen auf 65,4 Prozent beläuft. Für das Jahr 2013 sagt die Citigroup eine Arbeitslosigkeit von 29,7 Prozent voraus, für 2014 35,9 Prozent und für 2015 40,3 Prozent. Den Ökonomen zufolge soll Griechenland durch die Spardiktate mit „sanfter Gewalt“ aus der Eurozone gedrängt werden; mit einem Austritt sei in zwölf bis 18 Monaten zu rechnen.[2] Suizidrate verdoppelt Die sozialen Folgen des deutschen Spardiktats und des durch es ausgelösten Totalzusammenbruchs der griechischen Wirtschaft beschreibt ein aktueller Bericht über die Reise eines Traumatherapeuten nach Athen. Der Mann habe dort Kollegen fortgebildet, was angesichts der Krisenfolgen als überaus notwendig gelte. Er habe dabei die gesellschaftliche Realität in Griechenland erlebt und beklage seither eine „gigantische Verdrängungsleistung“ im Westen Europas, wo man die Austeritätspolitik trotz der katastrophalen Lage in Griechenland weiterführe. So würden dort „ganze Wohnblocks (...) aus finanziellen Gründen von der Öllieferung abgeschnitten“; geheizt werde inzwischen mit illegal geschlagenem Holz. Wer ins Krankenhaus müsse, „muss seine eigene Bettwäsche mitbringen, ebenso sein Essen“. „Seit das Putzpersonal entlassen wurde, putzen Ärzte, Schwestern und Pfleger, die seit Monaten kein Gehalt mehr bezogen haben, die Toiletten.“ Die EU warne angesichts der teils „verheerenden hygienischen Bedingungen vor der Gefahr einer Ausbreitung von Infektionskrankheiten“. „Hochschwangere Frauen“, wird der Traumatherapeut zitiert, „eilen bettelnd von Krankenhaus zu Krankenhaus, doch weil sie weder eine Krankenversicherung noch genügend Geld haben, will niemand ihnen helfen“. Alte Menschen, denen die Rente um die Hälfte gekürzt wurde, könnten sich wichtige Medikamente nicht mehr leisten. Die Suizidrate hingegen habe sich seit dem offenen Ausbruch der Krise vor rund drei Jahren nicht halbiert, sondern verdoppelt.[3] Ungeheure Wut Man müsse, heißt es in dem Bericht weiter, „weder ein Pessimist noch ein Experte sein, um sich auszumalen, was das für die sozialen Beziehungen der Menschen untereinander“, aber auch „für den Kitt der griechischen Gesellschaft bedeutet“. Die Wut auf die griechischen Politiker sowie auf „die internationale Politik, deren Geldtranchen in die Rettung der Banken fließen, aber nicht der Menschen“, sei „ungeheuerlich, und sie wächst unaufhaltsam“. Könne dies in einer Gesellschaft womöglich noch aufgefangen werden, die Schutz wenigstens vor dem Ärgsten biete, so gebe es diese Möglichkeit in Griechenland wohl nicht mehr, urteilt der Traumatherapeut: Dort „wurde die funktionierende Gesellschaft so lange ausgehöhlt, bis sie schließlich zusammengebrochen ist wie ein marodes Haus.“ Der Grund: „Die Krise hat den Sozialstaat zerstört“. Die Wut resultiere nun in Aggressionen und Gewalt. In der Tat nähmen im traditionell gastfreundlichen Griechenland die Angriffe vor allem auf Migranten stark zu: „Die Zahl der gewalttätigen Banden, die Minderheiten attackieren, steigt.“[4] Rassistische Gewalt Menschenrechtsorganisationen beklagen genau dies bereits seit Monaten. Amnesty International etwa stellte im August nach dem Mord an einem irakischen Flüchtling in Griechenland fest, dort komme es immer häufiger zu rassistischen Gewalttaten.[5] Im Oktober wurde ein Bericht des UN-Flüchtlingshilfswerks bekannt, dem zufolge allein zwischen Januar und September 87 rassistische Angriffe gezählt worden seien. Dies müsse als „außerordentlich alarmierend“ eingestuft werden, zumal die tatsächliche Zahl der Attacken wohl weit höher liege, da viele Flüchtlinge Angst hätten, Übergriffe der Polizei zu melden, oder aber mit ihrem Anliegen abgewiesen würden.[6] Auch von den Repressionsapparaten werde exzessive Gewalt gegen Migranten verübt. Mitte November gab die US-Botschaft in Athen eine Reisewarnung heraus, in der sie feststellte, Angriffe auf Personen, die wegen ihres Aussehens für ausländische Migranten gehalten würden, nähmen zu.[7] Einige Viertel Athens gelten inzwischen als „No-Go-Areas“ für Flüchtlinge. Putschpläne Der rasante Anstieg des Rassismus, den Griechenland unter dem Eindruck der Krise erlebt, geht einher mit einem ebenso raschen Erstarken der extremen Rechten. Die neonazistische Partei Chrysi Avgi („Goldene Morgenröte“), die in besonderem Maße durch Gewalt gegen Migranten auffällt, ist seit den letzten Wahlen mit 18 Abgeordneten im Parlament vertreten und könnte Umfragen zufolge heute gut zwölf Prozent erreichen. Einer ihrer Abgeordneten hat im Herbst erklärt, die Partei führe einen „Bürgerkrieg“ gegen Migranten und Linke. Wie der Publizist Dimitris Psarras erklärt, der seit 20 Jahren über Chrysi Avgi recherchiert, hat „die Eskalationsstrategie (...) eine zentrale Bedeutung“ für sie: „Sie ist vergleichbar mit der Strategie der italienischen Neofaschisten der siebziger und achtziger Jahre: den Konflikt zwischen Rechten und Linken - im griechischen Fall auch Migranten - auf den Straßen eskalieren zu lassen, um ein Klima der Angst zu erzeugen, das einen Putsch rechtfertigen könnte.“ Psarras weist darauf hin, dass nicht nur griechische Neonazis, sondern auch „seriöse Medien (...) über mögliche Putschpläne“ spekulieren. Er urteilt: „Wenn die politische und wirtschaftliche Lage noch instabiler wird und sich die Gesellschaft immer mehr polarisiert, ist alles möglich.“[8] Weitere Informationen und Hintergründe zur deutschen Griechenland-Politik und ihren Folgen finden Sie hier: Die Folgen des Spardiktats, Ausgehöhlte Demokratie, Wie im Protektorat, Europa: Am Rande des Abgrunds, aber deutsch (II), Nach dem Modell der Treuhand, Verelendung made in Germany, Das Antlitz der Krise, Vom Stellenwert der Demokratie, Der Berliner Todeswunsch, Nicht mehr lange im selben Club und Nur Missverständnisse. [1] „Schuldenrückkauf nur Tropfen auf heißen Stein“; www.heute.de 13.12.2012 [2] European Economic Forecast Highlights; Citi Research Economics 28.11.2012 [3], [4] Eine Gesellschaft stürzt ins Bodenlose; www.faz.net 15.12.2012 [5] Greece must bring an end to racist and xenophobic attacks; www.amnesty.org 15.08.2012 [6] Racist attacks in Greece hit „alarming“ levels: UNHCR; www.reuters.com 23.10.2012 [7] United States Embassy Athens, Greece: Security Message for U.S. Citizens: Safety and Security in Greece, November 16, 2012 [8] „Es sind richtige Nazis“; jungle-world.com 15.11.2012

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