Montag, 17. Dezember 2012
USA gegen Venezuela und andere ALBA-Staaten
Wie der US-Imperialismus versucht fortschrittliche Staaten Lateinamerikas einzukreisen und zu destabilisieren
In den letzten Jahren haben die linken und fortschrittlichen Organisationen Lateinamerikas an Stärke gewonnen und Transformationsprozesse angestoßen. Außerdem brachte diese Entwicklung Führungspersönlichkeiten hervor, die gegenwärtig wichtige Positionen in den Regierungen ihrer Länder einnehmen. Dies war ein harter Schlag für den Imperialismus, weil sich die Menschen gegen die Vorherrschaft erhoben, die ihnen aufgezwungen worden war. Sie haben die Furcht überwunden, ihre Werte und Prinzipien offen auszudrücken, indem sie dem Imperium (die USA, d. Red.) demonstriert haben, dass Lateinamerika keine weiteren Einmischungen in innere Angelegenheiten mehr zulassen wird. Zudem sind die Massen und Organisationen dazu bereit, unsere Souveränität zu verteidigen.“ (aus: Abschlusserklärung des internationalen Treffens von über 50 Linksparteien aus aller Welt im November 2009 in Caracas)
Kurz vor der Jahrhundertwende war es in Lateinamerika zu Veränderungen mit weitreichenden Auswirkungen gekommen. Am 2. Februar 1999 hatte in Venezuela Hugo Chávez die Regierung übernommen. Im November desselben Jahres musste die in den Torrijos-Carter-Verträgen im Jahr 1977 festgelegte Schließung der wichtigsten US-Militärbasis in Mittelamerika, der Howard-Basis in Panama umgesetzt werden. Da für die US-Administration sehr schnell klar war, dass man mit Chávez nicht so umspringen konnte, wie man das mit anderen stets willfährigen Figuren bisher gewohnt war, sollte der Faktor Venezuela bei den weiteren Planungen die zentrale Rolle spielen. Das Pentagon entschied sich hinsichtlich der Kontrolle über die Region für vier Stützpunkte, die sich um Venezuela herum gruppieren sollten: Manta in Ecuador, Comalapa in El Salvador und die von den Niederlanden besetzten Inseln Aruba und Curaçao. In offiziellen Verlautbarungen wurden die Aufgaben der Stützpunkte wie folgt benannt: Die Kontrolle des Drogenhandels und die Bekämpfung der illegalen Einwanderung in die USA. Ignacio Ramonet weist auf „weitere verdeckte Aufgaben“ hin, die da wären: der Kampf gegen die kolumbianischen Rebellenorganisationen, die Kontrolle über Erdöl -und weitere Rohstoffvorkommen, über Süßwasserreserven und die biologischen Reichtümer der Region. Wichtig ist ihm auch ein Hinweis, der für die weitere Entwicklung bedeutend wird: „Von Anfang an zielten diese Tätigkeiten darauf ab, Venezuela zu kontrollieren und die Bolivarische Revolution zu destabilisieren.“
Warum gerade Venezuela?
Raul Zibechi, internationaler Analyst der uruguayischen Wochenzeitung Brecha, verweist auf einige Sachverhalte, die die US-Strategie plausibel erscheinen lassen. Venezuela sei, so Zibechi, „an die erste Stelle der Länder mit den weltweit größten potentiellen Erdölreserven gerückt, nachdem die staatliche Erdölgesellschaft PDVSA bekannt gab, dass sich im Orinoco-Streifen Reserven von 314 Mrd. Barrel befinden“. Und da 25 Prozent des von den USA verbrauchten Erdöls aus den Andenländern stammen, will die US-Administration alles in die Wege leiten, um in dieser Region nicht ins Hintertreffen zu geraten. Nicht nur hier, aber hier besonders, treten neue Konkurrenten um begehrte Ressourcen in Erscheinung. So schreibt Zibechi: „In der Liste der größten Handelspartner Lateinamerikas lag China vor zwanzig Jahren noch auf Platz 12, mit einem Handelsvolumen von insgesamt etwas mehr als 8 Mrd. US-Dollar. Seit 2007 ist das Land der zweitgrößte Partner und die Zahl ist auf mehr als das 13-fache angestiegen. Seit den 1990er Jahren baut China eine strategische Partnerschaft mit Brasilien auf, später sind Venezuela, Mexiko, Argentinien, Chile und Peru hinzugekommen.“ 2009 habe „China Vereinbarungen zur Verdoppelung seines Entwicklungsfonds in Venezuela auf 12 Mrd. USD geschlossen, daneben gewährt es Ecuador 1 Mrd. USD für den Bau eines Wasserkraftwerks, und Argentinien erhält für verschiedene Projekte Zugriff auf 10 Mrd. USD. Weitere 10 Mrd. USD gehen an die staatliche Ölförderungsgesellschaft Brasiliens.“ Im Hinterhof der USA bewegt sich also einiges, was der Weltmacht Nr. 1 nicht gefallen kann. Im Gefolge der Anschläge des 11. Septembers 2001 hatte die US-Führung unter Bush eine neue Militärdoktrin zur Bekämpfung des sog. internationalen Terrorismus verkündet. Nicht mehr von großen Militärbasen aus sollte die Kontrolle der US-Interessen weltweit ausgeübt werden. Vielmehr waren kleinere Einheiten in Form von „Foreign Operating Locations“(FOL) und „Cooperativ Security Locations“(CSL) angepeilt. Darunter hat man Einheiten mit weitaus weniger Personal, aber mit modernster Technologie, „Radaranlagen der neuesten Generation, enorme Satellitenantennen, Spionageflugzeuge (Orion C-130 und Awacs), Überwachungsdrohnen und weiteres Militärgerät“, zu verstehen. (I. Ramonet) Mit dieser neuen Strategie war es möglich, die Anzahl der Stützpunkte weltweit auf 865 in 46 Ländern zu vervielfachen. Dass der Staatsstreich gegen Chávez im April 2002 bereits von der Basis Manta in Ecuador logistisch unterstützt worden war, belegt nicht zuletzt die Hauptaufgabe derartiger Basen. 2005 erneuerten die USA einen Vertrag mit den Niederlanden, der die weitere Nutzung der Militärbasen auf den Inseln Aruba und Curaçao sicherstellte und die Einkreisung Venezuelas von der Küste her verstärkte.
Im Jahr 2006 sah sich die venezolanische Regierung mit einem Waffenembargo seitens der USA konfrontiert. Es wurden keine Ersatzteile mehr für die F-16 Flugzeuge der Luftwaffe geliefert. Die Maßnahme wurde zwar mit mangelndem Eifer der venezolanischen Regierung beim Kampf gegen den Terrorismus begründet, der reale Anlass dürfte aber die Ausweitung und Festigung des ALBA-Bündnisses gewesen sein und die Absicht der Chávez-Regierung, auch weiterhin eine antiimperialistische Stoßrichtung in der Außenpolitik zu verfolgen.
Reaktivierung der IV. US-Flotte
Zu einer weiteren Zuspitzung kam es im Jahr 2008 als am 1. März kolumbianisches Militär die Grenze zu Ecuador überschritt und wiederum mit logistischer Unterstützung der Basis Manta ein Lager der FARC-Guerilla zerbombte. Dieser unerhörte Vorgang veranlasste die ecuadorianische Regierung in Quito den Vertrag über die Militärbasis Manta nicht mehr zu verlängern. Die USA antworteten auf die logische Reaktion der Ecuadorianer mit der Reaktivierung der IV. Flotte, die die Atlantikküste Südamerikas im Sinne der US-Interessen unter Kontrolle halten sollte, aber seit 1948 nicht mehr im Einsatz war. Die meisten südamerikanischen Regierungen verstanden dies als deutlichen Affront und reagierten auf den feindseligen Akt mit der Gründung der „Union der Südamerikanischen Staaten“ (UNASUR) und im März 2009 mit der Initiierung des Südamerikanischen Verteidigungsrates.
Im Juni 2009 wurde unter Beteiligung der US-Basis Soto Cano der honduranische Präsident Manuel Zelaya gestürzt. (s. ARSTI Nr.166, S.16 ff) Auch wenn sich die US-Administration in der Angelegenheit über Monate bedeckt hielt, ja sogar den Eindruck erwecken wollte, der Putsch sei im Alleingang von honduranischen Kräften geplant und durchgeführt worden, wird inzwischen die aktive Rolle Washingtons kaum noch bezweifelt. Denn schließlich ist das ehemalige ALBA-Mitglied Honduras durch diesen Putsch wieder ins Lager der wenigen lateinamerikanischen US-Verbündeten zurückgekehrt und steht für weitere Planungen gegen Venezuela und die anderen progressiven Staaten uneingeschränkt zur Verfügung. Unter anderem mit einer zweiten US-Militärbasis, die in der Provinz Gracias a Diós errichtet wurde und offiziell aus verfassungsrechtlichen Gründen unter Kontrolle der honduranischen Seestreitkräfte bleiben muss. Nach Auskunft des US-Botschafters in Tegucigalpa, Hugo Llorens, wurden zwei Millionen US-Dollar und vier Schiffe für den Aufbau der Marinebasis zur Verfügung gestellt. Die Zahlen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen.
Bis Ende 2009 verfügten die USA über sieben neue Militärbasen in Kolumbien und weitere vier in Panama. Im Dezember gab die kolumbianische Regierung die Stationierung von sieben neuen Brigaden in den Grenzgebieten zu Venezuela bekannt. Es handelt sich um sechs Flugzeugbataillone und eine Spezialeinheit, die 1000 Mann umfasst. Gleichzeitig soll eine neue Militärbasis auf der Halbinsel Guajira an der Grenze zu Venezuela eingerichtet werden. Von hier aus könnten US-Truppen in 20 Minuten Venezuela erreichen. Der Aufmarsch schreitet also kontinuierlich voran.
In seiner Reflexion vom 23. Januar schreibt Fidel Castro: „Inmitten der haitianischen Tragödie, ohne dass irgend jemandem das Wie und Warum bekannt ist, haben Tausende Soldaten der Marineinfanterie-Einheiten der Vereinigten Staaten, lufttransportierte Truppen der 82. Division und andere militärische Kräfte das Gebiet von Haiti besetzt.“ Das ist vom Comandante en Jefe trefflich formuliert. Er weiß natürlich um die strategisch bedeutende Lage Haitis in unmittelbarer Nähe von Cuba und Venezuela.
Provokationen durch US-Kampfjets
Die größte Gefahr erwächst Venezuela aktuell durch sich häufende Verletzungen des Luftraums von Seiten US-amerikanischer Kampfflugzeuge, die offensichtlich die venezolanische Luftwaffe zu provozieren versuchen. Seit 2008 kommt es immer wieder zu derartigen Manövern. Bisher ist es den verantwortlichen Kräften in Venezuelas politischer Führung gelungen, die von Aruba und Curaçao aus eindringenden Kampfjets zur Umkehr zu bewegen. Die Provokationen dürften mit den holländischen Stellen und der NATO-Spitze abgesprochen sein, denn in der niederländischen Presse wurden unlängst Meldungen kolportiert, dass die Regierung ernsthaft damit rechne, die venezolanische Staatsführung plane die Niederländischen Antillen militärisch zu besetzen. Zumindest bereiteten sich niederländische Regierungsstellen auf diese Möglichkeit vor, da Chávez ein „aufständischer Spieler“ in der Region sei. (vgl. David Noack, amerika21.de) Da fragt man sich: Wird hier schon an einem Vorwand für einen Militärschlag gebastelt? Bei den mehrfachen Verletzungen des Luftraums durch Kampfflugzeuge kann es sich nicht um Unterbindung von Drogenhandel und illegaler Einwanderung gehandelt haben. Alle bekannten Details sprechen dagegen. Aber wie soll man auch von der US-Regierung erwarten, dass sie sich offen zu ihrem aggressiven Vorhaben bekennt?
Im Visier der USA: „Anti-US-Regierungen“
In US-militärstrategischen Dokumenten wird in letzter Zeit häufiger der Begriff „Anti-US-Regierungen“ verwendet. Es ist ja nicht nur die Chávez-Administration, die den US-Strategen ein Dorn im Auge ist. Zu den „Anti-US-Regierungen“ dürfen sich alle zählen, die dem ALBA-Bündnis beigetreten sind beziehungsweise den Beitritt erwägen wie etwa Paraguay. Gegen diese soll offensichtlich mittels militärischer Infrastrukturmaßnahmen der USA eine Drohkulisse aufgebaut werden. Auf die 13 kleineren Militärbasen mit ausgefeilter Logistik ist bereits hingewiesen worden. Zentrum dieser Stützpunkte soll die in Kolumbien zentral gelegene Luftwaffenbasis Palanquero werden. Zur Finanzierung der Nachrüstung des Stützpunktes beantragte die US-Luftwaffe für das Jahr 2010 46 Millionen US-Dollar. In einem mit dem Militärabkommen zusammenhängenden Dokument des Pentagon wird betont, der Stützpunkt sei „essentiell, um die US-Mission in Kolumbien und überall im Aufgabengebiet des US-Südkommandos (USSOUTHCOM) zu unterstützen“, welches ganz Lateinamerika umfasst. Der Stützpunkt biete „die Möglichkeit, umfangreiche Operationen in Südamerika durchzuführen“. Der Begründung des Haushaltsvorschlags ist auch zu entnehmen, dass die Luftwaffenbasis Palanquero „eine einmalige Gelegenheit“ biete, „umfassende Operationen in einer kritischen Teilregion unserer Hemisphäre durchzuführen, in der Sicherheit und Stabilität ständig durch Rauschgift-finanzierte Aufstände, Anti-US-Regierungen, vorherrschende Armut und wiederkehrende Naturkatastrophen bedroht sind.“
Der wichtigste Verbündete der USA ist der kolumbianische Präsident Alvaro Uribe, der demnächst das Amt an seinen früheren Verteidigungsminister Juan Manuel Santos übergeben will. Dazu muss der aber noch gewählt werden. Selbst wenn er im ersten Durchgang keine absolute Mehrheit erzielt, ist der Besitzer eines Medienkonzerns und der größten Tageszeitung, bei der Stichwahl am 20. Juni lt. Umfragen in Führung. Und das, obwohl er als Verteidigungsminister „innerhalb der Streitkräfte ein bizarres Entführungs- und Mordnetzwerk protegierte“. (Raul Zelik) Unter seiner Präsidentschaft wäre das bestehende Militärabkommen, das die Bewegungs- und Handlungsfreiheit des US-Militärs garantiert, am ehesten gesichert. „Von einer Souveränität Kolumbiens zu sprechen, ist ein Witz“, äußerte unlängst Noam Chomsky. Gerry Leech, Journalist und Kolumbienexperte aus den USA kommt zu der Einschätzung: „Das US-Militär kann die kolumbianischen Stützpunkte dafür nutzen, jedwede Art von Militäroperation gegen jedes Ziel in Südamerika zu starten.“ Und er folgert daraus: „Offensichtlich haben die Länder Südamerikas, insbesondere Venezuela und Bolivien, reichlich Grund zur Sorge.“
Während Mitte April in Caracas das neunte ALBA-Gipfeltreffen stattfand, sorgte gleichzeitig der kolumbianische Favorit der USA, Ex-Verteidigungsminister Manuel Santos, bei einer Fernsehdebatte für eine Verschärfung der Krise, indem er einen Angriff auf die Nachbarstaaten Venezuela und Ecuador nicht ausschließen wollte: „Eine Bombardierung Venezuelas wäre übereilt. Aber man muss entschlossen handeln und die Terroristen dort verfolgen, wo sie sind“, meinte sich der Hoffnungsträger der USA über alle internationalen Rechtsgrundsätze hinwegsetzen zu können.
Eskalationsstrategie an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze
Häufig Grund zur Sorge hat die venezolanische Regierung wegen der gemeinsamen Grenze zu Kolumbien. Sie ist nur schwer zu kontrollieren und ermöglicht Infiltrationen, die regelmäßig die zwischenstaatlichen Beziehungen strapazieren. So wurden im Oktober 2009 in der venezolanischen Grenzprovinz Tachira die Leichen von zehn aus Kolumbien stammenden Männern entdeckt. Während die kolumbianischen Behörden sofort Guerillaorganisationen am Werk sehen wollten, deutete für die venezolanische Regierung alles auf Paramilitärs hin, die das Grenzgebiet regelmäßig für ihre Drogengeschäfte nutzen und dabei mit oppositionellen Gruppen in Venezuela zusammenarbeiten. Wenige Tage vorher waren zwei venezolanische Soldaten getötet worden, deren Maschinenpistolen später bei Paramilitärs gefunden wurden. Der für die Provinz Tachira verantwortliche Gouverneur ist Mitglied der christdemokratischen Partei COPEI und wird verdächtigt, das Treiben der Paramilitärs wohlwollend zu dulden. Für Nicolas Maduro, Außenminister Venezuelas gibt es keinen Zweifel: „Ihr (USA, Kolumbien) Plan beinhaltet, Venezuela durch Gewalt, Morde und die Zunahme der Kriminalität an der Grenze und in den wichtigsten Städten des Landes zu destabilisieren.“ (jW 7.11.09) Im April wurde die Verhaftung von acht Kolumbianern in den venezolanischen Bundesstaaten Aragua und Barinas mitgeteilt. Venezuelas Innenminister informierte darüber, dass bereits vor Ostern im Süden von Aragua zunächst zwei Männer in der Nähe eines Kraftwerks festgenommen wurden, als sie Fotos von verschiedenen Einrichtungen des venezolanischen Stromversorgungsnetzes machten. Die weiteren Ermittlungen führten dann zur Verhaftung von sechs weiteren Personen in Barinas. Bei zwei der Verhafteten wurden später Dienstausweise der kolumbianischen Armee gefunden. Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie ein verdeckter Krieg Kolumbiens gegen Venezuela vonstatten geht. Gleichzeitig wird international eine „erbitterte Medienkampagne“ (Raul Castro) gegen Venezuela und die anderen fortschrittlichen Staaten geführt, eine Kampagne, die die Fakten verdreht. Wie „subtil, raffiniert und zugleich dreist“ diese Kampagne geführt wird, erläuterte Dietmar Schulz in seinem Artikel in Disput 12/09 am Beispiel von angeblichen Brückensprengungen von Seiten Venezuelas an der Grenze zu Kolumbien, ein Vorgang, der die „aggressive Verrücktheit“ von Chávez belegen sollte. Begierig hatten auch deutsche Medien den angeblichen Vorfall aufgegriffen und so dargestellt, als habe Venezuela „mindestens zwei Brücken an internationalen Grenzübergängen“ gesprengt. Der nachweisbare Kerngehalt des Vorwurfs besteht lt. Schulz aus folgendem Sachverhalt: „Im Kampf gegen den grenzüberschreitenden Drogenhandel zerstört die venezolanische Armee im Grenzgebiet zu Kolumbien regelmäßig illegale Landepisten, Drogenlabore und Schmugglerpfade über die Grenze.“ Ein Vorgang, der unspektakulär ist und sich nur in Verdrehung aller Tatsachen für eine Kampagne eignet. Solche Berichte in Zusammenhang mit Hinweisen auf die belegbare Aufrüstung der venezolanischen Streitkräfte können als Vorbereitung für einen Angriff missdeutet werden. Aber bleiben wir bei den Fakten: Venezuelas Militärausgaben nahmen 2006 den siebten Platz in Südamerika ein (im Verhältnis zum BIP den achten Platz). Man muss kein Militärexperte sein um herauszufinden, dass Venezuela und die anderen ALBA-Staaten für die USA keine Bedrohung sein können. So beträgt der Militärhaushalt der USA etwa das 360 fache von dem Venezuelas und Kolumbien gibt mehr als das achtfache seines Nachbarn aus. Dabei sind bei Kolumbien die enormen Militärhilfen der USA noch nicht berücksichtigt. Die von den USA so argwöhnisch betrachteten ALBA-Staaten haben auch nie einen irgendwie gearteten Anspruch auf nordamerikanische Ressourcen erhoben bzw. Einfluss auf Vorgänge in Nordamerika genommen. Die Realität ist seit fast zwei Jahrhunderten genau umgekehrt. Die fortschrittlichen Staaten des Subkontinents wollen endlich die Strukturreformen angehen, die zum Teil seit dem Beginn der formalen Unabhängigkeit von den Kolonialstaaten überfällig sind. Oder wie es der Historiker Michael Zeuske ausdrückte: „Es ist ein Kampf um Unabhängigkeit, bei dem viele Aufgaben anstehen, die in der ersten Unabhängigkeit abgewürgt, nicht gelöst oder auch in den 180 Jahren danach nicht angegangen worden sind.“ Und die Frage von Harald Neuber, ob „Venezuelas Präsident Hugo Chávez und das Staatenbündnis ALBA also in einer Reihe mit den antikolonialen Kämpfen“ stünden, beantwortete Zeuske uneingeschränkt: „Sie sind die legitimen Erben.“ (ND,19.4.10) Und als solche sind sie ebenso bedroht wie die antikolonialen Kämpfer zu früheren Zeiten. All diejenigen, die sich in letzter Zeit in den Medien über eine massive Aufrüstung auf dem lateinamerikanischen Kontinent beklagen, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, es bei einer mehr oder weniger moralischen Betrachtungsweise bewenden zu lassen. Ist beispielsweise Chávez im Ausland unterwegs, wird von einschlägigen Medien minuziös aufgelistet und darüber berichtet, wann und wo er wie viele Waffen einkauft. Benjamin Beutler merkte dazu an: „Dass ein gern gezeichnetes Bild vom Kriegstreiber Chávez als bad guy schlichtweg falsch ist, zeigen Fakten: Der größte Waffenkäufer der Region ist heute Brasilien. Unter der Lula-Regierung wuchs dessen Verteidigungshaushalt um 50 Prozent. Damit steht das Land, das die Weiten des Amazonasbeckens wegen der Drogenmafia und militanter Schmuggler im Auge behält, aber auch seine letzten Rekord-Öl-Funde vor der Atlantikküste vor fremdem Zugriff schützen will, an zwölfter Stelle in der Welt. Auf Brasilien folgt Chile, das mit seinen niederländischen F-16-Jets und britischen Fregatten immer noch über die modernste Armee Lateinamerikas verfügt.“ (Freitag ,21.09.2009) Brasilien als aufstrebende Regionalmacht und ökonomisches Schwergewicht wird nicht nach denselben „strengen“ Kriterien beurteilt wie z. B. Venezuela. Außerdem wird Präsident Lula auf einer Skala von linken Präsidenten bei den eher gemäßigten eingeordnet. Da mag ja auch was dran sein, aber hier geht es um psychologische Kriegsführung und mit solchen Zuordnungen ist eine Spaltung der lateinamerikanischen Staaten beabsichtigt. Dass das neoliberale Musterland Chile trotz seiner Hochrüstung in den imperialistischen Medien gegen jede Kritik verteidigt wird, muss nicht verwundern. Mit der Wahl des ultrarechten Milliardärs Sebastian Pinera im Januar dieses Jahres erhält das US-freundliche Lager bzw. die westliche Wertegemeinschaft einen verlässlichen Verbündeten. Manche Beobachter der Entwicklung Lateinamerikas wollen in dem chilenischen Ergebnis bereits eine generelle Trendwende nach rechts erkennen. Das greift aber zu kurz. Denn immerhin hatte es im Dezember zwei fulminante Wahlsiege der Linken gegeben: In Bolivien hatte der MAS die absolute Mehrheit der Sitze in beiden Kammern erreicht und auch in Uruguay sitzt die Frente Amplio fester denn je im Sattel. Uruguay ist zwar kein ALBA-Mitglied. Präsident Mujica hat aber sofort nach seiner Ernennung keinen Zweifel daran gelassen, dass er solidarisch an der Seite seiner fortschrittlichen Kollegen steht und für Spaltungsmanöver nicht zur Verfügung steht.
Optionen von Obama
Die aktuelle Situation in Lateinamerika, was das Kräfteverhältnis zwischen dem Block der fortschrittlichen Staaten mit Venezuela, Bolivien, Ecuador und Kuba an der Spitze und dem US-Imperialismus mit seinen Vasallen betrifft, könnte man abschließend als durchwachsen bezeichnen. Auch nicht alles, was unter dem Banner des Fortschritts segelt, hat schon eine neue Gesellschaftsordnung im Visier. Die Situation in Staaten wie Argentinien und Paraguay wäre gesondert zu betrachten. Andre Scheer schloss in der jungen Welt seinen Jahresrückblick Lateinamerika 2009 mit folgendem Ausblick ab: „Lateinamerika steuert also auf eine Kraftprobe zu. Die neue US-Administration von Barack Obama will den einstigen Hinterhof offenbar wieder zur Räson bringen und die Entwicklung neuer Gesellschaftsmodelle aufhalten.“ (jW,2.1.10) Noam Chomsky drückte es in einem Interview vom August 2009 mit Eva Golinger ähnlich aus, wenn er auf die zwei Varianten der US-Politik verwies: „eine militärische, und eine, die sie Förderung der Demokratie nennen – ein Euphemismus für Unterwerfung. Militärische Gewalt und Unterwerfung“, und Obama verfolge „beide Seiten schlicht und einfach kontinuierlich weiter“. Er mache „nichts Neues“.
Noch sind die Streitkräfte der USA mit den Interventionsfolgen im Irak und in Afghanistan bis an die Grenze ihrer Kapazitäten ausgelastet. Weitere Militärschläge wie etwa gegen den Iran und Nordkorea in nächster Zeit sind nicht völlig auszuschließen. Eine militärische Intervention gegen Venezuela oder Bolivien käme nur dann in Frage, wenn die jeweilige Regierung durch offene Unruhen ins Hintertreffen geriete. Für dieses Szenario spricht derzeit wenig. Die fortschrittlichen Staaten des Subkontinents werden weiterhin alles versuchen, um einer militärischen Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Dies geschieht durch eine Beschleunigung des Integrationsprozesses auf politischer und ökonomischer Ebene, durch den Ausbau bilateraler Beziehungen mit möglichst vielen Staaten vor allem des Südens und nicht zuletzt durch den erforderlichen Umbau der militärischen Infrastruktur zur Abschreckung des potenziellen Aggressors aus dem Norden. Ob es in dieser komplizierten Lage gelingt, die einheimische Bourgeoisie zu neutralisieren und die relevanten Teile der jeweiligen Armee auf Loyalitätskurs zu halten, wird sich zeigen.
Stand 1. Juni 2010, hd
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