Montag, 17. Dezember 2012
Versuch eines kommunistischen Standpunkts zum Bürgerkrieg in Syrien
Westerwelle, Außenminister der BRD, ist Konstrukteur der künftigen Unterwerfung Syriens unter die
Interessen des deutschen Imperialismus. Der Plan heißt: „The Day After“. Er wurde Ende August von
den syrischen Schützlingen Westerwelles im Saal der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt und
bezieht sich so wie der ähnlich lautende Filmtitel auf den Tag nach einer gigantischen Katastrophe.
Ohne eine solche Katastrophe kein Tag danach, und an dieser Katastrophe für das syrische Volk
arbeitet das Auswärtige Amt seit Monaten tatkräftig. Wie die deutsche Außenpolitik zündelt und
dabei die inneren Widersprüche in Syrien nutzt, das ist u.a. Inhalt des im Folgenden abgedruckten
Referats, das Ende Juli 2012 auf dem Sommercamp „Anton Makarenko“ der KAZ gehalten wurde.
Nach der Veranstaltung „The Day After“ in Berlin lud Westerwelle syrische Oppositionelle sowie 60
Vertreter aus Ländern aus aller Welt in den „Weltsaal“ des Auswärtigen Amtes ein, um sie gemeinsam
mit einer Staatsministerin der Vereinigten Arabischen Emirate auf „Freiheit und Demokratie für Syrien“
einzuschwören. Und er forderte eine „gemeinsame Plattform aller oppositionellen Gruppen, die sich
der Demokratie, der Toleranz und dem Pluralismus verschrieben haben“. Was ist daran für Westerwelle
so wichtig? In der Zerstrittenheit dieser „Oppositionellen“ spiegeln sich die Widersprüche unter den
Imperialisten. So berichtet z.B. das Hamburger Abendblatt am 30.08.12 über die Zusammenarbeit von
Frankreich und Großbritannien zur Syrien-Krise – ohne Deutschland – und schreibt: „Derweil mehren
sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den verschiedenen Gruppierungen der syrischen Oppo-
sition, die im In- und Ausland mit Worten oder Waffen für den Sturz des Regimes kämpfen. Radikale
Islamisten warfen den Muslimbrüdern vor, gemeinsam mit französischen Diplomaten an einem Sze-
nario zu arbeiten, das die Bildung einer Übergangsregierung unter Einbindung des ehemaligen Assad-
Vertrauten Manaf Tlass vorsehe.“ Westerwelle hat also allen Grund, sich über die fehlende „Einigkeit
der Opposition“ Sorgen zu machen.
Syrien als Schlachtfeld des deutschen gegen die anderen Imperialisten – das ist nicht nur eine
Katastrophe für die Menschen in Syrien, sondern eine weitere Gefahr für den Frieden auf der Welt.
Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieser Zeitung wissen wir nicht, ob es Krieg von Imperialisten
gegen Syrien geben wird, und wir wissen nicht, wie sich dann die BRD dazu verhält. Wir wissen
nur: Ihr „Friede“ ist aus demselben Stoff wie ihr Krieg. Hände weg von Syrien! Keine „friedliche“
oder militärische Einmischung!
KAZ-Arbeitsgruppe „Zwischenimperialistische Widersprüche“
Wie fast alle hier wissen, bin ich in der Frage
Syrien doppelt beschäftigt. Zum einen als syrischer
Staatsbürger aus einem kommunistischen Hause
in dritter Generation, Teile meiner Familie befinden
sich in diesem Land und müssen ihr Leben dort
klar kriegen. Zum anderen als deutscher Kommu-
nist, der sich Sorgen um den Weltfrieden macht,
angesichts der sich zuspitzenden Widersprüche
der imperialistischen Mächte im Rahmen der Wirt-
schaftskrise und aufgrund der geostrategisch wich-
tigen Lage der Region.
Dieses Referat werde ich in zwei Teile unterglie-
dern: zum einen die syrische Perspektive auf die
Situation und zum anderen die Rolle unserer deut-
schen Imperialisten, die gut verstrickt sind. Ich
werde einige historische Grunddaten des modernen
Syrien schnell erwähnen, um ein Verständnis von
dem Land und seinen nationalen Besonderheiten
zu vermitteln.
Zu Beginn des vergangen Jahrhunderts befand
sich Syrien unter osmanischer (türkischer) Besatzung.
In dieser Zeit beginnt die feudale Gesellschaft ihren
Niedergang. Vermehrt setzt sich das Warengesetz in
allen Lebensatmosphären des syrischen Volkes
durch. Auch die deutschen Imperialisten zeigen In-
teresse an dem Gebiet des von ihnen halbkoloniali-
sierten Osmanischen Reichs. Der deutsche Kaiser
besucht Damaskus und verkündet seine Freundschaft
mit den muslimischen Völkern unter dem Osmani-
schen Kalifat. Der deutsche Imperialismus versucht
seine Interessen in zwei wesentlichen Punkten durch-
zusetzen. Einmal die Bagdad-Bahn und, viel wich-
tiger, das osmanische Reich und damit auch Syrien
in seinem ersten Anlauf zur Weltmacht für sich zu
gewinnen. Das Ergebnis dieses ersten Anlaufes des
deutschen Imperialismus war die Niederlage für ihn
und seine Verbündeten. In dieser Zeit wachsen in
der Türkei und in den arabischen Regionen türkische
und arabische Nationalbewegungen. Während es der
türkischen Bewegung gelingt, eine souveräne Türkei
zu errichten, werden die arabischen Nationalbewe-
gungen von den imperialistischen Gegnern Deutsch-
lands unterstützt und später von diesen ehemaligen
„Freunden“ besetzt. Syrien und Libanon fallen unter
französisches Mandat, es wird leicht industrialisiert,
die kapitalistische Warengesellschaft setzt sich durch.
Auf rechtlicher Ebene wird ebenfalls reformiert. In
Syrien bildet sich eine Kommunistische Partei, wobei
sich die antikoloniale Bewegung nicht um die KP
formiert. Die KP formiert im Jahr 1938, unter Teil-
nahme liberaler Kräfte, eine breite antifaschistische
Volksfront (in Syrien formiert sich beispielsweise die
Syrische sozialnationalistische Partei, eine pro-itali-
enische faschistische Partei). Mit dem Überfall auf
die Sowjetunion verändern die syrischen Kommu-
nisten ihre Position zum französischen Besatzer.
Diese sind Partner im antifaschistisch-antideutschen
Kampf. Die Partei verübt Angriffe auf die deutsche
Botschaft in Beirut und Damaskus. Syrien wird kurz-
zeitig von dem prodeutschen französischen Vichy-
Regime besetzt und innerhalb kurzer Zeit mit Un-
terstützung der Briten befreit. Syrien erlangt seine
Unabhängigkeit, wird Teil der Anti-Hitler-Koalition
und Gründungsmitglied der UNO.
Syrien und Libanon erlangen getrennt ihre Un-
abhängigkeit und Syrien erlebt eine kurze Zeit des
bürgerlichen Parlamentarismus. Ab 1951 beginnt
jedoch eine Welle von Putschen, der letzte bringt
1970 Assads Vater an die Macht. In dieser Phase
vereinigen sich Syrien und Ägypten unter Gamel
Abdel Nasser für drei Jahre und spalten sich wieder.
Nasser führt eine Landreform durch und verstaatlicht
die Industrie. Die Baath-Partei (also die arabisch-
nationalistisch „sozialistische“ Partei) putscht 1963
gegen das liberale Regime, in den folgenden sieben
Jahren putschen die Baathisten untereinander, bis
Assad an die Macht kommt. Die Baathisten führen
erneut die Landreform und eine Verstaatlichung
durch. Bei den Putschen handelt es sich um Ausei-
nandersetzungen innerhalb der Baath-Partei zwi-
schen Rechten und Linken. Die Rechten sympathi-
sieren mit dem deutschen Blutsnationsbegriff, die
Linken eher mit dem französischen Nationsbegriff.
Aber auch um die „soziale Frage“ wird gekämpft, die
Linien sind nicht so klar. So fällt das Urteil über
Assads Flügel unterschiedlich aus. Bei einigen Au-
toren handelt es sich um einen rechten (Anhänger
der Blutsnationtheorie wie bei Achcar), bei anderen
um einen linken (Anhänger der sozialen Reform wie
bei Patrick Seale, einem britischen Assad-Freund).
Jedenfalls bringt Assad für die Syrer ein Gefühl
der Stabilität. Bis Ende der 1970er gibt es keinen
einzigen Putsch. Erst Ende der 1970er, Anfang der
1980er beginnen die Islamisten zu rebellieren. Dem
gescheiterten Versuch einer islamistischen Revolu-
tion entspricht die Entwicklung in der gesamten
Region, der sich kennzeichnenden Niederlage der
kommunistischen Linken und der falschen Hoff-
nungen in den arabischen Pan-Nationalismus. Die-
ser hatte in Syrien und im Irak seine letzten Hoch-
burgen. Ökonomisch gesehen sind die Träger dieses
Protestes die Kleinhändler, Angehörige der studen-
tischen Intelligenz, Kleinproduzenten sowie im
Hintergrund Teile der syrischen Bourgeoisie, die
mit dem Auslandskapital verbunden sind. Der ara-
bische Nationalismus bringt dem Land einen mas-
siven „Sozialisierungsschub“, sodass selbst Kleinst-
produzenten verstaatlicht werden. Das treibt diese
Schichten in einen Widerspruch zur herrschenden
Klasse Syriens. Die kleinbürgerlichen Islamisten
verüben in dieser Zeit verschiedenste Terrorakte
gegen Baathisten, Kommunisten, Liberale und wis-
senschaftliche Kräfte, aber auch gegen Angehörige
der religiösen Minderheit der Alawiten. Der Höhe-
punkt dieses islamistischen Terrors ist der Aufstand
in Hama 1982. Ich gehe deswegen darauf ein, weil
er aktuell in Diskursen verwendet wird, um die
Brutalität des syrischen Regimes zu demonstrieren.
Nach Augenzeugenberichten aus dem Freundeskreis
meiner Eltern und Berichten von syrischen Kom-
munisten haben die Islamisten in Hama in gewohn-
ter Manier baathistische, kommunistische und sä-
kulare Frauen auf offener Straße vergewaltigt und
ermordet. Auch die Männer wurden ermordet.
Das Regime reagiert mit äußerster Brutalität auf
den gescheiterten Aufstand, neben dem Einsatz von
Panzern und der Bombardierung der Stadt von
außerhalb wird die Stadt mit der „weißen Waffe“
(Messer) von männlichen potenziellen Islamisten
gesäubert! Dies geschieht alles in einer Zeit, zu der
die internationalen Verhältnisse für das syrische
Regime ungünstig sind. Israel marschiert in den
Libanon ein, zusätzlich besteht ein antisyrisches
Bündnis aus dem baathistischen Irak, der PLO und
Teilen der libanesischen Armee. Die Türkei und
Jordanien üben ebenfalls Druck auf Syrien aus. Der
ausländische Druck und der Aufstand im Inneren
erzwingen eine solche mörderische und brutale
Unterdrückung in Hama. Die Auswirkungen sind
verheerend für das politische Leben in Syrien. Die
politischen Parteien und die Zivilgesellschaft bre-
chen bis Ende der 1990er, Anfang der 2000er zu-
sammen. Hier beginnen ein neues politisches Leben
und Schritte von linken, kommunistischen, libera-
len und teils islamischen Einzelpersonen zur Wie-
derbelebung der Zivilgesellschaft. Es entsteht eine
Bewegung von Intellektuellen, die öffentliche Dis-
kussionsclubs und Unterschriftensammlungen mit
Forderungen nach Ende der führenden Rolle der
Baath-Partei, freiem Versammlungs- und Vereini-
gungsrecht, der Gründung von freien Gewerkschaf-
ten und weiteren progressiven Forderungen orga-
nisieren. 2003 kommt es dann auch zu einer Spal-
tung der anti-revisionistischen und regierungstreu-
en Kommunistischen Partei Syriens. Die Spaltung
wurde von 1.000 Kommunisten bald schriftlich
unterstützt. Ab 2000 beginnt die entscheidende
Phase der wirtschaftlichen Liberalisierung. Private
und ausländische Banken werden zugelassen, die
Subventionen von Lebensmitteln und landwirt-
schaftlichen Produkten werden aufgehoben, etc.
etc. Die Linien der drei syrischen Kommunistischen
Parteien in Regierung und Opposition stimmen
darin miteinander überein, die nationale Souverä-
nität gegen den Imperialismus zu verteidigen, und
zwar nicht nur gegen den US-Imperialismus, son-
dern auch gegenüber seinen europäischen Varian-
ten, sowie die neue ökonomische Linie der Regie-
rung abzulehnen. Diese Linie wurde in der Volks-
kammer an den Beispielen der Euromediterranen
Union praktiziert, aber auch in der Reform des
Arbeitsgesetzes und außerparlamentarisch in Un-
terschriftensammlungen gegen Privatisierungen und
in der Solidarität mit den wenigen streikenden Ar-
beitern Syriens. So viel zur Geschichte des moder-
nen Syrien, nun zum Aufstand selber:
Ich werde aufgrund des Zeitmangels mit Thesen
arbeiten.
These 1: In Syrien herrscht die nationale Bour-
geoisie seit 1963 mit der Baath-Partei. 1972 wurde
ein antiimperialistisches Bündnis zwischen Ver-
tretern der nationalen Bourgeoisie, in verschiede-
nen organisatorischen Formationen, unter Führung
der Baath-Partei, mit Einbezug der Arbeiterklasse
und ihrer marxistisch-leninistischen Partei, der
Syrischen Kommunistischen Partei, geschlossen.
Die nationale Bourgeoisie hat nicht nur den US-
Imperialismus aus dem Land gejagt, sondern auch
den französischen Imperialismus. Aber vor allem
hat das Baath-Regime auf die Industrialisierung
des Landes gesetzt und so die Existenz einer vom
Imperialismus unabhängigen syrischen Bourgeoi-
sie ermöglicht. Projekte waren z.B. die Elektrifi-
zierung des gesamten Landes, Schaffung einer
leichtindustriellen Basis (Chemie [z.B. Zement,
Medikamente], Erdöl und -gasindustrie [Raffine-
rie], Lebensmittelindustrie, Textilindustrie und
Herstellung und Zusammenbauen von Haushalts-
geräten [z.B. Kühlschränke]) und die Bildung einer
Lebensmittelsouveränität.
These 2: Mit der sich kennzeichnenden Nie-
derlage des sozialistischen Lagers beginnt ein Pro-
zess der langsamen Öffnung und Liberalisierung
des syrischen Marktes für die imperialistischen
Staaten, z.B. Kooperationen mit dem französischen
Total-Konzern in der Erdölindustrie. Die Libera-
lisierung erreicht mit dem neuen Präsidenten ab
2000 eine neue Qualität. Syrien öffnet die Türen
für Kapitalexport in Form von Banken und Unter-
nehmen, diese haben jedoch keinen großen Ein-
fluss auf die Wirtschaft. Nach Daten des syrischen
Investitionsministeriums betragen die gesamten
ausländischen Investitionen in Syrien etwa fünf
Prozent des Bruttosozialprodukts des Landes. Es
geht in diesem Prozess um die Verbesserung der
Bedingungen für die eigene Bourgeoisie. So soll
mit der wirtschaftlichen Liberalisierung Kapital
entbürokratisiert in den syrischen Markt gelangen
und syrische Unternehmer unterstützen. In diesem
Rahmen werden auch die Rechte der Arbeiterklas-
se massiv angegriffen. Der Anteil der syrischen
Arbeiterklasse sinkt von 40 Prozent auf 33 Prozent
innerhalb von vier Jahren zwischen 2004 und 2008,
das ist ein Verlust von 20 Prozent. Im Endeffekt
gibt es einen massiven Reallohnverlust. Die neue
Wirtschaftspolitik basiert auf einer Krise des staat-
lichen Wirtschaftssektors in Form von massiver
Korruption und der daraus resultierenden Unwirt-
schaftlichkeit.
These 3: Verlierer der neuen wirtschaftlichen
Politik sind neben der Arbeiterklasse auch die
Bauern. Hier werden die Bedingungen für land-
wirtschaftliche Kredite aufgrund von Bankenkon-
kurrenz schwieriger, die früher zu günstigen Be-
dingungen von landwirt-
schaftlichen Genossen-
schaftsbanken vergeben
wurden. Die Subventio-
nen für die landwirt-
schaftliche Produktion
werden im Rahmen der
Bemühungen zur Kredit-
aufnahme beim IWF ge-
strichen.
These 4: Der Gewin-
ner der neuen Wirt-
schaftspolitik war die
Großbourgeoisie aus
Handel und Industrie um
den Präsidenten.
These 5: Die objektiven Gründe für den Aufstand
im März des vergangen Jahres liegen in der neuen
Wirtschaftspolitik, der Verarmung der breiten Mas-
sen aus Arbeitern, Bauern, Kleinproduzenten und
Handwerkern. Hinzu kommt die politische Unfrei-
heit. Träger des Protestes rekrutieren sich aus Bau-
ern und den sozialen Zwischenschichten. Die Ar-
beiterklasse hat sich trotz massiver Angriffe daran
beteiligt, zumindest bis März diesen Jahres.
These 6: Entsprechend der sozialen Zusammen-
setzung aus Bauern und den sozialen Zwischen-
schichten, die kein revolutionäres Programm besit-
zen, formulierten sich ökonomisch inhaltsleere
Forderungen nach der formalen Demokratisierung
des Landes. Diese Forderungen ließen sich aufgrund
der Zurückhaltung der syrischen Arbeiterklasse
durch einen Teil der syrischen Bourgeoisie für die
imperialistischen Ziele lenken. Die heutigen For-
derungen nach einer Flugverbotszone sowie einer
Pufferzone im Norden und Süden des Landes und
einer ausländischen Intervention sind Ausdrücke
der Unfähigkeit dieser Bewegung ihr Programm für
die gesamte syrische Nation durchzusetzen.
These 7: Der syrische Staat verteidigt sich mit
brutalsten Mitteln gegen die Aufständischen, die
Aufständischen verteidigen sich ebenfalls mit bru-
talsten Mitteln gegen das Regime und seine An-
hänger. Es herrscht eine Pattsituation im nationa-
len wie internationalen Kräfteverhältnis, sodass
weder die eine noch die andere Seite den Bürger-
krieg für sich entscheiden kann.
These 8: Eine politische innersyrische Lösung
ist angesichts der Pattsituation die einzige Lösung
der Krise. Wer dies nicht zur Kenntnis nimmt und
dementsprechend handelt, wird zwangsläufig un-
tergehen. Anders ausgedrückt, wer heute auf seiner
radikalen Position beharrt und z.B. keine echten
Reformen umsetzt oder die Parole „Sturz des Re-
gimes“ verteidigt, wird bald von den Massen ver-
lassen! Das Regime hat aufgrund der Machtver-
hältnisse bessere Karten.
These 9: Der syrische Staat hat Schritte für Re-
formen unternommen, z.B. die Einbürgerung der
staatenlosen Kurden, die Abschaffung der führenden
Rolle der Baath-Partei, eine neue Verfassung und
eine Regierung der kleinen nationalen Einheit. Auf
seiten der offiziellen Opposition gibt es nur Radi-
kalität zum Sturz des Regimes unter allen Bedin-
gungen und mit allen Mitteln. Dieser Weg hat sich
angesichts der internationalen Kräfteverhältnisse,
insbesondere durch die Rolle der Russischen Föde-
ration und der sozialistischen Volksrepublik China,
als illusorisch erwiesen. Dazu kommt die Unfähig-
keit der syrischen offiziellen Opposition zur Selbst-
kritik und Gewinnung von neuen Schichten durch
soziale und neue politische Forderungen oder For-
mulierung eines umstürzlerischen Programms, an
dem sich breite Teile des syrischen Volkes sammeln
können. Mit Terror wird kein System und auch kein
Regime stürzen. Syrien hatte bereits in den späten
1970er und frühen Achtzigern den islamistischen
Terror teuer überstanden.
Nun zu einigen wenigen Aspekten, bevor ich
noch auf die Rolle Deutschlands eingehe.
Zu allererst möchte ich die Kräfteverhältnisse
innerhalb des Regimes ansprechen. Ich nehme dazu
das Beispiel der neuen syrischen Verfassung. An-
dere mögen meinen, es ist nicht des Papiers wert,
ich sage, man kann anhand dieses Papiers die Kräf-
everhältnisse innerhalb des Regimes einsehen. Die
neue Verfassung brachte nicht nur die formale Ab-
schaffung des Sozialismus (der in Wirklichkeit ja
nie bestand) und die Einführung von Pluralität bei
den Wahlen, sondern verbesserte auch die rechtliche
Lage der Arbeiterklasse. So gibt es in der Verfassung
drei Punkte: Einmal die Wiedereinführung des
Streikrechts als Verfassungsrecht für die Arbeiter-
klasse, ein Recht, das 1968 durch die Baathisten
und die Gewerkschaftsführer abgeschafft wurde.
Zum Zweiten die Verankerung noch zu vermitteln-
der Mindestlöhne, die per Verfassungsrecht an die
Inflationsrate angepasst werden müssen. Drittens
der Auftrag einer jeden syrischen Regierung, an der
sozialen Sicherheit und ihrer Vereinbarung mit der
Entwicklung des wirtschaftlichen Wachstums fest-
zuhalten. Diese Verfassungsrechte und -pflichten
zeigen, dass in der syrischen herrschenden Klasse
weiterhin an dem Bündnis mit der Arbeiterklasse
festgehalten wird und an ihrem politökonomischen
Anti-Imperialismus nicht zu rütteln ist. Die Wahlen
haben dies auch gezeigt: Neben der Erstarkung der
Baath-Partei erstarkten auch die Kommunistischen
Parteien in ihrer Summe. Hatten die Kommunisten
früher sieben Sitze (verteilt auf zwei Parteien) von
250 Sitzen, so haben sie heute 14 Sitze (verteilt auf
drei Parteien) von ebenfalls 250 Sitzen. Die oppo-
sitionelle Kommunistische Partei, unter dem Namen
„Volkswille Partei“, erringt drei Sitze. Ihr Bündnis-
partner erringt 2 Sitze. Die offizielle KP erhielt acht
Sitze, die zweite offizielle KP erhielt drei Sitze. Ent-
scheidend ist aber die Bildung der Regierung, dort
gelang es der oppositionellen KP einen Minister für
Inlandshandel und Verbraucherschutz, gleichzeitig
als stellvertretenden Ministerpräsidenten für Wirt-
schaftsfragen zu entsenden.
Dann komme ich zur Frage der Massaker in
Syrien, die letztendlich als Kriegsbegründung ge-
nutzt werden. Hier zeigen die deutschen Medien
unzensiert Bilder von Kinderleichen, um das deut-
sche Volk für einen möglichen Krieg zu sensibili-
sieren. An Beispielen von Hama, Al-Hula und
Tremseh wird deutlich, dass diese Massaker medial
benutzt werden, um UNO-Beschlüsse zu erzwingen.
Alle diese Massaker fanden ein paar Tage vor einer
wichtigen Sicherheitsratssitzung zu Syrien statt.
Eine Regierung, die sich so verhält, ist entweder
blöd oder selbstmörderisch. Am Beispiel Al-Hula
berichteten selbst die deutschen Leitmedien wie die
FAZ, natürlich erst Tage nach der Sicherheitsrats-
sitzung, dass die syrische Version der Ereignisse
eher der Wahrheit entspricht. Demnach wurden
vermeintliche und tatsächliche Anhänger des Regi-
mes von sektiererischen Terrorbanden massakriert.
Ich muss persönlich sagen, dass ich von den vielen
Bildern von getöteten Kindern, Leichenschändun-
gen, Foltervideos und vielem mehr, die auf Youtube
unzensiert zu finden sind, emotional abgehärtet
wurde und angeekelt bin. Auch in Tremseh hieß es
zuerst, es seien unbewaffnete Zivilisten. Jedoch
musste die Untersuchung der UNO-Mission die
offizielle syrische Version bestätigen. Es handelte
sich um ein Lager einer Einheit der Freien Syrischen
Armee (FSA), die wenige Stunden zuvor syrische
Militäreinheiten tödlich angegriffen hatte.
In den Fällen Al-Hula und Tremseh, den schänd-
lichsten Massakern, konnte die UN-Mission der
syrischen Regierung keinen Vorwurf machen. Selbst
im Falle des türkischen Flugzeugs stimmte zum Teil
die syrische Version der Ereignisse. Demnach, das
mussten türkische Militärs zugeben, drangen die drei
türkischen Kampfflugzeuge mehrmals in syrische
Hoheitsgebiete ein und wurden aber nicht von der
syrischen Luftabwehr abgeschossen, sondern der
Pilot starb im Flugzeug in Reaktion auf die aufgereg-
ten syrischen Sicherheitskräfte, die mit ihren Geweh-
ren geschossen haben. Die türkische Militärführung
befahl dem Co-Piloten das syrische Hoheitsgebiet
zu verlassen. Ihm gelang es nicht und er stürzte in
syrischem Gewässer ab! Der Zweck dieses Militär-
einsatzes war die Provokation, wie es die Frankfur-
ter Rundschau bestätigt. Trotz allem ist die NATO
nicht gewillt einen Krieg in Syrien anzuzetteln.
Die Rolle des deutschen Impe-
rialismus in der Syrien-Krise
Wenn ich die Linie des deutschen Imperialismus
in der unmittelbaren Syrien-Krise analysieren will,
so stelle ich fest, dass es sich um zwei Linien han-
delt. Fest mache ich dies vor allem an der Stiftung
Wissenschaft und Politik (SWP), einem Thinktank
des deutschen Imperialismus. Aus diesem Haus
stammen zwei Studien von Anfang März zum Um-
gang mit der Syrien-Krise. Die eine Studie aus dem
Nahost-Experten-Team der Stiftung riet zur Vermei-
dung einer Gewalteskalation und einer ausländi-
schen, letztendlich deutschen, Intervention. Hier-
nach stehe eine große Mehrheit des Sicherheitsap-
parats Syriens hinter dem Präsidenten, die Freie
Syrische Armee bilde trotz ihres Wachstums keine
ernstzunehmende Bedrohung für das Regime. Die
weiteren Entwicklungen dürften in einen ethnischen
Bürgerkrieg münden. Die weitere Militarisierung
des Aufstandes wird das die Kräfteverhältnisse vor
Ort nicht wesentlich verändern, sondern die Anzahl
der zivilen Opfer steigen lassen. Deutschland solle
die Isolation des Regimes, auch im Inland, betreiben.
Auf der anderen Seite der deutschen Strategen ste-
hen, auch aus dem Haus der SWP, die Experten für
Sicherheitspolitik. Diese sind Anhänger einer aus-
ländischen Intervention, letztendlich mit deutscher
Beteiligung. Nach dieser Forschungsgruppe sei eine
militärische Intervention in Syrien kein Versagen
der Politik, sondern elementarer Bestandteil der
Politik. Bei der Beurteilung der UNO zu den Ereig-
nissen in Syrien, es handle sich um „Verbrechen
gegen die Menschlichkeit“, ergebe sich auch ohne
UN-Mandat eine Möglichkeit für eine militärische
Intervention. Die Stimmung in den imperialistischen
Staaten sei zwar „einsatzmüde“, aber die allgemei-
ne Position für eine „berechtigte“ Intervention sei
vorhanden. In der Studie werden Kriegsszenarios
vorgestellt. In einem Artikel von German Foreign
Policy1 wird ein Herr Voigt (SPD), ehemaliger Ko-
ordinator der Bundesregierung für deutsch-ameri-
kanische Zusammenarbeit, zitiert. Herr Voigt sagt,
es handle sich in Syrien nicht um „Menschenrech-
te versus Diktator“ und man müsse das ganze aus
„machtpolitischem Blickwinkel“ betrachten. In
ähnlicher Manier argumentierte Hans-Christof
Kraus in der FAZ. Er wisse, dass es nicht darum
gehe, der „bedauernswerten syrischen Bevölkerung
zu helfen“, sondern um „geostrategische Erwägun-
gen“ und „Machtpolitik“. Zur Debatte in Deutsch-
land sagte er: „Vor allem in Deutschland scheint die
Unkenntnis, mit der diese Auseinandersetzung
derzeit diskutiert wird, grenzenlos zu sein.“
Weitere Belege für Differenzen innerhalb der
deutschen Bourgeoisie sind die mediale Berichter-
stattung. Während die allgemeine Linie vom Zeigen
bewegender Bilder von massakrierten Kindern und
Zivilisten bestimmt wird, um das deutsche Volk und
die fortschrittlichen Kräfte zu verblenden, gibt es
hiervon immer wieder Ausnahmen. Wer genau die
Berichterstattung in der FAZ zum Massaker in Al-
Hula verfolgte, wo letztendlich das syrische Regime
von dem Massaker freigesprochen und den Rebel-
len zugeschoben wurde, der wird vom Vorhanden-
sein einer zweiten Linie innerhalb der deutschen
Bourgeoisie überzeugt sein. Weitere Beispiele sind
der Spiegel, wo über mordende FSA-Einheiten in
Homs berichtet wird, oder die Berichte der Frank-
furter Rundschau zum Vorfall mit den türkischen
Militärflugzeugen und über die Begrüßung der Jour-
nalisten in den „befreiten“ Grenzübergängen durch
die Al-Qaida Maghreb. Oder selbst die in der ARD
entdeckten manipulierten Videos aus Homs.
Kurz, die deutsche Bourgeoisie ist gespalten in
Bezug auf einen möglichen Krieg gegen Syrien,
bzw. sie ist differenzierter. Es handelt sich um zwei
ergänzende Strategien. Das mag die deutsche
scheinbare, relative Zurückhaltung in Sachen Sy-
rien begründen, wenn man dies mit den Kriegsge-
bärden durch Sarkozy und seinen „sozialistischen“
Nachfolger Hollande vergleicht, ebenfalls die ver-
bale Bereitschaft Großbritanniens und der USA
zu einer militärischen Intervention in Syrien und
deren offenkundige Unterstützung der offiziellen
syrischen Opposition.
Die deutsche Bourgeoisie mag in Sachen einer
militärischen Intervention in Syrien etwas diffe-
renzierter sein, sie ist aber nicht handlungsunfähig
oder ein Friedensengel. Sie stimmt mit den anderen
westlichen Imperialisten in der Zielsetzung, das
syrische Regime zu stürzen, aus den verschiedens-
ten Gründen überein.
In der Frage der Syrien-Krise geht es dem deut-
schen Imperialismus in (zumindest formaler) Über-
einstimmung mit den anderen Imperialisten um
Kriegsvorbereitungen gegen den Iran, die Umzing-
lung der sozialistischen Volksrepublik China und
der Russischen Föderation. Es geht ebenfalls in
Übereinstimmung mit den anderen imperialisti-
schen Staaten um die Ausplünderung der syrischen
Märkte. Das klingt erst mal allgemein und das ist
es auch, denn in den Details liegen die Differenzen
zwischen dem deutschen Imperialismus und den
anderen imperialistischen Staaten. In der Frage
der Kriegsvorbereitung gegen den Iran steht die
deutsche Bourgeoisie unentschlossen da. Zum
einen machen einige deutsche Monopole wie Sie-
mens und Co. gute Geschäfte mit dem Mullah-
Regime in Teheran, zum anderen sind andere Mo-
nopole doch an dem Sturz des iranischen Regimes
interessiert, ebenfalls aus ökonomischen Interes-
sen. Die Umzinglung Chinas verläuft bei den deut-
schen Strategen anders als die der USA. Hier gilt
es, lokale Gegenkräfte zu China aufzubauen, sie
in Stellung gegen die Volksrepublik zu bringen und
nicht selber aktiv zu werden. Zu Russland verhält
sich die deutsche Bourgeoisie ebenfalls gespalten.
Einige sehen in Russland eine mögliche strategische
Alternative zu Frankreich gegen die USA und einen
Lieferanten von billigen Energieträgern. Die Aus-
plünderung des syrischen Marktes verläuft am
besten ohne imperialistische Konkurrenz. Das mag
auch die Begründung sein, warum der deutsche
Imperialismus nicht offen aggressiv auftritt und in
völliger Übereinstimmung mit den anderen impe-
rialistischen Staaten mitmacht.
Welche konkreten Interessen
verfolgt der deutsche Imperia-
lismus in Syrien?
Die Deutsche Rohstoffagentur (Lobbyvereini-
gung der Energiekonzerne) schrieb in einer Pres-
semitteilung: „Vor dem Hintergrund der derzeiti-
gen politischen Entwicklung in Syrien gibt die
Deutsche Rohstoffagentur (DERA) in der Bun-
desanstalt für Geowissenschaften und Rohstof-
fe (BGR) Informationen zu Vorräten und Poten-
zialen von Erdöl und Erdgas sowie den Ener-
gierohstofflieferungen nach Deutschland heraus.“
Und formuliert kurz danach aus aktuellem Anlass
die Zielsetzung: „Das bisher etwa 2.300 km lan-
ge Gaspipeline-Netz soll in den kommenden
Jahren weiter ausgebaut werden. Die Arab Gas-
pipeline (AGP) aus Ägypten über Jordanien soll
bis 2012 an das türkische und damit europäische
Gaspipelinenetz angeschlossen werden. In Homs
wurde 2004 ein nationales Gaskoordinierungs-
und Verteilungszentrum errichtet. Damit versucht
Syrien seine geographische Mittellage zwischen
Europa und den öl- und gasreichen Staaten des
Nahen Ostens (insbesondere Irak und Ägypten)
als ,oil and gas hub‘ zu nutzen.“
Syrien ist ein Erdöl- und Erdgasknotenpunkt
zwischen den öl- und gasreichen Staaten des Na-
hen Ostens. Im Rahmen der sogenannten Ener-
giewende gewinnt ein solches Projekt für den
deutschen Imperialismus größere Bedeutung. Sy-
rien ist ein geostrategischer Knotenpunkt. Ergän-
zend dazu gibt es deutsche Projekte zur Wieder-
belebung des Bagdad-Bahn-Projekts, da dürften
Monopole wie die Deutsche Bahn und Siemens
große Interessen an einer Nutzung der Proteste im
Sinne eines pro-deutschen „Regime Change“ ha-
ben. Die Deutsche Bahn ist laut German Foreign
Policy2 in den arabischen Golfstaaten sehr aktiv.
Das Mitglied der Deutschen Burschenschaften und
Bundesverkehrsminister Ramsauer (CSU) sagte
kurz vor dem Aufstand in Syrien: „Ich denke zum
Beispiel an eine Eisenbahnverbindung, die den
Persischen Golf mit dem Mittelmeer verbindet.“
„Produkte aus dem Nahen und aus dem Mittle-
ren Osten könnten in Zukunft auf neuen Schie-
nenstrecken zu den großen syrischen Häfen ge-
bracht und von dort aus nach Hamburg verschifft
werden“. Bis zur Vollendung der syrischen Schie-
nenstrecken werde „die Fahrrinne der Unterelbe
(...) hoffentlich vertieft sein“. Insgesamt gehe es
„um infrastrukturellen Ausbau auf breitester
Front“: Involviert seien „Schiene, Straße, Flugver-
kehr, maritime Wirtschaft, Energieversorgung
und Telekommunikation“.
Syrien nimmt somit eine wichtige Rolle in der
geostrategischen Politik des deutschen Imperialis-
mus ein. Die konkreten Projekte des deutschen
Imperialismus in Syrien sind große Projekte, die
über die Grenzen Syriens und ihre unmittelbaren
Bedeutung hinausgehen. Die Politik der Bundesre-
gierung folgt den Interessen des deutschen Finanz-
kapitals. Es wundert in diesem Rahmen niemanden,
dass sich aus der „Freunde Syrien“-Gruppe ein
Arbeitskreis zur Reformierung der syrischen Wirt-
schaft unter deutscher Führung in Kooperation mit
den Vereinigten Arabischen Emiraten mit Sitz in
Berlin gebildet hat. Der Arbeitskreis wird von
Deutschland mit 600.000 Euro mitfinanziert und
soll „langfristige Strategien“ für die Wirtschaftspo-
litik Syriens entwickeln. Es geht um die Förderung
des Übergangs zur sozialen Marktwirtschaft, aber
auch um „Entwicklungsprojekte“. Es geht aus Sicht
des Syrischen Nationalrates in diesem Arbeitskreis
u.a. um die Anlockung von ausländischen Investi-
tionen. Welche ausländischen Investitionen dies
unter deutscher Führung sind, dürfte klar sein!
Vor wenigen Tagen veröffentlichte auch die Zeit
einen Artikel über das geheime Zusammentreffen
syrischer Oppositioneller u.a. der Muslimbruder-
schaft und Generälen der Freien Syrischen Armee
im Haus der Stiftung Wissenschaft und Politik in
Kooperation mit Vertretern des US-Imperialismus.
Ziel dieses Treffens ist es, Pläne für die Zeit nach
dem Sturz des syrischen Regimes zu entwerfen.
Der deutsche Imperialismus ist somit ein entschei-
dender Planer für die Zeit nach Assad und dürfte
einer der größten Profiteure sein.
Deutschland ist in der EU ebenfalls eine treiben-
de Kraft für die wirtschaftlichen Sanktionen gegen
Syrien, die in ihrer Wirkung zur objektiven Ver-
schlechterung der Menschenrechtslage in Syrien
beiträgt. Es geht um die Verschlechterung der Le-
bensbedingungen der syrischen Bevölkerung. Die
deutschen Medien bejubeln, dass sich die Lage der
Menschen in Syrien angesichts der Sanktionen
verschlechtert. Ziel ist es, das syrische Volk durch
Aushungern zur Revolte gegen das syrische Regime
zu bewegen. Das ist im Sinne der oben genannten
Strategie, die die Isolierung des syrischen Regimes
im Inland verfolgt, um es zu stürzen. Die Ergebnis-
se dieser Strategie werden in Berichten der syrischen
Kommunisten festgehalten. Seit Beginn der Krise
in Syrien stieg die Armutsrate im syrischen Volk
von vorher 10% auf etwa 50%. Es gibt einen Real-
lohnverlust bei den Werktätigen in dem einen Jahr
der Krise um etwa 50%, da die Preise in die Höhe
steigen. Ein Beispiel: die Gaspreise haben sich seit
unserer Flucht aus Syrien vor zehn Jahren um das
17-fache gesteigert. In derselben Periode sind die
Löhne lediglich um das Dreifache gestiegen! Das
ist die deutsche Politik gegenüber Syrien.
Deutschland ist aber auch im Sicherheitsrat eine
treibende Kraft zur weiteren Eskalation. Im ver-
gangenen Jahr verhin-
dern das Veto der Rus-
sischen Föderation und
der VR China eine deut-
sche Resolution, die ein
Ultimatum an Syrien
richtete, wenn sie ihre
Gewalt gegen die Zivil-
bevölkerung nicht been-
det. Ohne jedoch die
Gewalt der FSA und der
anderen Terroristen zu
berücksichtigen und zu
verurteilen. An allen
weiteren eskalierenden
Resolutionsentwürfen war Deutschland beteiligt.
Die deutsche Politik im Sinne der Eskalation
findet auch in der Zulassung des Waffenschmuggels
für die Einheiten der FSA über den Libanon ihre
Ergänzung. Dort befindet sich die deutsche Mari-
ne um Waffenschmuggel zu „unterbinden“. Der
Libanon entwickelte sich im letzten Jahr zur wich-
tigsten Schmuggelroute für die FSA. Nebenbei
befand sich ein deutscher Soldat in Syrien im Rah-
men der UN-Beobachtungsmission.3
Die Rolle des deutschen Imperialismus in der
Syrien-Krise ist aber weit verzwickter. Es geht hier
um neue und alte Bündnispartner des deutschen
Imperialismus, die die hauptsächliche Rolle in der
Eskalation in Syrien übernehmen. Es handelt sich
um folgende Bündnispartner: Katar, Saudi-Arabi-
en, Kosovo und Türkei. Ich kann zwar nicht mit
Gewissheit sagen, dass diese Staaten deutsche
Halbkolonien sind (abgesehen vom Kosovo, der
kein Staat ist und zudem klar deutsche Halbkolo-
nie), aber ich kann auf einige Tendenzen bzw.
Indizien in dieser Richtung hinweisen.
Welche Rolle die Türkei in der aktuellen Syrien-
Krise spielt, dürfte jedem hier klar sein. In der
Türkei befindet sich das offizielle Hauptquartier
der Freien Syrien Armee, zudem ist der NATO-
Staat ein Hauptbefürworter der Kriegshetze gegen
den syrischen Staat und praktischer Provokateur
im Fall des türkischen Kampfflugzeugs über syri-
schem Hoheitsgebiet. Die Türkei bietet dem syri-
schen Nationalrat und der Muslimbruderschaft
ihre Hauptbüros außerhalb Syriens. Die islamisti-
sche AKP des türkischen Ministerpräsidenten Er-
dogan bemüht sich dabei um die Ablenkung des
türkischen Volkes und der türkischen Arbeiter-
klasse. Er versucht, über vermeintliche außenpo-
litische Erfolge von den eigenen sozialen Proble-
men abzulenken und sich in Größenwahn als
mögliches neues Kalifats-Zentrum über die sunni-
tische arabische Welt als regionale Kraft gegenüber
Israel und Iran zu sehen. Die AKP, so die deutsche
Stiftung Wissenschaft und Politik, vereinigt die
demokratisch-westlichen Werte mit dem Islam und
bietet eine Alternative zum iranischen Fundamen-
talismus. Außerdem soll die Türkei praktische
Pläne für eine militärische Intervention gegen Sy-
rien vorbereiten. Die Türkei taugt selbstverständ-
lich und praktischerweise als Basis einer Schutz-
zone für Zivilisten im Norden Syriens. Sie ist zu-
mindest historisch einer der engsten Bündnispart-
ner des deutschen Imperialismus, zu aktuellen
deutsch-türkischen Beziehungen und Verhältnissen
kann ich leider nicht viel sagen. Aber ich gehe
davon aus, dass sich an den deutsch-türkischen
Verhältnissen nichts geändert hat.
Ein zweiter deutscher Bündnispartner ist der
Kosovo. German Foreign Policy4 schreibt dazu:
„Einige syrische Aufständische wurden im Ko-
sovo über Methoden der Aufstandsgestaltung
instruiert – offenbar unter den Augen der dort
stationierten deutschen Soldaten.“ Syrer seien im
Kosovo, um nach dem Vorbild der UCK kämpfen
zu lernen, eben unter deutscher Aufsicht. Für die
deutschen Strategen aus der SWP eignet sich der
Kosovo-Krieg 1999 (der erste aktive Krieg des
deutschen Imperialismus nach 1945) als Vorbild
eines von der UNO gebilligten Krieges gegen Sy-
rien. Da werden Parallelen für die Kriegsvorberei-
tung gezogen, sei es auf der kriegspropagandisti-
schen Ebene oder auch auf der praktischen mili-
tärischen Ebene der Eskalation.
Ein dritter neuer Bündnispartner ist verwun-
derlicherweise Saudi-Arabien, der langjährige Ju-
niorpartner des US-Imperialismus im nahen Osten.
Saudi-Arabien zählt wie die Türkei zu den Haupt-
kriegshetzern gegen Syrien, finanziert offiziell die
syrische FSA und unterstützt sie mit allem, was
die Saudis können. Womöglich auch mit islamis-
tischen Kämpfern aus dem Umfeld der Al-Qaida,
aber auch mit Waffen. Saudi-Arabien als erzkon-
servativer Staat bietet zahlreichen syrischen Isla-
misten ein Exil, von wo sie ihre Hetze betreiben
können. Interessant in dem Ganzen ist die Zuwen-
dung der Saudis in Richtung Deutschland. Es fand
in letzter Zeit ein Großdeal zwischen Saudi-Ara-
bien und dem deutschen Rüstungsmonopol Rhein-
Metall mit 800 Panzern deutscher Produktion im
Wert von über zehn Milliarden Euro statt. Hatte
Saudi-Arabien früher als US-amerikanische Halb-
kolonie seine Waffensysteme in den USA gekauft,
so deutet der neue Kauf aus Deutschland in sol-
chen Mengen auf eine allgemeine Kräfteverschie-
bung zwischen dem deutschen und US-amerika-
nischen Imperialismus in der Region, aber auch
im Allgemeinen, hin.
Ein vierter und sehr interessanter neuer Bünd-
nispartner des deutschen Imperialismus ist Katar.
Ebenfalls ein ehemaliger langjährigen Juniorpartner
der USA, gerät dabei in deutsche Hände. Seit 2003,
um den Irak-Krieg, haben sich die US-amerika-
nisch-katarischen Beziehungen verschlechtert.
Damals hatte der US-Präsident Bush einen Konflikt
mit dem katarischen Sender Al-Jazeera ausgelöst.
Im Irak wurden Al-Jazeera-Journalisten von US-
Soldaten ermordet und Bush wollte sogar das
Hauptquartier des Senders in Katar selbst bombar-
dieren, falls die pro-irakische Widerstandsbericht-
erstattung des Senders nicht aufhöre (die deutsche
Linke verfiel sogar teilweise in Bewunderung für
den Sender). 2003 positionierte sich der deutsche
Imperialismus bekanntermaßen zum ersten Mal,
in Sachen Irak-Krieg, gegen den US-Imperialismus.
Insgesamt kühlten die katarisch-amerikanischen
Beziehungen ab. Stattdessen besuchten Katar deut-
sche Politiker wie Bundespräsident Wulff, Außen-
minister Westerwelle und Bundeskanzlerin Merkel.
Der katarische Emir besuchte ebenfalls Deutsch-
land. Diese Besuche fanden innerhalb kürzester
Zeit von weniger als zwei Jahren statt. Das ist eine
bemerkenswerte Intensität für ein solch kleines
Land wie Katar. Im Mai 2012 trafen sich Horst
Köhler, der türkische Ministerpräsident Erdogan
und der katarische Ministerpräsident Al-Tani im
Astana Economic Forum in Kasachstan. Dort spra-
chen die „Leaders“ über eine neue Finanz- und
Wirtschaftspolitik und formulierten Forderungen
an die G20-Staaten.5 Zusätzlicher und interessan-
tester Aspekt der neuen deutsch-katarischen Ver-
hältnisse ist der Kauf von Teilen des VW-Konzerns
durch Katar im Jahr 2009. Dieser Kauf ermöglich-
te VW das Verschlucken von Porsche, obwohl da-
mals die allgemeine Tendenz dahin ging, dass Por-
sche VW verschluckt. VW baute damit seine Posi-
tion als zweitgrößter Automobilproduzent in der
Welt aus. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit
zwischen Deutschland und Katar ist seitdem ver-
ständlicherweise gestiegen. Katars Rolle in der
Region ist in letzter Zeit gewachsen, es beteiligte
sich aktiv an dem Krieg gegen Libyen und ist eben-
falls ein Hauptkriegshetzer und Finanzier der syri-
schen FSA. Es bedarf keiner längeren Erklärung,
welche Rolle Katar in Syrien spielt.
Mir ist klar, dass Deutschland nicht komplett
die Staaten Saudi-Arabien, Katar oder die Türkei
in seine Halbkolonien verwandelt hat. Dafür ist
die Kapitalverflechtung bspw. der Saudis mit dem
US-Imperialismus zu stark, ebenfalls befindet sich
eine starke militärische US-Präsenz in Katar und
Saudi-Arabien. Aber was bereits in der FAZ leicht
mitklingt ist, dass der US-Imperialismus relativ an
einer ökonomischen Schwäche leidet, dagegen
befindet sich der deutsche Imperialismus in einer
relativen ökonomischen Stärke, was die EU angeht,
aber natürlich auch international. Diese Situation
ermöglicht das dreifache Veto Russlands und Chi-
nas gegen eine anti-syrische Resolution im Welt-
sicherheitsrat. Aber ebenfalls ermöglicht es dem
deutschen Imperialismus, diese verdeckte und
offene Aggressivität gegenüber Syrien in der Ein-
flusssphäre des US-Imperialismus zu üben.
In der oppositionellen kommunistischen Partei
Syriens wird eine kriegerische Intervention nicht
ausgeschlossen, auch wenn irgendwelche Kom-
mentatoren auf die Wirtschaftskrise in den USA
und der EU hinweisen, um anzudeuten, ein Krieg
koste zu viel Geld und sei deswegen unwahrschein-
lich. Aber genau umgekehrt ist es richtig, aufgrund
der Wirtschaftskrise steigt die Gefahr des Krieges
als Form der kapitalistischen Krisenlösung. Für uns
als deutsche Anti-Imperialisten und Kommunisten
gilt es die Interessen des deutschen Imperialismus
zu benennen und sie anzugreifen, auf die sich zu-
spitzenden zwischen-imperialistischen Widersprü-
che hinzuweisen und das pazifistische Geschwafel
des deutschen Imperialismus zu entlarven. Unser
Beitrag zur Solidarität mit dem syrischen Volk, der
syrischen Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-le-
ninistischen Vorhut ist der organisierte Dolchstoß
gegen unsere eigenen Herren.
Toto Lyna, Mitglied der SDAJ Göttingen
mit syrischem Hintergrund
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen