Montag, 4. Juni 2012
Landsgemeinde als Mittel gegen das organisierte Verbrechen und korrupte Behörden
Wie ein mexikanisches Städtchen die Bösewichte vertrieb
Mit einem Aufstand haben die Einwohner der mexikanischen Gemeinde Cherán die Holzfällermafia vertrieben. Sie haben eine Landsgemeinde gegründet und entdeckt, dass direktdemokratische Institutionen Korruption verhindern.
Matthias Knecht, Cherán
Wie ein Mahnmal der beklemmenden Vergangenheit stehen die ausgebrannten Transporter am Ortsausgang von Cherán, genau dort, wo die holprige Strasse in einen unendlich erscheinenden Bergwald führt. Auf einem Fahrzeug liegen noch die verkohlten Reste illegal abgeholzter Bäume. Auf das versengte Wrack eines weiteren Transporters hat jemand «Paz» gesprüht, Frieden. Der herrscht hier noch nicht lange, wie die Einschusslöcher an den Hauswänden zeigen. Auch Cherán durchlitt, was heute in Mexiko Alltag ist: Entführungen und Schutzgelderpressungen, Morde und Vergewaltigungen. Den Bürgern Cheráns gelang es jedoch, die Drogenmafia zu vertreiben. Das acht Autostunden westlich von Mexiko-Stadt gelegene Städtchen sieht sich seither selbstbewusst als Vorbild für das ganze Land. «Wir sind die sicherste Gemeinde Mexikos», sagt Pablo Rodríguez,* Mitglied des lokalen Sicherheitsrates, und weist auf den Gemeindeplatz.
Korruption in allen Instanzen
Wo sich früher nach 20 Uhr kein Mensch mehr blicken liess, herrscht jetzt bis spätnachts unbeschwertes Treiben. Frauen in den traditionellen blau-weiss gestreiften Tüchern der Purépecha bieten grillierte Maiskolben und Tamales feil, brutzeln Tacos und schenken Atole aus, ein aus Maismehl hergestelltes Getränk. Einige Bürger diskutieren die Ergebnisse der letzten Gemeindeversammlung. Schüler und Studenten sitzen mit Laptops auf der Gemeindetribüne, wo es gratis Internet gibt. Die Türen vieler Häuser stehen offen, ebenso die parkierten Autos. Farbenfrohe Wandmalereien berichten von Cheráns Sieg über das organisierte Verbrechen. Eines der Motive zeigt einen stilisierten Robin Hood, der mit nichts als Pfeil und Bogen gegen die bewaffneten Holzfäller vorgeht. Auf einer weiteren Wand steht «Cherán gegen die Korruption».
Anabel Ruiz, eine der politisch besonders engagierten Bürgerinnen, berichtet gerne und ausführlich darüber, wie das Verbrechen Einzug hielt – und wie es besiegt wurde. Die Ereignisse bestätigen die zentralen Erkenntnisse der Sicherheitsexperten in der Hauptstadt. Erstens geht es in Mexikos Drogenkrieg um eine enorme Palette illegaler Geschäfte, von denen Drogen oft nur der kleinste Teil sind. Zweitens sind Mexikos Verbrecherbanden nur darum so erfolgreich in ihren Geschäften, weil sie von korrupten Funktionären aller staatlichen Instanzen gedeckt werden. Drittens kann Mexiko darum den Krieg gegen das Verbrechen nur gewinnen, wenn engagierte Bürger der Regierung so genau auf die Finger schauen, dass Korruption unmöglich wird. Genau das tat Cherán und erfand gleich ein eigenes Regierungsmodell. Es ähnelt verblüffend dem, was man in der Schweiz als Landsgemeinde kennt.
Die Polizei als Komplize
Die Gemeinde zählt 18 000 Einwohner, und alle gehören der im Gliedstaat Michoacán vorherrschenden indigenen Volksgruppe der Purépecha an. Dazu kommen 6000, die in die USA emigriert sind, viele aus wirtschaftlicher Not. Der einzige wirkliche Reichtum Cheráns beginnt am Ortsausgang, wo die ausgebrannten Transporter stehen. 27 000 Hektaren umfasst das Gemeindegebiet und ist damit fast so gross wie der Kanton Genf. Das meiste davon ist Wald, und darauf hatte es das organisierte Verbrechen abgesehen. Welches der in Michoacán konkurrierenden Kartelle das Städtchen heimgesucht hatte, kann oder will bis heute niemand sagen. Man redet schlicht von den «Bösewichten», und jeder scheint zu wissen, wer gemeint ist.
Schon immer gab es illegalen Holzschlag in dem kaum zu kontrollierenden Gebiet. Ab dem Jahr 2008 wurde er zunehmend irrational, wie es Anabel Ruiz formuliert. Bis zu 250 Transporter durchquerten täglich das Städtchen, jeder mit zwei bis drei Kubikmetern geraubtem Holz. Der damalige Gemeindepräsident schaute nicht nur tatenlos zu, er unterstützte die illegalen Holzfäller. Wann immer es zu Handgreiflichkeiten zwischen Bürgern und Holzfällern kam, schickte er die Polizei – um die Holzfäller zu schützen.
Geraubter Wald
13 000 Hektaren Wald plünderten die Banden innerhalb von drei Jahren. 8000 davon wurden komplett kahlgeschlagen, mit dramatischen Folgen. War es früher noch so kühl, dass die Bürger das ganze Jahr über Jacken trugen, herrscht jetzt lähmende Hitze. «Wir alle trauern um unseren Wald», sagt ein Bürger. Besonders zu spüren sei das jetzt im Monat Mai. Denn dann habe das ganze Städtchen immer nach den Steineichen geduftet. Deren Fehlen mache ihn jetzt darum besonders traurig.
Eine Abholzung in diesem Ausmass lässt sich nur mithilfe eines Drogenkartells organisieren. Es erhob von jedem Transporter, der Cherán durchquerte, rund 40 Franken Gebühr. Im Gegenzug stellte das Kartell Weitertransport und Vermarktung sicher. Die geraubten Bäume wurden schliesslich als vermeintlich ordnungsgemäss geschlagenes Holz verkauft, mit allen notwendigen Papieren. Wer sich wehrte, wurde ermordet oder verschwand spurlos. In drei Jahren hemmungslosen Kahlschlages kamen 20 Bürger ums Leben. In keinem dieser Fälle hat die Justiz bisher ermittelt, auch nicht gegen den damaligen Bürgermeister.
Die Bewohner von Cherán haben gegen die illegalen Holzfäller rebelliert und deren Pick-ups in Brand gesteckt. Nun herrscht auch abends unbeschwertes Treiben auf den Strassen. (Bild: Meinolf Koessmeier)
Mit den Bösewichten der Drogenmafia kam schliesslich die Kriminalität nach Cherán. Der Konsum illegaler Drogen hielt Einzug. «Wir liefen nur noch geduckt durch die Strassen», erinnert sich ein Bürger. Er besass einst acht Hektaren Wald, die die Mafia innerhalb von zwei Tagen komplett abholzte. Zu wehren wagte er sich nicht. «Ich fühlte Demütigung und Ohnmacht», berichtet er über die damalige Stimmung. Als die Holzfäller begannen, die Bäume rund um die Wasserquellen zu fällen, schlug die Demütigung am frühen Morgen des 15. April 2011 in einen spontanen Aufstand um. Heute erzählt jeder davon eine andere Version, einig sind sich aber alle darin, dass die Frauen damit begannen. Zuerst versuchten sie, mit den Fahrern der Holztransporter zu reden. Als diese aggressiv reagierten, läutete jemand die Kirchenglocken Sturm. Andere zündeten Feuerwerkskörper. Das ganze Städtchen lief zusammen. Schliesslich brannten die Transporter.
Macheten gegen Gewehre
Es folgten chaotische Tage und Wochen, mit Strassenbarrikaden, Mahnwachen und einer improvisierten Bürgerwehr. Noch einmal tauchten die Bösewichte auf und schossen aus ihren Ziegenhörnern, wie die AK-47-Schnellfeuergewehre in Mexiko heissen. Cherán konnte sich nur mit Macheten und Schaufeln wehren, doch gegen den Zorn der Bürger waren die Verbrecher am Ende machtlos. Sie zogen ab und wurden seither nicht mehr gesehen. Mit ihnen verschwanden die Holzfäller, desertierten die Gemeindepolizei und schliesslich auch der Bürgermeister.
Auf dem frisch getünchten Gemeindehaus steht jetzt in grossen Lettern in der Sprache der Purépecha «Cherán K'eri», Ältestenrat Cheráns. Das zwölfköpfige, von den Bürgern direkt gewählte Gremium fällt alle wichtigen Entscheide, selbstverständlich bei offenen Türen. Strittige oder heikle Punkte legt der Ältestenrat dem Städtchen zur Debatte und Abstimmung vor. Mindestens einmal monatlich findet eine Gemeindeversammlung auf dem zentralen Platz statt, wenn nötig auch öfters. Dieses System mache die Korruption unmöglich, betont Miguel Rodríguez, Mitglied des Ältestenrates und im Hauptberuf Sekundarschullehrer. Genau darum gibt es in Cherán auch keinen Gemeindepräsidenten mehr, keinen Finanzdirektor und erst recht keinen Polizeichef. Alle Geschäfte werden vom Ältestenrat oder von den ihm untergeordneten sechs Fachräten geführt. Deren Mitglieder sind im Städtchen bekannt und müssen in den Versammlungen Rede und Antwort stehen.
Gebildete Bürger
Cherán war schon immer ein rebellisches Nest. «Ort des Schreckens» bedeutet der Name. Schon lange vor den Spaniern scheiterten Eroberer prähispanischer Völker immer wieder am Widerstand des Städtchens. Das jedenfalls wird von den heutigen Einwohnern besonders gerne erzählt, und sie erklären damit, warum ausgerechnet Cherán den Aufstand gegen die Drogenmafia wagte. Der Zusammenhalt sei hier eben grösser als anderswo, ebenso die Verbundenheit mit dem eigenen Wald, erklärt eine Bürgerin.
(Bild: NZZ-Infografik / tcf.)
Dass der Aufstand schliesslich in die Schaffung regulärer, direktdemokratischer Institutionen mündete, deutet auf grundlegende Umwälzungen in Mexikos Provinz hin. Gelenkt und kanalisiert wurde Cheráns Zorn von einer neuen Generation gut gebildeter Bürger. Zu ihnen gehört auch Anabel Ruiz, die Chronistin des Aufstands. Ihre Eltern sind Campesinos und können weder lesen noch schreiben. Ruiz hingegen hat unter grössten Entbehrungen einen Master-Abschluss in Anthropologie erreicht und arbeitet jetzt an ihrer Dissertation. Ähnliche Biografien finden sich dutzendweise im Ort. Im Gespräch auf den Strassen stellt man fest, dass die Söhne und Töchter der Campesinos heute Anwälte oder Ärzte sind, Fachlehrer oder Computerspezialisten. Sie sind genauso rebellisch wie ihre Vorfahren. Doch sie wissen, wie man mit übergeordneten Instanzen verhandelt.
Noch brannten in Cherán die Barrikaden, da machte sich bereits ein Team von Historikern und Juristen daran, die historischen Regierungsformen des Purépecha-Volkes zu untersuchen. Mit diesem Vorgehen konnte Cherán die Anerkennung seiner heutigen Regierungsform durch das oberste Wahlgericht Mexikos durchsetzen. Grundlage sind von Mexiko ratifizierte internationale Abkommen, die den indigenen Völkern Autonomie gewähren.
Legalisierte Bürgerwehr
Institutionalisiert wurde damit auch die anfängliche Bürgerwehr, eine bunte Truppe, die vorzugsweise ausgediente Uniformen der amerikanischen Armee trägt. Die rund hundert jungen Männer und Frauen sind nun legal als neue Gemeindepolizei anerkannt. Unter der Kontrolle des Sicherheitsrates setzen sie das von den Bürgern gutgeheissene Reglement durch. Wer mit Drogen, Waffen oder auch nur betrunken in der Öffentlichkeit erwischt wird, wandert erst einmal für 24 Stunden in die Zelle. Anschliessend muss gemeinnützige Arbeit geleistet werden. Wer stiehlt, dessen Foto kommt ans schwarze Brett im Gemeindehaus. Anwenden muss die Polizei die Strafen kaum. Denn seit die Bösewichte verschwunden sind, wirkt wieder die soziale Kontrolle. Diese sei wirksamer als jedes Polizeiaufgebot, verrät man im Sicherheitsrat.
Noch ist der Ausgang des direktdemokratischen Experiments offen. Unverkennbar hat der Elan seit jenem Tag, als die Transporter brannten, nachgelassen. Die Versammlungen sind nicht mehr so gut besucht wie damals. Die Mahnwachen und Feuerstellen, an denen die Bürger anfangs nächtelang die Zukunft des Städtchens diskutierten, bleiben verwaist. Es gelte, vom Ausnahmezustand zum Normalbetrieb überzugehen, sagt ein Ratsmitglied.
Die Angst herrscht weiter
Über allem schwebt die Angst vor einer Rückkehr der Bösewichte. So sicher das Städtchen ist – weit weg in den letzten Winkeln seines riesigen Waldes sind die illegalen Holzfäller immer noch unterwegs. Schlagartig klar wurde es im April, als zwei Gemeindearbeiter bei der Wiederaufforstung in einem entlegenen Waldstück von Unbekannten erschossen wurden. Versagt hatten dabei offenbar die zum Schutz der Arbeiter abbestellten Gemeindepolizisten. Solche Vorkommnisse gefährden die neue Regierung. Wenn ihr etwas breite Zustimmung und Legitimität verschafft, dann der Frieden. «Natürlich haben wir alle Angst, dass sie zurückkommen», gesteht die Bürgeraktivistin Ruiz. Doch unterkriegen lasse man sich davon nicht mehr, fügt sie bestimmt hinzu: «Der Wille, unseren Kindern ein gesundes Cherán zu hinterlassen, ist grösser als unsere eigene Angst.»
* Die Namen aller interviewten Personen wurden zu deren Schutz geändert.
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