Sonntag, 14. Mai 2017

Ökonomisches Nichtwissen und Einseitigkeit (Heinz-J. Bontrup)


Die vielfältigen Probleme der aus den Fugen geratenen kapitalistischen Welt werden von einem ökonomischen Nichtwissen der meisten Menschen überlagert: Wirtschaft ist für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Dies gilt aber auch für PolitikerInnen, die Wirtschaft im Interesse des ganzen Volkes eigentlich beherrschen und gestalten sollen. Hier wird es dann abenteuerlich, wenn auf Nachfrage Bundestagsabgeordnete des Finanzausschusses (also die vermeintlichen Wirtschaftsexperten im Parlament) nicht einmal die Wirkungszusammenhänge im Wirtschaftskreislauf, die Entstehungs-, Verwendungs- und Verteilungsrechnung des Sozialprodukts sowie die gesamtwirtschaftliche Finanzierungsrechnung mit ihren interdependenten Kontenzusammenhängen beherrschen. Auch mit der multiplikativen Wirkung kreditfinanzierter Staatsausgaben auf das Wirtschaftswachstum und Beschäftigung gemäß dem hinlänglich in der Ökonomie bekannten Haavelmo-Theorem, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, haben unsere VolksvertreterInnen offensichtlich größte Probleme. Denn nur so, mit Nichtwissen, lässt sich in diesem Fall die fast parteienübergreifend völlig irrationale Abstimmungsmehrheit 2009 im Bundestag und -rat für eine makroökonomisch »dumme« (so der ehemalige italienische Ministerpräsident und Ökonom Romano Prodi) staatliche Schuldenbremse (besser »Kreditbremse«) und ihre verfassungsrechtliche Verankerung in Deutschland (und danach in der Europäischen Union durch den Fiskalpakt) erklären. Die Schuldenbremse richtet im Ergebnis größtmöglichen gesamtwirtschaftlichen Schaden an. Sie schwächt das Wachstum und die Beschäftigung; und das vor dem Hintergrund einer bestehenden Massenarbeitslosigkeit in Deutschland und ganz Europa.

Ein ökonomisches Alphabetisierungsprogramm für PolitikerInnen ist hier offensichtlich dringend geboten. Oder müssen wir mit Kurt Tucholsky fragen: »O hochverehrtes Publikum, sag mal: Bist du wirklich so dumm, wie uns das an allen Tagen alle Unternehmer sagen?« Dummheit kann sich aber leider kraft ihrer selbst nicht erkennen. Das ist das Problem. Nur Wissende können einem verhängnisvollen Mainstream-Denken, das ausschließlich einer kleinen selbsternannten gesellschaftlichen Elite förderlich und wohlfahrtsstiftend ist, etwas entgegenstellen und notwendige Alternativen entwickeln und entsprechend gesellschaftlich einbringen.

Die ökonomische Bildung einer Gesellschaft muss bereits in den Schulen beginnen. Aber nicht wie von vielen Interessenvertretern des Kapitals heute gefordert, im Sinne der einseitig herrschenden neoklassischen oder neoliberalen Ökonomik, deren Maxime lediglich aus mehr Wettbewerb und Markt, weniger Staat, mehr Deregulierung und Privatisierung sowie geringsten Steuerzahlungen für Unternehmer und sogenannte Leistungsträger besteht, sondern im Sinne einer pluralen (heterodoxen) Ökonomik, die diese Einseitigkeit kritisiert. Dabei ist es in der schulischen Umsetzung dringend geboten sich an den in den 1970er Jahren für eine politische Bildung entwickelten Beutelsbacher Konsens zu halten, der drei Grundgedanken innerhalb einer freiheitlichen demokratischen Ordnung formulierte: Es sollte nicht erlaubt sein, Schüler zu indoktrinieren (Überwältigungsverbot). Kein Standpunkt darf als alternativlos dargestellt werden (Kontroversitätsgebot). Die Schüler müssen befähigt werden, eigene Interessen zu erkennen und in einem sozialen Zusammenhang zu vertreten (Schülerorientierung). Dieser Konsens hat auch für die Hochschulausbildung zu gelten. Gerade in einer nicht wertfreien Sozialwissenschaft wie der Wirtschaftswissenschaft. Dazu muss aber die heute an den Hochschulen vorherrschende Dominanz der neoklassischen Lehre beendet und deren pervertierte Variante, die neoliberale Glaubenslehre, vom Sockel gestoßen werden, die sich schleichend in den letzten Jahrzehnten als Mainstream-Lehre an den wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichen der Hochschulen durchgesetzt hat. Die Wirtschaftswissenschaft von der klassischen Lehre bis heute, hat jedenfalls wesentlich mehr zu bieten als diese Einseitigkeit. Vor allen Dingen ist sie nicht wie heute dargestellt und suggeriert alternativlos.

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