Montag, 2. Januar 2017

Deutsche Schriftsteller bei Stalin im Kreml

Stalin: Man muss aber auch sagen, dass der Aufstieg der Klasse der Gutsbesitzer, die Unterstützung der aufkommenden Klasse der Kaufleute und die Festigung des Nationalstaats dieser Klassen auf Kosten der leibeigenen Bauernschaft erfolgte, die auf das Ärgste ausgebeutet wurde.


Emil_Ludwig

Der Schriftsteller Emil Ludwig interviewt Stalin, 13. Dezember 1931

Ludwig: Ich bin Ihnen überaus dankbar, dass Sie es für möglich gehalten haben, mich zu empfangen. Seit mehr als zwanzig Jahren studiere ich das Leben und Wirken hervorragender historischer Persönlichkeiten. Ich glaube, dass ich Menschen gut beurteilen kann, dagegen verstehe ich nichts von sozial-ökonomischen Verhältnissen.
Stalin: Sie sind zu bescheiden.
Ludwig: Nein, es ist wirklich so. Und eben deshalb werde ich Fragen stellen, die Ihnen vielleicht sonderbar erscheinen werden. Heute habe ich hier im Kreml einige Reliquien Peter des Großen gesehen, und die erste Frage, die ich Ihnen stellen möchte, ist folgende: Lassen Sie eine Parallele zwischen Ihnen und Peter den Großen gelten? Halten Sie sich für einen Fortführer des Werks Peter des Großen?
Stalin: Nein, keineswegs. Geschichtliche Parallelen sind stets gewagt. Diese Parallele ist unsinnig.
Ludwig: Peter der Große hat aber doch sehr viel für die Entwicklung seines Landes getan und sich bemüht, die westliche Kultur nach Russland zu verpflanzen.
Stalin: Ja, gewiss, Peter der Große hat viel für den Aufstieg der Klasse der Gutsbesitzer und für die Entwicklung der aufkommenden Klasse der Kaufleute getan. Peter hat sehr viel für die Schaffung eines Nationalstaats der Gutsbesitzer und der Kaufleute und für dessen Festigung getan. Man muss aber auch sagen, dass der Aufstieg der Klasse der Gutsbesitzer, die Unterstützung der aufkommenden Klasse der Kaufleute und die Festigung des Nationalstaats dieser Klassen auf Kosten der leibeigenen Bauernschaft erfolgte, die auf das Ärgste ausgebeutet wurde.
Was mich betrifft, so bin ich nur ein Schüler Lenins, und das Ziel meines Lebens ist es, ein würdiger Schüler Lenins zu sein.
Die Aufgabe, der ich mein Leben widme, besteht darin, den Aufstieg einer anderen Klasse zu fördern, nämlich der Arbeiterklasse. Diese Aufgabe besteht nicht in der Festigung irgendeines ‚Nationalstaates‘, sondern in der Festigung des sozialistischen, und folglich eines internationalen Staates, wobei jede Festigung dieses Staates zur Stärkung der gesamten internationalen Arbeiterklasse beiträgt. Wäre nicht ein jeder Schritt in meiner Arbeit, die dem Aufstieg der Arbeiterklasse und der Festigung des sozialistischen Staates dieser Klasse gilt, darauf gerichtet, die Lage der Arbeiterklasse zu festigen und zu verbessern, so würde ich mein Leben als zwecklos ansehen.
Sie sehen, dass Ihre Parallele nicht angebracht ist.
Was Lenin und Peter den Großen betrifft, so war letzterer nur ein Tropfen im Meer, Lenin dagegen ein ganzer Ozean.
Ludwig: Der Marxismus verneint die hervorragende Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Sehen Sie keinen Widerspruch zwischen der materialistischen Geschichtsauffassung und der Tatsache, dass Sie trotzdem die hervorragende Rolle geschichtlicher Persönlichkeiten anerkennen?
Stalin: Nein, hier besteht kein Widerspruch. Der Marxismus verneint keineswegs die Rolle hervorragender Persönlichkeiten oder die Tatsache, dass die Menschen die Geschichte machen. Sie können bei Marx im ‚Elend der Philosophie‘ und in seinen anderen Werken Ausführungen darüber finden, dass eben Menschen die Geschichte machen. Allerdings machen die Menschen die Geschichte nicht so, wie es ihnen die Fantasie eingibt, nicht so, wie es ihnen gerade einfällt. Jede neue Generation findet bestimmte Verhältnisse vor, die bereits in fertiger Gestalt vorhanden waren, als diese Generation zur Welt kam. Und große Männer sind nur insoweit von Bedeutung, als sie es vermögen, diese Verhältnisse richtig zu verstehen und zu erkennen, wie sie zu ändern sind. Wenn sie diese Verhältnisse nicht verstehen und sie so ändern wollen, wie es ihnen ihre Fantasie eingibt, so geraten sie, diese Leute, in die Lage eines Don Quichotte. So lehrt gerade Marx, dass man die Menschen keinesfalls den Verhältnissen entgegenstellen darf. Eben die Menschen machen die Geschichte, aber nur insofern, als sie verstehen, wie diese Verhältnisse zu ändern sind. So wenigstens verstehen wir russische Bolschewiki Marx, und wir haben Marx einige Jahrzehnte lang studiert.
Ludwig: Vor dreißig Jahren, als ich die Universität besuchte, haben zahlreiche deutsche Professoren, die sich für Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung hielten, uns eingeredet, der Marxismus verneine die Rolle der Helden, die Rolle heroischer Persönlichkeiten in der Geschichte.
Stalin: Das waren Vulgarisatoren des Marxismus. Der Marxismus hat nie die Rolle der Helden verneint. Im Gegenteil, er erkennt diese Rolle als bedeutend an, allerdings mit den Vorbehalten, die ich eben erwähnt habe.
Ludwig: Um den Tisch, an dem wir sitzen, stehen 16 Stühle. Im Ausland weiß man einerseits, dass die UdSSR ein Land ist, in dem alles kollegial entschieden werden soll, andererseits aber weiß man, dass alles durch eine einzelne Person entschieden wird. Wer entscheidet denn nun?
Stalin: Nein, eine einzelne Person darf nicht entscheiden. Entscheidungen einer einzelnen Person sind immer oder fast immer einseitige Entscheidungen. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, mit deren Meinung man rechnen muss. In jedem Kollegium, in jedem Kollektiv gibt es Menschen, die auch falsche Meinungen zum Ausdruck bringen können. Auf Grund der Erfahrungen von drei Revolutionen wissen wir, dass unter hundert Entscheidungen, die von einzelnen Personen getroffen und nicht kollektiv überprüft und berichtigt wurden, annähernd neunzig Entscheidungen einseitig sind.
Unser ausführendes Organ, das Zentralkomitee unserer Partei, das alle unsere Sowjet- und Parteiorganisationen leitet, besteht aus etwa siebzig Mitgliedern. Unter diesen siebzig Mitgliedern des ZK befinden sich unsere besten Industriefachleute, unsere besten Genossenschaftler, unsere besten Verwaltungsfachleute, unsere besten Militärfachleute, unsere besten Propagandisten, unsere besten Agitatoren, die besten Kenner unserer Sowjetwirtschaften, die besten Kenner unserer Kollektivwirtschaften, die besten Kenner der individuellen Bauernwirtschaft, unsere besten Kenner der Nationen der Sowjetunion und der nationalen Politik. In diesem Areopag (höchster Gerichtshof im antiken Griechenland – Duden) ist die Weisheit unserer Partei konzentriert. Jeder hat die Möglichkeit, die Meinung, den Vorschlag eines einzelnen zu berichtigen. Jeder hat die Möglichkeit, seine Erfahrungen beizusteuern. Wäre dem nicht so, würden die Entscheidungen von einzelnen Personen getroffen, dann gäbe es in unserer Arbeit die ernstesten Fehler. Da jedoch jeder die Möglichkeit hat, die Fehler einzelner Personen zu berichtigen, und da wir solche Berichtigungen berücksichtigen, gelangen wir zu mehr oder weniger richtigen Beschlüssen.
Ludwig: Sie können auf Jahrzehnte illegaler Arbeit zurückblicken. Sie haben illegal Waffen, Literatur usw. transportieren müssen. Glauben Sie nicht, dass die Feinde der Sowjetmacht sich ihre Erfahrungen zunutze machen und mit denselben Methoden gegen die Sowjetmacht kämpfen könnten?
Stalin: Das ist allerdings durchaus möglich.
Ludwig: Liegt darin nicht die Ursache der Strenge und Schonungslosigkeit Ihrer Regierung im Kampfe gegen ihre Feinde?
Stalin: Nein, die Hauptursache liegt nicht hierin. Man kann einige geschichtliche Beispiele anführen. Als die Bolschewiki zur Macht gelangt waren, ließen sie anfangs gegenüber ihren Feinden Milde walten. Die Menschewiki bestanden weiter legal und gaben ihre eigene Zeitung heraus. Die Sozialrevolutionäre bestanden ebenfalls weiter legal und hatten eine eigene Zeitung. Sogar die Kadetten gaben weiter ihre Zeitung heraus. Als General Krasnow seinen konterrevolutionären Marsch auf Leningrad unternahm und uns in die Hände fiel, hätten wir ihn aufgrund der Kriegsverhältnisse zumindest in Gefangenschaft behalten können, mehr noch, wir hätten ihn erschießen müssen. Wir haben ihn aber auf sein ‚Ehrenwort‘ in frei gelassen. Und was war die Folge? Bald stellte sich heraus, dass solche Milde die Festigkeit der Sowjetmacht nur untergräbt. Wir hatten einen Fehler begangen, als wir gegenüber den Feinden der Arbeiterklasse solche Milde walten ließen. Hätten wir diesen Fehler auch weiterhin gemacht, so hätten wir ein Verbrechen an der Arbeiterklasse begangen, hätten wir an ihren Interessen Verrat geübt. Das wurde auch bald ganz klar ersichtlich. Sehr schnell stellte sich heraus, dass unsere Feinde umso größeren Widerstand leisteten, je milder wir mit ihnen verfuhren. Bald darauf organisierten die rechten Sozialrevolutionäre, Goz und andere, sowie die rechten Menschewiki in Leningrad eine konterrevolutionäre Aktion der Offiziersschüler, bei deren Unterdrückung vieler unserer revolutionären Matrosen ums Leben kamen. Derselbe Krasnow, den wir auf sein ‚Ehrenwort‘ hin freigelassen hatten, organisierte die weißgardistischen Kosaken. Er vereinigte sich mit Marmontow und führte zwei Jahre lang einen bewaffneten Kampf gegen die Sowjetmacht. Bald zeigte sich, dass hinter diesen weißen Generalen Agenten der westlichen Staaten – Frankreichs, Englands und Amerikas sowie Japans standen. Wir überzeugten uns davon, welchen Fehler wir begangen hatten, als wir Milde walten ließen. Wir lernten aus der Erfahrung, dass man mit diesen Feinden nur dann fertig werden kann, wenn man ihnen gegenüber eine Politik der schonungslosen Unterdrückung verfolgt.
Ludwig: Mir scheint, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung der Sowjetunion Angst und Furcht vor der Sowjetmacht hat und dass auf diesem Gefühl der Angst in gewissem Maße die Stabilität der Sowjetmacht beruht. Ich möchte gern wissen, wie Ihnen persönlich zumute ist bei dem Gedanken, dass man im Interesse der Festigung der Macht Angst einflößen muss. Sie bedienen sich doch im Umgang mit Ihren Genossen, mit ihren Freunden ganz anderer Methoden als der, Furcht einzuflößen, der Bevölkerung aber wird Angst eingeflößt.
Stalin: Sie irren sich. Übrigens ist Ihr Irrtum der Irrtum von vielen. Glauben Sie wirklich, dass es möglich wäre, vierzehn Jahre lang mit der Methode der Einschüchterung und der Einflößung von Furcht die Macht zu behaupten und die Unterstützung der Millionenmassen zu genießen? Nein, das ist unmöglich. Die zaristische Regierung verstand sich am besten aufs Einschüchtern. Sie besaß darin sehr große und alte Erfahrungen. Die europäische, und besonders die französische Bourgeoisie half dabei dem Zarismus auf jede mögliche Weise und lehrte ihn, das Volk in Schrecken zu halten. Trotz dieser Erfahrungen, trotz der Hilfe der europäischen Bourgeoisie führte die Einschüchterungspolitik zur Zerschlagung des Zarismus.
Ludwig: Aber die Romanows behaupteten sich doch 300 Jahre lang.
Stalin: Ja, aber wieviel Aufstände und Erhebungen hat es in diesen 300 Jahren gegeben: den Aufstand Stepan Rasins, den Aufstand Jemeljan Pugatschows, den Dekabristenaufstand, die Revolution von 1905, die Februarrevolution aus dem Jahre 1917, die Oktoberrevolution. Ich sehe ganz davon ab, dass die heutigen Bedingungen des politischen und kulturellen Lebens des Landes sich grundlegend von den Bedingungen der alten Zeit unterscheiden, als Unwissenheit, Kulturlosigkeit, Fügsamkeit und politische Geducktheit der Massen es den damaligen ‚Herrschern‘ ermöglichten, eine mehr oder weniger lange Zeit an der Macht zu bleiben.
Was das Volk, was die Arbeiter und Bauern der UdSSR anbetrifft, so sind sie durchaus nicht so zahm, gefügig und eingeschüchtert, wie Sie sich das vorstellen. In Europa haben viele noch die alten Vorstellungen von der UdSSR und glauben, in Russland lebten Menschen, die erstens fügsam und zweitens faul sind. Eine solche Vorstellung ist veraltet und grundfalsch. Sie entstand in Europa und stammt aus der Zeit, als die russischen Gutsbesitzer nach Paris reisten, dort das zusammengeraubte Geld durchbrachten und ein Faulenzerleben führten. Das waren tatsächlich willenlose und zu nichts taugliche Menschen. Hiervon leitete man die ‚russische Faulheit‘ ab. Das kann sich aber keineswegs auf die russischen Arbeiter und Bauern beziehen, die die Mittel zum  Leben stets durch eigene Arbeit erworben haben und erwerben. Es ist sehr sonderbar, dass man die russischen Bauern und Arbeiter, die in kurzer Zeit drei Revolutionen durchgeführt, den Zarismus und die Bourgeoisie zerschlagen haben und heute siegreich den Sozialismus aufbauen, für fügsam und faul hält.
Sie haben mich soeben gefragt, ob bei uns alles von einem einzelnen entschieden wird. Niemals, unter keinen Umständen würden unsere Arbeiter heutzutage die Macht eines einzelnen dulden. Selbst die größten Autoritäten verlieren jegliche Bedeutung, verwandeln sich  in ein Nichts, sobald die Arbeitermassen aufhören, ihnen zu vertrauen, sobald sie den Kontakt zu den Arbeitermassen verlieren. Plechanow genoss außerordentlich große Autorität. Und was geschah? Sobald er in politischer Hinsicht zu hinken begann, vergaßen  ihn die Arbeiter, sie wandten sich von ihm ab und vergaßen ihn einfach. Ein anderes Beispiel: Trotzki. Trotzki genoss ebenfalls große Autorität, wenn auch bei weitem nicht die gleiche wie Plechanow. Und was geschah? Sobald er sich von den Arbeitern abwandte, vergaßen sie ihn.
Ludwig: Vergaßen ihn völlig?
Stalin: Zuweilen erinnern sie sich an ihn, aber voll Ingrimm.
Ludwig: Alle voll Ingrimm?
Stalin: Was unsere Arbeiter betrifft, so erinnern sie sich an Trotzki mit Ingrimm, Zorn und Hass.
Es gibt allerdings einen gewissen geringen Teil der Bevölkerung, der die Sowjetmacht tatsächlich fürchtet und gegen sie kämpft. Ich meine die Überreste der sterbenden Klassen, der Klassen, die wir liquidieren, und vor allem einen unbedeutenden Teil der Bauernschaft – das Kulakentum. Hier handelt es sich aber nicht um eine Politik der Einschüchterung dieser Gruppen, die wir tatsächlich betreiben. Es ist allgemein bekannt, dass wir Bolschewiki uns dabei nicht auf eine Einschüchterung beschränken, sondern weiter gehen und auf die Liquidierung dieser bürgerlichen Schicht hinarbeiten.
Nimmt man aber die werktätige Bevölkerung der UdSSR, die Arbeiter und werktätigen Bauern, die nicht weniger als 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, so stehen diese fest hinter der Sowjetmacht, und ihre erdrückende Mehrheit unterstützt aktiv die Sowjetordnung. Sie unterstützen die Sowjetordnung aber deshalb, weil diese Gesellschaftsordnung die Lebensinteressen der Arbeiter und Bauern wahrnimmt.
Das ist die Grundlage für die Festigkeit der Sowjetmacht, und nicht eine Politik der so genannten Einschüchterung.
Ludwig: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Antwort. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen eine Frage stelle, die Ihnen sonderbar erscheinen mag. Ihre Biografie enthält Momente so genannter ‚räuberischer Aktionen‘. Haben Sie sich für die Persönlichkeit Stepan Rasins interessiert? Wie stellen Sie sich  zu ihm, diesem ‚Räuber aus Idealismus‘?
Stalin: Wir Bolschewiki haben uns stets für solche historischen Persönlichkeiten wie Bolotnikow, Rasin, Pugatschow und andere interessiert. Wir sehen in den Aktionen dieser Männer den Ausdruck der elementaren Empörung der unterdrückten Klassen, der elementaren Erhebung der Bauernschaft gegen das feudale Joch. Für uns war das Studium der Geschichte der ersten Versuche solcher Aufstände der Bauernschaft stets von Interesse. Aber von einer Analogie mit den Bolschewiki kann hier natürlich gar keine Rede sein. Einzelne Bauernaufstände können selbst dann, wenn sie nicht so ‚räuberisch‘ und unorganisiert sind wie bei Stepan Rasin, zu keinen ernsten Ergebnissen führen. Bauernaufstände können nur dann Erfolg haben, wenn sie mit Arbeiteraufständen verbunden sind und wenn die Bauernaufstände von den Arbeitern geleitet werden. Nur ein kombinierter, von der Arbeiterklasse geleiteter Aufstand kann zum Ziel führen.
Außerdem darf man, wenn man von Rasin und Pugatschow spricht, nie vergessen, dass sie Zarenanhänger waren: Sie traten gegen die Gutsbesitzer auf, waren aber für einen ‚guten Zaren‘. Das war ihre Losung.
Wie Sie sehen, ist die Analogie mit den Bolschewiki absolut unangebracht.
Ludwig: Gestatten Sie mir, Ihnen einige Fragen zu Ihrer Biografie zu stellen. Als ich bei Masaryk war, erklärte er mir, dass er sich seit seinem sechsten Lebensjahr zum Sozialismus bekannte. Was führte Sie zum Sozialismus, und wann wurden Sie Sozialist?
Stalin: Ich kann nicht behaupten, dass ich schon seit meinem sechsten Lebensjahr einen Hang zum Sozialismus hatte, nicht einmal  seit meinem zehnten oder zwölften Lebensjahr. Der revolutionären Bewegung schloss ich mich im Alter von 15 Jahren an, als ich mit den illegalen Gruppen russischer Marxisten, die damals in Transkaukasien lebten, Verbindung aufgenommen hatte. Diese Gruppen übten großen Einfluss auf mich aus und brachten mir Geschmack an der illegalen marxistischen Literatur bei.
Ludwig: Was trieb Sie in die Opposition? Vielleicht schlechte Behandlung seitens ihrer Eltern?
Stalin: Nein, meine Eltern waren zwar keine gebildeten Leute, aber sie behandelten mich keineswegs schlecht. Ganz anders war es im griechisch-orthodoxen Priesterseminar, wo ich damals lernte. Aus Protest gegen das schändliche Regime und die jesuitischen Methoden, die im Seminar angewandt wurden, war ich bereit, Revolutionär zu werden, und ich wurde tatsächlich Revolutionär, ein Anhänger des Marxismus, dieser wahrhaft revolutionären Lehre.
Ludwig: Aber erkennen Sie denn die positiven Eigenschaften der Jesuiten nicht an?
Stalin: Ja, sie besitzen Systematik und Beharrlichkeit bei der Verfolgung ihrer schlechten Ziele. Ihre Hauptmethode aber ist die Bespitzelung, Spionage, das Ausspüren, die Verhöhnung; was kann daran Positives sein? Zum Beispiel die die Bespitzelung im Internat: Um neun Uhr wird zum Tee geläutet, wir gehen in den Speisesaal; nach Rückkehr in unsere Zimmer aber stellen wir fest, dass während dieser Zeit alle unsere Schubladen durchsucht und durchwühlt worden sind … Was kann daran Positives sein?
Ludwig: Ich beobachte in der Sowjetunion eine außerordentliche Hochachtung für alles Amerikanische, ich möchte sogar sagen, eine Verehrung für  alles Amerikanische, das heißt für das Land des Dollars, das konsequenteste kapitalistische Land. Diese Gefühle sind auch in ihrer Arbeiterklasse vorhanden, und sie gelten nicht nur den Traktoren und Autos, sondern den Amerikanern überhaupt. Womit erklären Sie das?
Stalin: Sie übertreiben. Bei uns gibt es keinerlei besondere Hochachtung für alles Amerikanische. Aber wir achten die amerikanische Sachlichkeit in allem, in der Industrie, in der Technik, in der Literatur, im Leben. Wir vergessen niemals, dass die USA ein kapitalistisches Land sind. Aber unter den Amerikanern gibt es viele geistig und physisch gesunde Menschen, gesund in ihrer Einstellung zur Arbeit, zur Sache. Eben für diese Sachlichkeit, für diese Einfachheit haben wir Sympathien. Obwohl Amerika ein hochentwickeltes kapitalistisches Land ist, haben dort die Gepflogenheiten in der Industrie, die Gebräuche in der Produktionspraxis etwas von Demokratismus, was man von den alten europäischen kapitalistischen Ländern nicht sagen kann, wo noch immer der Herrengeist der feudalen Aristokratie lebendig ist.
Ludwig: Sie ahnen gar nicht, wie Recht sie haben.
Stalin: Wer weiß, vielleicht ahne ich es doch.
Obwohl der Feudalismus als Gesellschaftsordnung in Europa schon längst zerschlagen ist, bestehen dort in der Lebensart und in den Gepflogenheiten weiterhin bedeutende Überreste des Feudalismus. Die feudalen Kreise stellen weiterhin Techniker, Spezialisten, Gelehrte und Schriftsteller, die in die Industrie, Technik, Wissenschaft und Literatur Herrenmanieren hineintragen. Die feudalen Traditionen sind noch nicht restlos beseitigt.
Das kann man von Amerika nicht sagen, das ein Land ‚freier Kolonisatoren‘, ein Land ohne Gutsbesitzer, ohne Aristokraten ist. Daher die derben und verhältnismäßig einfachen amerikanischen Gepflogenheiten in der Produktion. Unsere Wirtschaftler aus den Reihen der Arbeiterklasse, die Amerika besuchten, haben diesen Zug sofort bemerkt. Nicht ohne in gewisser Beziehung angenehm überrascht zu sein, erzählten sie, dass in Amerika im Produktionsprozess der Arbeiter äußerlich nur schwer vom Ingenieur zu unterscheiden ist, und das gefällt ihnen natürlich. Ganz anders liegen die Dinge in Europa.
Aber wenn schon von unseren Sympathien für irgendeine Nation, oder richtiger für die Mehrheit irgendeiner Nation, die Rede ist, so müssen wir natürlich  über unsere Sympathien für die Deutschen sprechen. Zu diesen Sympathien stehen unsere Gefühle für die Amerikaner in keinem Vergleich.
Ludwig: Warum gerade für die deutsche Nation?
Stalin: Allein schon deshalb, weil sie der Welt solche Männer wie Marx und Engels gegeben hat. Es genügt, dies als Tatsache zu konstatieren.
Ludwig: In letzter Zeit machen sich bei einigen deutschen Politikern ernste Befürchtungen bemerkbar, dass die Politik der traditionellen Freundschaft zwischen der UdSSR und Deutschland in den Hintergrund gedrängt werden könnte. Diese Befürchtungen sind im Zusammenhang mit den Verhandlungen der UdSSR mit Polen aufgetreten. Wenn diese Verhandlungen die Anerkennung der gegenwärtigen polnischen Grenzen durch die UdSSR zum Ergebnis hätten, würde das eine schwere Enttäuschung für das gesamte deutsche Volk bedeuten, das bis jetzt der Meinung ist, dass die UdSSR gegen das Versailler System kämpft und nicht die Absicht hat, es anzuerkennen.
Stalin: Ich weiß, dass sich bei einigen deutschen Staatsmännern eine gewisse Unzufriedenheit und die Besorgnis bemerkbar macht, die Sowjetunion könnte in ihren Verhandlungen oder in irgendeinem Vertrag mit Polen einen Schritt tun, der bedeuten würde, dass die Sowjetunion die Besitzungen und die Grenzen Polens sanktioniert und garantiert.
Meiner Ansicht nach beruhen diese Befürchtungen auf einem Irrtum. Wir haben stets unsere Bereitwilligkeit bekundet, mit jedem beliebigen Staat einen Nichtangriffspakt abzuschließen. Mit einer Reihe von Staaten haben wir solche Verträge bereits abgeschlossen. Wir haben offen unsere Bereitwilligkeit zum Ausdruck gebracht, einen ähnlichen Vertrag auch mit Polen abzuschließen. Wenn wir uns bereit erklären, einen Nichtangriffspakt mit Polen abzuschließen, so tun wir das nicht um einer Phrase willen, sondern um wirklich einen solchen Vertrag zu unterzeichnen. Wir sind, wenn Sie so wollen, Politiker besonderer Art. Es gibt Politiker, die heute etwas versprechen oder erklären, tags darauf aber das, was sie erklärt haben, entweder vergessen oder ableugnen, ohne dabei auch nur zu erröten. So können wir nicht handeln. Das, was auswärts geschieht, wird unvermeidlich auch im Inneren des Landes bekannt, wird allen Arbeitern und Bauern bekannt. Würden wir das eine sagen und das andere tun, so würden wir unsere Autorität bei den Volksmassen  verlieren. In dem Augenblick, als die Polen ihre Bereitwilligkeit zum Ausdruck brachten, mit uns Verhandlungen über einen Nichtangriffspakt zu führen, haben wir selbstverständlich zugestimmt und sind in Verhandlungen eingetreten.
Was ist vom Standpunkt der Deutschen das Gefährlichste, was eintreten könnte? Eine Änderung in den Beziehungen zu den Deutschen, eine Verschlechterung der Beziehungen? Dafür liegt aber keinerlei Grund vor. Wir müssen, genauso wie die Polen, in dem Vertrag erklären, dass wir keine Gewalt anwenden, keinen Angriff unternehmen werden, um die Grenzen Polens, der UdSSR zu ändern oder deren Unabhängigkeit zu verletzen. Wie wir den Polen dieses Versprechen geben, geben sie uns das gleiche. Ohne den Punkt, dass wir keinen Krieg zu führen beabsichtigen, um die Unabhängigkeit unserer Staaten oder deren Grenzen zu verletzen, ohne einen solchen Punkt ist der Abschluss eines Vertrages unmöglich. Ohne dies kann von einem Vertrag gar keine Rede sein. Das ist das Maximum dessen, was wir  tun können.
Ist das eine Anerkennung des Versailler Systems? Nein. Oder ist das vielleicht eine Garantie der Grenzen? Nein. Wir waren nie die Garanten Polens und werden es nie werden, wie Polen nicht der Garant unserer Grenzen war und es auch nicht sein wird.  Unsere freundschaftlichen Beziehungen zu Deutschland bleiben dieselben wie bisher. Das ist meine feste Überzeugung.
Somit sind die Befürchtungen, von denen Sie sprechen, völlig unbegründet. Diese Befürchtungen sind auf Grund von Gerüchten entstanden, die von manchen Polen oder Franzosen verbreitet wurden. Sie werden verschwinden, sobald wir den Vertrag, wenn er von Polen unterzeichnet wird, veröffentlichen. Alle werden dann sehen, dass er nichts gegen Deutschland Gerichtetes enthält.
Ludwig: Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Erklärung. Gestatten Sie mir, Ihnen folgende Frage zu stellen: Sie sprechen von der ‚Gleichmacherei‘, wobei diesem Wort eine bestimmte ironische Nuance in Bezug auf die allgemeine Gleichstellung gegeben wird. Dabei ist doch die allgemeine Gleichstellung das sozialistische Ideal.
Stalin: Einen Sozialismus, in dem alle Menschen den gleichen Lohn, die gleiche Portion Fleisch, die gleiche Menge Brot erhalten, die gleichen Kleider tragen, die gleichen Produkte in gleicher Menge erhalten – einen solchen Sozialismus kennt der Marxismus nicht.
Der Marxismus sagt nur das eine:  Solange die Klassen nicht endgültig beseitigt sind, solange die Arbeit nicht aus einem Mittel zum Leben zum ersten Lebensbedürfnis der Menschen, zu einer freiwilligen Arbeit für die Gesellschaft geworden ist, werden die Menschen für ihre Arbeit entsprechend ihren Leistungen bezahlt werden. ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung‘ – das ist die marxistische Formel des ersten Stadiums des Kommunismus, des ersten Stadiums der kommunistischen Gesellschaft.
Erst im höheren Stadium des Kommunismus, erst in der höheren Phase des Kommunismus wird  jeder seinen Fähigkeiten entsprechend arbeiten und für seine Arbeit entsprechend seinen Bedürfnissen erhalten. ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.‘
Es ist ganz klar, dass verschiedene Menschen auch im Sozialismus verschiedene Bedürfnisse haben und haben werden. Der Sozialismus hat nie die Verschiedenheiten in Bezug auf den Geschmack, auf die Quantität und Qualität der Bedürfnisse geleugnet. Lesen Sie, wie Marx Stirner wegen seiner Tendenzen zur Gleichmacherei kritisierte, lesen Sie die Marxsche Kritik des Gothaer Programms von 1875, lesen Sie die späteren Werke von Marx, Engels, Lenin und Sie werden sehen, mit welcher Schärfe sie gegen die Gleichmacherei auftreten. Die Quelle der Gleichmacherei ist die individuelle bäuerliche Denkweise, die Auffassung, dass alle Güter gleichmäßig verteilt werden müssten, die Mentalität des primitiven ‚Bauernkommunismus‘. Gleichmacherei hat nichts gemein mit dem marxistischen Sozialismus. Nur Menschen, die den Marxismus nicht kennen, können so primitive Vorstellungen haben, als wollten die russischen Bolschewiki alle Güter auf einen Haufen werfen und sie dann gleichmäßig verteilen. Solche Vorstellungen haben nur Menschen, die nichts mit dem Marxismus gemein haben. So hatten sich Menschen wie die primitiven ‚Kommunisten‘ aus der Zeit Cromwells und der französischen Revolution den Kommunismus vorgestellt. Aber der Marxismus und die russischen Bolschewiki haben mit derartigen, auf Gleichmacherei ausgehenden ‚Kommunisten‘ nichts gemein.
Ludwig: Sie  rauchen eine Zigarette. Wo ist Ihre legendäre Pfeife, Herr Stalin? Sie sagten einmal, dass Worte und Legenden vergehen, Taten aber bleiben. Doch glauben Sie mir, es gibt im Ausland Millionen, die manche Ihrer Worte und Taten nicht kennen, von Ihrer legendären Pfeife aber wissen.
Stalin:  Ich habe die Pfeife zu Hause liegenlassen.
Ludwig: Ich will Ihnen  eine Frage stellen, die Sie vielleicht sehr wundern wird.
Stalin: Wir russische Bolschewiki haben längst verlernt, uns zu wundern.
Ludwig: Wir in Deutschland ebenfalls.
Stalin: Ja, Sie werden in Deutschland bald aufhören, sich zu wundern.
Ludwig: Meine Frage ist folgende: Sie haben sich wiederholt Risiken und Gefahren ausgesetzt, man hat sie verfolgt. Sie haben an Kämpfen teilgenommen. Eine Reihe Ihrer besten Freunde ist ums Leben gekommen. Sie sind am Leben geblieben. Womit erklären Sie das? Glauben Sie an ein Schicksal?
Stalin: Nein, ich glaube nicht daran. Bolschewiki, Marxisten glauben nicht an ein ‚Schicksal‘. Schon der Begriff ‚Schicksal‘ ist ein Vorurteil, ist Unsinn, ist ein Überbleibsel der Mythologie, der Mythologie der alten Griechen, bei denen die Schicksalsgöttin die Geschicke der Menschen lenkte.
Ludwig: So ist also die Tatsache, dass Sie am Leben geblieben sind, ein Zufall?
Stalin: Es gibt innere und äußere Ursachen, deren Gesamtheit dazu führt, dass ich am Leben geblieben bin. Aber ganz unabhängig davon könnte an meiner Stelle ein anderer sein, denn es MUSS hier jemand sitzen. Das ‚Schicksal‘ ist etwas Ungesetzmäßiges, etwas Mystisches. Ich glaube nicht an Mystik. Selbstverständlich gibt es Ursachen dafür, dass die Gefahren an mir vorübergingen. Es hätte aber eine Reihe anderer Zufälle, eine Reihe anderer Ursachen geben können, die zu einem direkt entgegengesetzten Resultat hätten führen können. Das aber hat nichts mit dem so genannten Schicksal zu tun.
Ludwig: Lenin lebte viele Jahre im Ausland, in der Emigration. Sie waren nur sehr kurze Zeit im Ausland. Halten Sie das für einen Mangel, glauben Sie, dass die Revolutionäre der Revolution mehr Nutzen brachten, die in der ausländischen Emigration lebten und die Möglichkeit hatten, Europa genau zu studieren, dafür aber den unmittelbaren Kontakt mit dem Volk verloren, oder die Revolutionäre, die hier arbeiteten, die Stimmung des Volkes kannten, dafür aber von Europa wenig wussten?
Stalin: Lenin muss man bei diesem Vergleich ausschließen. Nur sehr wenige von denen, die in Russland blieben, waren so eng mit der russischen Wirklichkeit, mit der Arbeiterbewegung innerhalb des Landes verbunden wie Lenin, obwohl er lange im Ausland lebte. Immer, wenn ich ihn im Ausland besuchte – 1906, 1907, 1912 und 1913, sah ich bei ihm Stöße von Briefen von Praktikern aus Russland, und immer wusste Lenin mehr als jene, die in Russland geblieben waren.  Er empfand seinen Aufenthalt im Ausland stets als Last.
In unserer Partei und ihrer Führung gibt es natürlich weit mehr Genossen, die in Russland blieben und nicht ins Ausland emigrierten, als ehemalige Emigranten, und sie hatten natürlich die Möglichkeit, der Revolution größeren Nutzen zu bringen als die im Ausland lebenden Emigranten. In unserer Partei sind nur noch wenig Emigranten. Auf zwei Millionen Parteimitglieder kommen hundert bis zweihundert. Von siebzig Mitgliedern des ZK waren kaum mehr als drei bis vier in der Emigration.
Was die Kenntnis Europas, das Studium Europas anbetrifft, so hatten selbstverständlich diejenigen, die Europa studieren wollten, mehr Möglichkeiten, dies zu tun, wenn sie in Europa lebten. Und in diesem Sinne haben diejenigen von uns, die nicht längere Zeit im Ausland gelebt haben, einiges versäumt. Aber der Aufenthalt im Ausland ist keineswegs von entscheidender Bedeutung für das Studium der europäischen Wirtschaft, Technik, der Kader der Arbeiterbewegung, jeglicher Literatur, der schönen wie der wissenschaftlichen. Unter sonst gleichen Bedingungen ist es natürlich leichter, Europa zu studieren, wenn man dort gelebt hat. Aber dieses Minus, das bei den Menschen besteht, die nicht in Europa gelebt haben, hat keine große Bedeutung. Im Gegenteil, ich kenne viele Genossen, die zwanzig Jahre im Ausland verbrachten, irgendwo in Charlottenburg oder im Quartier Latin lebten, jahrelang in Cafés herumsaßen, Bier tranken und trotzdem nicht imstande waren, Europa kennenzulernen und zu verstehen.
Ludwig: Glauben Sie nicht, dass die Deutschen als Nation mehr Ordnungsliebe haben als Freiheitsliebe?
Stalin: Einst hatte man in Deutschland tatsächlich große Achtung vor dem Gesetz. Als ich im Jahre 1907 zwei bis drei Monate in Berlin war, machten wir russischen Bolschewiki uns öfters über einige deutsche Freunde lustig, weil sie eben diese Achtung vor dem Gesetz hatten. Es war zum Beispiel folgende Anekdote im Umlauf: Als der Berliner SPD-Vorstand für einen bestimmten Tag und eine bestimmte Stunde eine Kundgebung ansetzte, zu der die Mitglieder der Organisation aus allen Vororten erscheinen sollten, da konnte eine Gruppe von 200 Personen aus einem Vorort, obgleich sie rechtzeitig zur festgesetzten Stunde in der Stadt eingetroffen waren, nicht zur Demonstration erscheinen, weil sie zwei Stunden lang auf dem Bahnsteig stand und es nicht wagte, ihn zu verlassen: Der Schaffner, der die Fahrkarten am Ausgang abnehmen sollte, war nicht da, und die Genossen konnten ihre Karten nicht abgeben. Man erzählte scherzend, dass erst ein russischer Genosse kommen musste, der den Deutschen den einfachen Ausweg aus der Lage zeigte: den Bahnsteig zu verlassen, ohne die Fahrkarten abzugeben …
Gibt es aber jetzt in Deutschland etwas Ähnliches? Hat man etwa jetzt in Deutschland Achtung vor dem Gesetz? Brechen nicht jene selben Nationalsozialisten, die, sollte man meinen, mehr als alle anderen die Hüter der bürgerlichen Gesetzlichkeit sein müssten, diese Gesetze, zerstören sie nicht die Arbeiterclubs, morden sie nicht ungestraft Arbeiter?
Ich spreche schon gar nicht von den Arbeitern, die, wie mir scheint, schon längst die Achtung vor der bürgerlichen Gesetzlichkeit verloren haben.
Ja, die Deutschen haben sich in letzter Zeit sehr geändert.
Ludwig: Unter welchen Bedingungen ist eine endgültige und vollständige Vereinigung der Arbeiterklasse unter Führung EINER Partei möglich? Warum ist, wie die Kommunisten sagen, eine solche Vereinigung der Arbeiterklasse erst nach der proletarischen Revolution möglich?
Stalin: Eine solche Vereinigung der Arbeiterklasse um die Kommunistische Partei kann am leichtesten als Ergebnis einer siegreichen proletarischen Revolution verwirklicht werden. Aber zweifellos wird sie im Wesentlichen noch vor der Revolution verwirklicht werden.
Ludwig: Ist Ehrgeiz ein Ansporn oder ein Hemmnis für die Tätigkeit einer großen geschichtlichen Persönlichkeit?
Stalin: Unter verschiedenen Bedingungen ist die Rolle des Ehrgeizes verschieden. Je nach den Bedingungen kann Ehrgeiz ein Ansporn oder ein Hemmnis für die Tätigkeit einer großen geschichtlichen Persönlichkeit sein. Meist ist er ein Hemmnis.
Ludwig: Ist die Oktoberrevolution in irgendeiner Hinsicht die Fortsetzung und Vollendung der französischen Revolution?
Stalin: Die Oktoberrevolution ist weder die Fortsetzung noch die Vollendung der großen französischen Revolution. Das Ziel der französischen Revolution war die Liquidierung des Feudalismus zwecks Festigung des Kapitalismus. Das Ziel der Oktoberrevolution hingegen ist die Liquidierung des Kapitalismus zwecks Errichtung des Sozialismus.
(Erschienen in: ‚Bolschewik‘, Nr. 8, 30. April 1932).

Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger trifft Stalin während einer Reise in die UdSSR, Moskau Januar 1937

… Im Übrigen ist Stalin im Gegensatz zu anderen Machthabern besonders zurückhaltend. Er hat keinen großen Titel angenommen, er nennt sich schlicht ‚Sekretär des Zentralkomitees‘. In der Öffentlichkeit zeigt er sich nur, wenn das unbedingt notwendig ist; er blieb zum Beispiel der großen Demonstration fern, die Moskau auf dem Roten Platz abhielt, um die Annahme der Verfassung zu feiern, die im Volksmund seinen Namen trägt.
Aus seinem Privatleben dringt kaum etwas je etwas an die Öffentlichkeit. Man erzählt von ihm Hunderte von Anekdoten, die dartun, wie sehr ihm das Schicksal jedes Einzelnen am Herzen liegt, wie er etwa ein Flugzeug mit Medikamenten nach Zentralasien schickt, um ein Kind zu retten, das sonst nicht gerettet werden kann, oder wie er einem allzu bescheidenen Schriftsteller, der sich von selber nicht rührt, geradezu mit Gewalt eine anständige, geräumige Wohnung aufnötigt. Doch solche Anekdoten gehen nur von Mund zu Mund, und nur in Ausnahmefällen kann eine Zeitung sie veröffentlichen. Von Stalins Privatleben, von seiner Familie, seinen Gewohnheiten weiß man Sicheres so gut wie gar nichts. Die öffentliche Feier seines Geburtstags verhindert er. Huldigt man ihm in der Öffentlichkeit, dann betont er, dass solche Huldigung ausschließlich seiner Politik gelte, nicht seiner Person. Als etwa der Kongress die Annahme der von ihm vorgeschlagenen und endgültig überarbeiteten Verfassung beschlossen hatte und ihm eine stürmische Ovation brachte, applaudierte er selber mit, zum Zeichen dafür, dass er diese Huldigung nicht als Anerkennung seiner Person, sondern lediglich als Anerkennung seiner Politik gelten lasse.
Es ist Stalin offensichtlich lästig, in der Art vergöttert zu werden, wie es ihm geschieht, und ab und zu macht er sich darüber lustig. Bei einem kleinen Essen, das er am Neujahrstag für einen intimen Freundeskreis gab, erhob er sein Glas und sagte: ‚Ich trinke auf das Wohl des unvergleichlichen Führers der Völker, des großen, genialen Genossen Stalin. So meine Lieben, und dies ist der letzte Toast, der  hier auf mich ausgebracht wird.‘
Stalin wirkt von allen mir bekannten Männern, die Macht haben, am schlichtesten. Ich sprach mit ihm freimütig über den geschmacklosen und maßlosen Kult, der mit seiner Person getrieben wird, und er antwortete ebenso freimütig. Es sei ihm, sagte er, Leid um die Zeit, die er auf Repräsentation verwenden müsse. Das ist glaubhaft; denn Stalin ist – man hat mir viele Beispiele gegeben und sie dokumentarisch belegt – ungeheuer arbeitsam und kümmert sich um jedes Detail, so dass er wirklich keine Zeit hat für überflüssigen Höflichkeits- und Verehrungskram. Von hundert Huldigungstelegrammen, die an ihn gelangen, lässt er durchschnittlich höchstens eines beantworten. Er ist persönlich überaus sachlich, fast bis zur Unhöflichkeit und lässt sich von seinem Gesprächspartner die gleiche Sachlichkeit gefallen.
Über die Geschmacklosigkeit der übertriebenen Verehrung seiner Person zuckt er die Achseln. Er entschuldigt seine Bauern und Arbeiter, die zu viel zu tun gehabt hätten, um sich noch Geschmack beizulegen, und mokiert sich ein bisschen über die hunderttausend ungeheuerlich vergrößerten Bilder eines Mannes mit Schnurrbart, die ihm bei Demonstrationen vor Augen flirren. Ich mache ihn darauf aufmerksam, dass schließlich auch Männer von zweifellosem Geschmack Stalinbüsten und -bilder, und was für welche, aufstellen an Orten, wo sie nicht hingehören, zum Beispiel in der Rembrandt-Ausstellung. Da wird er ernst. Er vermutet, dass hinter solchen Übertreibungen die Beflissenheit von Männern stecke, die sich erst spät zum Regime bekannt hätten und nun ihre Treue durch doppelte Intensität zu beweisen suchten. Ja, er hält es für möglich, dass die Absicht von Schädlingen dahinterstecke, welche ihn auf solche Art zu diskreditieren suchten. ‚Ein serviler Narr‘, sagt er ärgerlich, ‚schadet mehr als hundert Feinde.‘ Wenn er das ganze Trara dulde, erklärt er, dann deshalb, weil er wisse, welch naive Freude der festliche Lärm denen bereite, die ihn veranstalteten, und dass er nicht ihm persönlich zugedacht sei, sondern dem Repräsentanten des Grundsatzes, der Aufbau der sozialistischen Wirtschaft in der Sowjetunion sei wichtiger als die permanente Revolution.
Übrigens haben mittlerweile die Parteikomitees in Moskau und in Leningrad Beschlüsse gefasst, in denen sie die ‚falsche Praxis überflüssiger und sinnloser Begrüßungen der Parteiführer‘ scharf verurteilen, und aus den Zeitungen sind die überschwänglichen Huldigungstelegramme verschwunden.
Alles in allem lässt sich die neue, demokratische Verfassung, die Stalin der Sowjetunion gab, nicht mit einem hochmütigen Achselzucken als bloße Kulisse abtun. Mögen die Mittel, welche er und seine Helfer anwandten, häufig zwielichtig gewesen sein – List war für ihren gewaltigen Kampf so unerlässlich wie Tapferkeit – Stalin aber ist ehrlich, wenn er als sein letztes Ziel die Verwirklichung der sozialistischen Demokratie bezeichnet …
Stalins Werk gedieh. Kohle wurde gefördert, Eisen und Erze wurden gefördert, Elektrizitätswerke entstanden, die Schwerindustrie blieb kaum mehr hinter der eines anderen Landes zurück, Städte wurden gebaut, die Reallöhne stiegen, die kleinbürgerlichen Widerstände der Bauern wurden überwunden, ihre Gemeinschaftsgüter gaben Ertrag, in immer größeren Massen drängten sie in die Kollektivgüter. War Lenin der Cäsar der Sowjetunion gewesen, so wurde Stalin zu ihrem Augustus, zu ihrem ‚Mehrer‘ in jeder Hinsicht. Stalins Bau wuchs und wuchs. Aber er musste sehen, dass es immer noch Leute gab, die an dieses sichtbare, greifbare Werk nicht glauben wollten, die den Thesen Trotzkis mehr glaubten als dem Augenschein.
Ja, gerade unter den Männern, denen Stalin Freund war und die er in hohe Ämter berufen hatte, gab es einige, die dem Worte Trotzkis mehr glaubten als dem Werke Stalins. Sie behinderten dieses Werk, leisteten Widerstand, sabotierten. Sie wurden zur Verantwortung gezogen, ihre Schuld festgestellt. Stalin begnadigte sie, berief sie von neuem in wichtige Ämter.
Was musste der Mann Stalin denken, spüren, als er die Erfahrung machte, dass diese eine Kollegen und Freunde noch immer, trotz des augenscheinlichen Gelingens seines Werkes, seinem Feinde Trotzki anhingen, heimlich mit ihm zettelten und sein eigenes Werk, den ‚Stalinstaat‘, zu sabotieren suchten, um ihren alten Führer ins Land zurückzuholen?
Als ich Stalin sah, war der Prozess gegen die erste Trotzkistengruppe, gegen Sinowjew und Kamenjew, vorbei, die Angeklagten waren verurteilt und erschossen worden, und gegen die zweite Gruppe, gegen Pjatakow, Radek, Bucharin und Rykow, schwebte ein Verfahren; man wusste aber nur dunkel, wessen diese letzteren bezichtig wurden, und man wusste noch nicht, ob, wann und gegen wen unter ihnen ein Prozess stattfinden werde.
In dieser Zwischenzeit also, zwischen den beiden Prozessen, sah ich Stalin.
Auf seinen Bildern wirkt er groß, breit, stattlich. In Wirklichkeit ist er eher klein, schmächtig; in dem weiten Raum des Kreml, in dem ich ihn sah, verlor er sich geradezu.
Stalin spricht langsam, mit leiser, etwas dumpfiger Stimmer. Er liebt keinen Dialog mit kurzen, bewegten Fragen, Antworten, Zwischenberichten, sondern zieht es vor, langsame, überlegte Sätze aneinanderzureihen. Er spricht druckreif, manchmal, als ob er diktierte. Er geht, während er spricht, gerne hin und her, kommt dann plötzlich auf einen zu, einen Finger der schönen Hand gegen einen ausgestreckt, deutend, dozierend. Oder er malt, während er seine bedachten Sätze formt, mit blauem und rotem Bleistift Arabesken und Figuren auf ein Blatt Papier … Stalin spricht unverziert und weiß auch komplizierte Gedanken schlicht auszudrücken. Manchmal spricht er allzu schlicht, ein Mann, der gewohnt ist, seine Gedanken so zu fassen, dass sie von Moskau bis Wladiwostok verstanden werden. Er hat vielleicht keinen Witz, aber sicherlich hat er Humor; es kommt vor, dass sein Humor gefährlich wird. Ab und zu lacht er ein leises, dumpfiges, verschlagenes Lachen. Er ist auf vielen Gebieten zu Hause, und er zitiert, unvorbereitet Namen, Daten, Fakten präzis aus dem Gedächtnis.
Man sprach über Schreibfreiheit, über Demokratie und, wie ich schon berichtete, über die Vergötzung seiner Person. Nur zu Beginn der Unterhaltung drückte sich Stalin allgemein aus und gebrauchte gewisse schablonierte Wendungen des Parteivokabulars. Später wurde aus dem Parteiführer eine Persönlichkeit, nicht immer widerspruchslos, aber immer gescheit, hintergründig, überlegen …
Auch mir schien, solange ich in Westeuropa war, die Anklage des Sinowjewprozess von Grund auf unglaubwürdig, die hysterischen Geständnisse der Angeklagten schienen mir durch geheimnisvolle Mittel erpresst, die ganze Verhandlung kam mir wie ein mit vollendeter, befremdlicher und grausiger Kunst inszeniertes Theaterstück vor.
Als ich indes in Moskau dem zweiten Prozess beiwohnte, als ich Pjatakow, Radek und seine Freunde sah und hörte, zergingen in dem sinnlichen Eindruck dessen, was diese Angeschuldigten und wie sie es sagten, meine Bedenken, wie sich Salz in Wasser löst. Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist … Die Männer, die da vor Gericht standen, waren keineswegs gemarterte, verzweifelte Menschen vor ihrem Henker. Überhaupt darf man sich nicht vorstellen, dass diese Gerichtsverhandlung etwas Gemachtes, Gekünsteltes oder auch nur etwas Feierliches, Pathetisches an sich hatte … Wenn ein Regisseur diese Gerichtszenen hätte arrangieren müssen, dann hätte es jahrelanger Proben bedurft, um die Angeklagten so einzuspielen, dass sie einander eifrig in Kleinigkeiten korrigierten und dass ihre Bewegtheit sich auf so unterdrückte Art äußerte. Kurz, es müssen die Hypnotiseure, Giftmischer und Justizbeamten ,welche die Anklage präparierten, abgesehen von ihren übrigen verblüffenden Eigenschaften, auch ausgezeichnete Regisseure und Psychologen gewesen sein. …
(Aus: Lion Feuchtwanger, ‚Moskau 1937 – ein Reisebericht für meine Freunde‘, Berlin 1993).

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