Mittwoch, 23. Juli 2014

Der Bundesverband Deutsche Tafel präsentiert:

Gute Werke, die die Pflichtvergessenheit der Herrschaft offenlegen Quelle: Gegenstandpunkt 3-14 Angesichts des marktwirtschaftlichen Phänomens, dass Lebensmittel zwar im Überfluss vorhanden, aber zum Verkaufen da sind, weshalb alle diejenigen, die sich das Essen nicht leisten können, hungern müssen, hat der Bundesverband Deutsche Tafel (BDT) eine bestechende Idee für ein gutes Werk: Er sammelt auf der einen Seite Lebensmittel ein, die zum Wegwerfen bestimmt sind, weil mit ihnen kein Geld (mehr) zu verdienen geht, deren Eigentümer aber zu spenden bereit sind, weil das ihr Geschäft nicht schädigt, um sie auf der anderen Seite an Bedürftige zu verteilen. Das tut der Verband seit 1993 – und verzeichnet seitdem nicht nur ein stetes Wachstum der Nachfrage, so dass er heute mit mehr als 900 Tafeln bundesweit regelmäßig über 1,5 Millionen Bedürftige versorgt; auch hinsichtlich des sozialen Charakters ist sein Empfängerkreis deutlich bunter geworden: Waren anfangs noch Obdachlose die Hauptabnehmer, so sind es inzwischen z.B. ALG-II-Empfänger, Alleinerziehende, Studenten, Beschäftigte, Flüchtlinge und, nicht zuletzt, viele viele Kinder. Die Arbeit geht dem BDT also absehbarerweise nicht aus – aber eine Gefahr bei der flächendeckend organisierten Mildtätigkeit entdeckt sein Vorsitzender Jochen Brühl schon: „Die Politik darf sich nicht auf dem Engagement der Zivilgesellschaft ausruhen.“ (SZ, 27.05.) Offenbar tut sie es. Offenbar entdecken diejenigen, die ihrer Gesellschaft eine Wirtschaftsweise aufherrschen, in der nur ein zahlungsfähiges Bedürfnis zu dem Seinen kommt, in der privat initiierten Mildtätigkeit gegenüber den vielen Armen, die sich notwendigerweise ansammeln, eine sehr begrüßenswerte Sache. Solche aus persönlichen Beweggründen zustande gebrachten Hilfsdienste bringen nämlich keinen einzigen Sachzwang der Marktwirtschaft durcheinander, entlasten aber den Staat ein Stück weit von Kosten und Aufwand der Verwaltung verelendeter Volksteile. Die Tugend braver Bürger, angesichts der notorischen gesellschaftlichen ,Missstände‘ Privatinitiative zu ergreifen und ehrenamtliches Engagement zu zeigen, wird deshalb von oberster Stelle goutiert, z.B. mit Verdienstorden des Bundespräsidenten oder Schirmherrschaft der Kanzlerin. Der BDT nun weiß also um diesen zynischen Umgang der Politik mit der privaten Mildtätigkeit; er durchschaut die Funktionalisierung von Vereinen wie dem seinen für die Entlastung des Staatshaushalts von Almosen für die Armut, wenn er die Obrigkeit anklagt, dass sie sich auf dem ehrenamtlichen Engagement „ausruhen“ würde. Das ist das eine. Das andere ist der Standpunkt gegenüber der Staatsgewalt, den der BDT zugleich sehr selbstgewiss mit seiner modalen Wendung „…darf sich nicht…“ zum Ausdruck bringt und geltend macht: dass die Obrigkeit nämlich eigentlich damit beauftragt wäre, die „Ursachen von Armut“ zu bekämpfen und eine soziale „Verantwortung und Fürsorgepflicht“ zu praktizieren, aus der sie sich nicht stehlen dürfe. Der negative Befund über die wirkliche Praxis des Regierens, zu dem der BDT selber gelangt; sein eigenes Bewusstsein davon, dass Vereine wie der seine gerne als nützliche Idioten billiger Armutsbetreuung funktionalisiert werden, widerspricht zwar diesem der Staatsgewalt zugesprochenen sozialen Auftrag ziemlich fundamental, und verweist darauf, dass sie ihre Macht ganz anderen Dingen widmet. Das hält der Verband aber überhaupt nicht für einen Einwand gegen seinen Maßstab, an dem er den Staat misst, sondern für ein Dokument dessen, dass die praktizierte Politik sich an dem vergeht, was sie eigentlich zu tun hätte. Nämlich dem idealistischen Bild von Herrschaft zu entsprechen, in welchem der BDT diese als ,Bekämpferin‘ von Armut zeichnet: „Die Tafeln können Armut nur lindern, aber nicht ihre Ursachen bekämpfen. Das ist Aufgabe des Sozialstaates.“ (Vorsitzender Brühl, Pressemitteilung 26.05.) Die Erkenntnis über die Macht des Staates, dass diese so ungleich viel nachhaltiger auf gesellschaftliche Verhältnisse einwirkt als es privat organisierte Mildtätigkeit je vermag, führt beim BDT deshalb nie und nimmer zu dem Schluss, dass Armut dann möglicherweise das Resultat seines Wirkens ist. In dem idealistischen Bild vom ,Sozialstaat‘ steht laut Auskunft des Verbandes der menschenfreundliche Auftrag dieser Machtinstanz über bürgerliche Lebensbedingungen felsenfest, und erklärt sich die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen um seine Tafeln drängeln, ganz aus der Verantwortungs- und Tatenlosigkeit der Obrigkeit. In der Anklage der praktizierten Politik, der er nicht genug Schlechtes nachzusagen weiß, drückt er so sein fundamentales Vertrauen in den Staat und dessen ,eigentliche‘ Ziele und Zwecke aus. Das hat genau eine praktische Konsequenz. Nicht für die Ausübung der Staatsgewalt, aber für das Aufgabenspektrum und das Auftreten des BDT. Arme werden nicht mehr bloß gefüttert, sondern sorgfältig gezählt und katalogisiert, damit der Verband mit diesem Material seiner Obrigkeit als ihr schlechtes Gewissen und sie belehrende Instanz gegenübertreten kann: „Wir erleben, dass Armut und Armutsbedrohung weiter in der Gesellschaft verbreitet sind als die Bundesregierung in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht vermittelt… Die Tafeln sind eine Kompassnadel für gesellschaftliche Entwicklungen. Bei uns wird die Not der Menschen sichtbar. … Die Politik darf hier nicht einfach wegsehen.“ (Ebd.) Der tiefere Sinn der Dauerübung, einer Instanz, der man bescheinigt, Armut zu beschönigen oder „einfach wegzusehen“, noch drastischere Armutszahlen und die Aufdeckung vielfältiger gesellschaftlicher Fehlentwicklungen öffentlich entgegenzuhalten, liegt einzig und allein darin, den unbezweifelbar guten Auftrag der Herrschaft dadurch zu bezeugen, dass man zeigt, wie sehr er von der Obrigkeit mal wieder nicht verwirklicht worden ist.

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