Freitag, 26. April 2013

Karl Marx Kritik des Gothaer Programms

Vorbemerkung der Redaktion „Marx wirklich studieren“ Kurzinformation Die „Kritik des Gothaer Programms“ beinhaltet sowohl die Verteidigung und Vertiefung pro- grammatischer Grundfragen des „Manifest der Kommunistischen Partei“, wie die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats als Staat der Übergangsperiode zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft, als auch die Weiterentwicklung der Perspektive, der Gemeinsam- keiten und Unterschiede von Sozialismus und Kommunismus. Diese Schrift ist auch ein Muster- beispiel dafür, wie der wissenschaftliche Kommunismus sich im Kampf gegen den Opportunismus entwickelt, speziell gegen die zunehmende revisionistische Versumpfung der deutschen Sozial- demokratie. Sie macht deutlich, dass im Kampf um das Programm der Kommunistischen Partei kein Prinzipienschacher betrieben werden darf. Textgattung / Entstehung / Publikation Diese von Marx betitelten „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ sind nach dem „Manifest“ einer der wichtigsten programmatischen Beiträge zur Entwicklung des wissen- schaftlichen Kommunismus. Die Kritik wurde von Marx April bis Anfang Mai 1875 geschrieben und am 5. Mai an Wilhelm Bracke nebst einem Begleitbrief geschickt und nur intern verbreitet. Die Kri- tik bezieht sich auf den am 7. März 1875 veröffentlichten Programmentwurf, der für die Vereini- gung der beiden deutschen Arbeiterorganisationen, der von Wilhelm Liebknecht und August Bebel geleiteten „Eisenacher“ und der „Lassalleaner“ zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands ge- schrieben wurde. Der Programmentwurf wurde trotz der grundsätzlichen Kritik nur mit geringen Veränderungen auf dem Gothaer Parteitag im Mai 1875 angenommen (siehe dazu den Entwurf des Programms und das auf dem Parteitag beschlossene Programm im Anhang). Die Marxsche Kritik wurde von Engels erst 1891 im Vorfeld des Erfurter Parteitags entgegen dem Wunsch der opportunistischen Führung der deutschen Sozialdemokratie veröffentlicht, wobei er in seinem Vorwort auf Auslassungen und „mildere Ausdrücke“ hinweist. Dabei hatte Engels auch Kautskys Widerstand gegen die Veröffentlichung zu überwinden, was Engels in seinem Brief an Kautsky vom 23. Februar 1891 aufzeigt. Weiterhin wurde ein Brief von Engels an Bebel vom 28. März 1875, der in vielen Punkten sich mit der „Kritik des Gothaer Programms“ von Marx deckt, erst lange nach Engels’ Tod in Bebels Werk „Aus meinem Leben“ 1911 zum ersten Mal veröffentlicht (siehe dazu die Briefe von Engels im Anhang). Kurz- Charakteristik Marx zeigt uns mit seiner Kritik, mit welcher Genauigkeit, Klarheit, Prinzipienfestigkeit und auch rücksichtsloser Schärfe an ein Dokument heranzugehen ist, das den Anspruch hat, der Arbeiter- klasse ein grundlegendes Programm für ihren revolutionären Kampf für den Kommunismus zu ge- ben. Diese Schrift ist auch eine Richtschnur für das Herangehen bei der Entlarvung des Oppor- tunismus, seines Wesens und seiner klassenmäßigen Wurzeln. Marx zeigt, mit welcher Methode Satz für Satz, ja Wort für Wort kritisiert und auf die Waagschale gelegt werden muss, wenn das Programm ernst genommen wird, als ein „Markstein“, an dem alle Welt „die Höhe der Parteibewe- gung misst“ (Marx, Brief an Wilhelm Bracke vom 5. Mai 1875). Marx’ Kritik geht entlang des dreiseitigen Programmentwurfs vor und ist ein in vier Abschnitte ge- gliedertes Dokument. Im I. Abschnitt wird erläutert, wie durch Phrasen die Klassenwidersprüche vertuscht und die Ausbeutergesellschaft gerechtfertigt werden, wie mit der Phrase von der „ge- rechten Verteilung des Arbeitsertrags“ der Wesenskern der zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft (Sozialismus und Kommunismus) zugedeckt wird. Marx arbeitet dabei in materialisti- scher Weise die positive revolutionäre Perspektive des Kommunismus heraus, wie sie real aus dem „Schoß“ des Kapitalismus hervorgeht und welche „Muttermale“ in der sozialistischen Über- gangsgesellschaft noch zu überwinden sind. Zudem entlarvt Marx, dass die Mittelschichten und Bauern pauschal als „reaktionäre Masse“ diffamiert werden, und dass Nationalismus statt proleta- rischer Internationalismus propagiert wird. Im II. Abschnitt kritisiert Marx, dass durch die Propagie- rung von Lassalles „ehernem Lohngesetz“ das kapitalistische Ausbeutungssystem verschleiert wird. Im III. Abschnitt wird entlarvt, dass laut Programmentwurf die sozialistische Organisation der Produktion aus der „Staatshilfe“ entsteht und nicht auf dem revolutionären Weg des gewaltsamen Sturzes der Bourgeoisie. Im IV. Abschnitt entlarvt Marx, dass mit der Phrase vom „freien Staat“ der Klassencharakter des Staates geleugnet, dass legalistische Illusionen geschürt und reformistische Forderungen aufgestellt werden, die vom „Untertanenglauben an den Staat“ durchdrungen sind. Als prinzipiellen Kern prangert Marx an, dass mit keinem Wort die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats bis zum Kommunismus, solange noch Klassenwidersprüche bestehen, erwähnt wird: „Zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der re- volutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Über- gangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Prole- tariats.“ (MEW 19, S. 28) Genauer Hinweis auf die von uns verwendeten Quellen Der hier abgedruckte Text der „Kritik des Gothaer Programms“ erfolgt nach der ursprünglichen Fassung von Marx von Anfang Mai 1875 sowie dem Brief von Engels von Ende März 1875. Der Text wurde der Dietz-Ausgabe, 1. Auflage von 1962, der Marx/Engels Werke (MEW Band 19, S. 3–32) entnommen. Inhaltliche Abweichungen in der Veröffentlichung von 1891 sind als Fußnoten vermerkt und der MEW 19 entnommen. Stellen, die 1891 aus Zensurgründen ausgelassen und durch Punkte ersetzt wurden, sind in spitze Klammern gesetzt. Zusätzlich sind einige Fußnoten aus der zweibändigen Ausgabe Marx/Engels Ausgewählte Schriften (MEAS), Band II, Moskau 1950, aufgenommen und gekennzeichnet. Die MEAS wurden vom Verlag Olga Benario und Her- bert Baum, Offenbach 2004, neu herausgegeben. Das Vorwort von Engels von 1891 ist entnom- men aus MEW 19, S. 521/522). Der Brief von Engels an Bebel ist entnommen aus MEW 34, S. 125–131. Der Brief von Engels an Kautsky ist entnommen aus MEW 38, S. 39–41. Friedrich Engels [Vorwort zur „Kritik des Gothaer Programms“ von Karl Marx] [1891] Das hier abgedruckte Manuskript – der Begleitbrief an Bracke sowohl wie die Kritik des Program- mentwurfs – wurde 1875 kurz vor dem Gothaer Einigungskongress an Bracke zur Mitteilung an Geib, Auer, Bebel und Liebknecht und spätern Rücksendung an Marx abgesandt. Da der Haller Par- teitag die Diskussion des Gothaer Programms auf die Tagesordnung der Partei gesetzt hat, würde ich glauben, eine Unterschlagung zu begehn, wenn ich dies wichtige – vielleicht das wichtigste – in diese Diskussion einschlagende Aktenstück der Öffentlichkeit noch länger vorenthielte. Das Manuskript hat aber noch eine andere und weiter reichende Bedeutung. Zum ersten Mal wird hier die Stellung von Marx zu der von Lassalle seit dessen Eintritt in die Agitation eingeschlagnen Richtung klar und fest dargelegt, und zwar sowohl was die ökonomischen Prinzipien wie die Taktik Lassalles betrifft. Die rücksichtslose Schärfe, mit der hier der Programmentwurf zergliedert, die Unerbittlich- keit, womit die gewonnenen Resultate ausgesprochen, die Blößen des Entwurfs aufgedeckt werden, alles das kann heute, nach fünfzehn Jahren, nicht mehr verletzen. Spezifische Lassalleaner existieren nur noch im Ausland als vereinzelte Ruinen, und das Gothaer Programm ist in Halle so- gar von seinen Schöpfern als durchaus unzulänglich preisgegeben worden.1 Trotzdem habe ich einige persönlich scharfe Ausdrücke und Urteile da, wo dies für die Sache gleichgültig war, ausgelassen und durch Punkte ersetzt. Marx selbst würde dies tun, wenn er das Manuskript heute veröffentlichte. Die stellenweise heftige Sprache desselben war provoziert durch zwei Umstände: Erstens waren Marx und ich mit der deutschen Bewegung inniger verwachsen als mit irgendeiner andern; der in diesem Programmentwurf bekundete entschiedene Rückschritt muss- te uns also besonders heftig erregen. Zweitens aber lagen wir damals, kaum zwei Jahre nach dem Haager Kongress der Internationale2, im heftigsten Kampf mit Bakunin und seinen Anarchisten, die uns für alles verantwortlich machten, was in Deutschland in der Arbeiterbewegung geschah; wir mussten also erwarten, dass man uns auch die geheime Vaterschaft dieses Programms zuschob. Diese Rücksichten fallen jetzt weg, und mit ihnen die Notwendigkeit der fraglichen Stellen. Auch aus pressgesetzlichen Gründen sind einige Sätze nur durch Punkte angedeutet. Wo ich einen milderen Ausdruck wählen musste, ist er in eckige Klammern gesetzt. Sonst ist der Abdruck wört- lich. London, 6. Januar 1891 Fr. Engels 1 Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Halle, der erste nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes, fasste am 16. Oktober 1890 auf Antrag von Wilhelm Liebknecht, dem Hauptverfasser des Gothaer Programms, den Beschluss, bis zum nächsten Parteitag den Entwurf eines neuen Programms auszuarbeiten. Das neue Programm wurde im Oktober 1891 auf dem Erfurter Parteitag angenommen („Erfurter Programm“). [Red. der MEAS II, 1950, S. 8] 2 Der Haager Kongress der I. Internationale im September 1872 stand im Zeichen des Kampfes gegen die Bakunisten. Die Mehrheit des Kongresses stellte sich auf die Seite des von Marx geführten Generalrats. Bakunin wurde aus der In- ternationale ausgeschlossen. [Red. der MEAS II, 1950, S. 8] Karl Marx Brief an Bracke [1875] London, 5. Mai 75 [Marx’ Argumente gegen eine prinzipienlose Vereinigung] Lieber Bracke, Nachstehende kritische Randglossen zu dem Koalitionsprogramm sind Sie wohl so gut, nach Durchlesung, zur Einsicht an Geib und Auer, Bebel und Liebknecht mitzuteilen. Ich bin überbeschäftigt und muss schon weit über das Arbeitsmaß hinausschießen, das mir ärztlich vorgeschrieben ist. Es war mir daher keineswegs ein „Genuss“, solch langen Wisch zu schreiben. Doch war es notwendig, damit später meinerseits zu tuende Schritte von den Parteifreunden, für welche diese Mitteilung bestimmt ist, nicht missdeutet werden. Nach abgehaltnem Koalitionskongress werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröf- fentlichen, des Inhalts, dass wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehn und nichts damit zu tun haben. Es ist dies unerlässlich, da man im Ausland die von Parteifeinden sorgsamst genährte Ansicht – die durchaus irrige Ansicht – hegt, dass wir die Bewegung der sog. Eisenacher Partei insgeheim von hier aus lenken. Noch in einer jüngst erschienenen russischen Schrift3 macht Bakunin mich z. B. nicht nur für alle Programme etc. jener Partei verantwortlich ,sondern sogar für jeden Schritt, den Liebknecht, vom Tag seiner Kooperation mit der Volkspartei4 an, getan hat. Abgesehn davon ist es meine Pflicht, ein nach meiner Überzeugung durchaus verwerfliches und die Partei demoralisierendes Programm auch nicht durch diplomatisches Stillschweigen anzuerkennen. Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme. Konnte man also nicht – und die Zeitumstände ließen das nicht zu – über das Eisenacher Programm hinaus- gehn, so hätte man einfach eine Übereinkunft für Aktion gegen den gemeinsamen Feind ab- schließen sollen. Macht man aber Prinzipienprogramme (statt dies bis zur Zeit aufzuschieben, wo derglei- chen durch längere gemeinsame Tätigkeit vorbereitet war), so errichtet man vor aller Welt Marksteine, an denen sie die Höhe der Parteibewegung misst. Die Chefs der Lassalleaner kamen, weil die Verhältnisse sie dazu zwangen. Hätte man ihnen von vornherein erklärt, man lasse sich auf keinen Prinzipienschacher ein, so hätten sie sich mit ei- nem Aktionsprogramm oder Organisationsplan zu gemeinschaftlicher Aktion begnügen müs- sen. Statt dessen erlaubt man ihnen, sich mit Mandaten bewaffnet einzustellen, und erkennt diese Mandate seinerseits als bindend an, ergibt sich also den Hilfsbedürftigen auf Gnade und Ungnade. Um der Sache die Krone aufzusetzen, halten sie wieder einen Kongress vor dem Kompromisskon- 3 Diese Schrift erschien 1873 unter dem Titel „Gossudarstwennost i anarchija“ anonym und ohne Ortsangabe in der Schweiz in russischer Sprache. Die Haltlosigkeit der von Bakunin vorgebrachten Beschuldigungen wurde von Marx in einem Konspekt des Buches Bakunins bewiesen ... [Red. der MEW 19, S. 549] [Siehe MEW 18, S. 599–642 (Red. „Marx wirklich studieren“)] 4 Die Deutsche Volkspartei entstand 1865; sie setzte sich aus den demokratischen Elementen der Kleinbourgeoisie, teilweise aus Vertretern der Bourgeoisie – besonders der süddeutschen Staaten – zusammen. Im Gegensatz zu den Nati- onalliberalen trat die Deutsche Volkspartei gegen die Hegemonie Preußens in Deutschland auf und bestand auf einem föderativen Großdeutschland, dem sowohl Preußen als auch Österreich angehören sollten. Diese Partei, die eine anti- preußische Politik betrieb und allgemein demokratische Losungen verfocht, war zugleich Fürsprecherin der partikularis- tischen Bestrebungen einiger deutscher Staaten. Sie propagierte die Idee eines deutschen Bundesstaates und trat gleich- zeitig gegen die Vereinigung Deutschlands in Form einer einheitlichen zentralisierten demokratischen Republik auf. [Red. der MEW 19, S. 547/548] gress, während die eigne Partei ihren Kongress post festum5 hält. Man wollte offenbar alle Kritik eskamotieren und die eigne Partei nicht zum Nachdenken kommen lassen. Man weiß, wie die blo- ße Tatsache der Vereinigung die Arbeiter befriedigt, aber man irrt sich, wenn man glaubt, dieser augenblickliche Erfolg sei nicht zu teuer erkauft. Übrigens taugt das Programm nichts, auch abgesehn von der Heiligsprechung der Lassalleschen Glaubensartikel. Ich werde Ihnen in der nächsten Zeit die Schlusslieferungen der französischen Ausgabe des „Kapitals“ schicken. Der Fortgang des Drucks war auf längere Zeit durch Verbot der französischen Regierung gehemmt. Diese Woche oder An- fang der nächsten wird die Sache fertig. Haben Sie die früheren 6 Lieferungen erhalten? Schreiben Sie mir gefälligst auch die Adresse von Bernhard Becker, dem ich ebenfalls die Schlusslieferungen schicken muss. Die „Volksstaats“-Buchhandlung6 hat eigne Manieren. So hat man mir bis zu diesem Augenblick z. B. auch nicht ein einziges Exemplar des Abdrucks des „Kölner Kommunistenprozesses“7 zukommen lassen. Mit bestem Gruß. Ihr Karl Marx 5 nach dem Fest, d. h. hinterher. [Red. der MEAS II, 1950, S. 10] Gemeint ist der Verlag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der bei der Redaktion des zentralen Parteiorgans „Der Volksstaat“ (1869–1876) in Leipzig etabliert war. [Red. der MEAS II, 1950, S. 10] 7 „Kölner Kommunistenprozess“ – Es handelt sich um Marx’ Arbeit „Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln [siehe MEW 8, S. 405–470 (Red. „Marx wirklich studieren“)], die der „Volksstaat“ in Leipzig 1874 in Fortset- zungen zum ersten Mal in Deutschland veröffentlichte und die 1875 vom Verlag der Zeitung als Buch herausgegeben wurde. [Red. der MEW 19, S. 550] Karl Marx Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei [1875] I [Grundfragen zum Verhältnis zwischen Ökonomie und politischer Zielsetzung] [Durch Phrasen werden die Klassenwidersprüche vertuscht und die bestehende Ausbeutergesellschaft gerechtfertigt] 1. „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschafts- gliedern.“ Erster Teil des Paragraphen: „Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur.“ Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebenso sehr die Quelle der Ge- brauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft. Jene Phrase findet sich in allen Kinderfibeln und ist insofern richtig, als unterstellt wird, dass die Arbeit mit den dazugehö- rigen Gegenständen und Mitteln vorgeht. Ein sozialistisches Programm darf aber solchen bürgerli- chen Redensarten nicht erlauben, die Bedingungen zu verschweigen, die ihnen allein einen Sinn ge- ben. Nur8 soweit der Mensch sich von vornherein als Eigentümer zur Natur, der ersten Quelle aller Arbeitsmittel und -gegenstände, verhält, sie als ihm gehörig behandelt, wird seine Arbeit Quelle von Gebrauchswerten, also auch von Reichtum. Die Bürger haben sehr gute Gründe, der Arbeit übernatürliche Schöpfungskraft anzu- dichten; denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, dass der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kultur- zuständen der Sklave der andern Menschen sein muss, die sich zu Eigentümern der ge- genständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben. Lassen wir jetzt den Satz, wie er geht und steht, oder vielmehr hinkt. Was hätte man als Schlussfol- gerung erwartet? Offenbar dies: „Da die Arbeit die Quelle alles Reichtums ist, kann auch in der Gesellschaft sich niemand Reichtum aneignen, außer als Produkt der Arbeit. Wenn er also nicht selber arbeitet, lebt er von fremder Ar- beit und eignet sich auch seine Kultur auf Kosten fremder Arbeit an.“ Statt dessen wird durch die Wortschraube „und da“ ein zweiter Satz angefügt, um aus ihm, nicht aus dem ersten, eine Schlussfolgerung zu ziehn. Zweiter Teil des Paragraphen: „Nutzbringende Arbeit ist nur in der Gesellschaft und durch, die Gesellschaft möglich.“ Nach dem ersten Satz war die Arbeit die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, also auch keine Gesellschaft ohne Arbeit möglich. Jetzt erfahren wir umgekehrt, dass keine „nutzbringende“ Arbeit ohne Gesellschaft möglich ist. 8 (1891) Und [Red. der MEW 19, S. 15] Man hätte ebenso gut sagen können, dass nur in der Gesellschaft nutzlose und selbst gemeinschäd- liche Arbeit ein Erwerbszweig werden kann, dass man nur in der Gesellschaft vom Müßiggang le- ben kann etc. etc. – kurz, den ganzen Rousseau abschreiben können. Und was ist „nutzbringende“ Arbeit? Doch nur die Arbeit, die den bezweckten Nutzeffekt hervor- bringt. Ein Wilder – und der Mensch ist Wilder, nachdem er aufgehört hat, Affe zu sein –, der ein Tier mit einem Stein erlegt, der Früchte sammelt etc., verrichtet „nutzbringende“ Arbeit. Drittens: Die Schlussfolgerung: „Und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft mög- lich ist – gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach9 gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern.“ Schöner Schluss! Wenn die nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Arbeitsertrag der Gesellschaft – und kommt dem einzelnen Arbeiter davon nur soviel zu, als nicht nötig ist, um die „Bedingung“ der Arbeit, die Gesellschaft, zu erhalten. In der Tat ist dieser Satz auch zu allen Zeiten von den Vorfechtern10 des jedesmaligen Gesell- schaftszustands geltend gemacht worden. Erst kommen die Ansprüche der Regierung mit allem, was daran klebt, denn sie ist das gesellschaftliche Organ zur Erhaltung der gesellschaftlichen Ord- nung; dann kommen die Ansprüche der verschiednen Sorten von Privateigentümern11, denn die ver- schiednen Sorten Privateigentum sind die Grundlagen der Gesellschaft etc. Man sieht, man kann solche hohlen Phrasen drehn und wenden, wie man will. Irgendwelchen verständigen Zusammenhang haben der erste und zweite Teil des Paragraphen nur in dieser Fassung: „Quelle des Reichtums und der Kultur wird die Arbeit nur als gesellschaftliche Arbeit“ oder, was dasselbe ist, „in und durch die Gesellschaft“. Dieser Satz ist unstreitig richtig, denn wenn die vereinzelte Arbeit (ihre sachlichen Bedingungen vorausgesetzt) auch Gebrauchswerte schaffen kann, kann sie weder Reichtum noch Kultur schaffen. Aber ebenso unstreitig ist der andre Satz: „Im Maße, wie die Arbeit sich gesellschaftlich entwickelt und dadurch Quelle von Reichtum und Kultur wird, entwickeln sich Armut und Verwahrlosung auf seiten des Arbeiters, Reich- tum und Kultur auf seiten des Nichtarbeiters.“ Dies ist das Gesetz der ganzen bisherigen Geschichte. Es war also, statt allgemeine Redensarten über „die Arbeit“ und „die Gesellschaft“ zu machen, hier bestimmt nachzuweisen, wie in der jetzi- gen kapitalistischen Gesellschaft endlich die materiellen etc. Bedingungen geschaffen sind, welche die Arbeiter befähigen und zwingen, jenen geschichtlichen12 Fluch zu brechen. In der Tat aber ist der ganze, stilistisch und inhaltlich verfehlte Paragraph nur da, um das Lassalle- sche Stichwort vom „unverkürzten Arbeitsertrag“ als Losungswort auf die Spitze der Parteifahne zu schreiben. Ich komme später zurück auf den „Arbeitsertrag“, „das gleiche Recht“ etc., da dieselbe Sache in etwas andrer Form wiederkehrt. 2. „In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhän- gigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen.“ Der dem internationalen Statut entlehnte Satz ist in dieser „verbesserten“ Ausgabe falsch. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Grundeigentümer (das Mo- nopol des Grundeigentums ist sogar Basis des Kapitalmonopols) und der Kapitalisten. Das in- ternationale Statut nennt im betreffenden Passus weder die eine noch die andere Klasse der Mono- polisten. Es spricht vom „Monopol der Arbeitsmittel, d. h. der Lebensquellen“; der Zusatz „Le- bensquellen“ zeigt hinreichend, dass der Grund und Boden in den Arbeitsmitteln einbegriffen ist. 9 (1891) mit [Red. der MEW 19, S. 16] (1891) Verfechtern [Red. der MEW 19, S. 16] 11 (1891) Privateigentum [Red. der MEW 19, S. 16] 12 (1891) gesellschaftlichen [Red. der MEW 19, S. 17] 10 Die Verbesserung wurde angebracht, weil Lassalle, aus jetzt allgemein bekannten Gründen, nur die Kapitalistenklasse angriff, nicht die Grundeigentümer. In England ist der Kapitalist meistens nicht einmal der Eigentümer des Grund und Bodens, auf dem seine Fabrik steht. [Die zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaft] [Die Phrase von der „gerechten Verteilung des Arbeitsertrags“] 3. „Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut der Gesellschaft und die genossen- schaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertrags.“ „Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut“! Soll wohl heißen ihre „Verwandlung in Gemeingut“. Doch dies nur nebenbei. Was ist „Arbeitsertrag“? Das Produkt der Arbeit oder sein Wert? Und im letzteren Fall, der Ge- samtwert des Produkts oder nur der Wertteil, den die Arbeit dem Wert der aufgezehrten Produkti- onsmittel neu zugesetzt hat? „Arbeitsertrag“ ist eine lose Vorstellung, die Lassalle an die Stelle bestimmter ökonomischer Be- griffe gesetzt hat. Was ist „gerechte“ Verteilung? Behaupten die Bourgeois nicht, dass die heutige Verteilung „gerecht“ ist? Und ist sie in der Tat nicht die einzige „gerechte“ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise? Werden die ökonomischen Verhältnisse durch Rechtsbegriffe geregelt, oder entspringen nicht umgekehrt die Rechtsverhältnisse aus den ökonomischen? Haben nicht auch die sozialistischen Sektierer die ver- schiedensten Vorstellungen über „gerechte“ Verteilung? Um zu wissen, was man sich bei dieser Gelegenheit unter der Phrase „gerechte Verteilung“ vorzu- stellen hat, müssen wir den ersten Paragraphen mit diesem zusammenhalten. Letzterer unterstellt eine Gesellschaft, worin „die Arbeitsmittel Gemeingut sind und die Gesamtarbeit genossenschaft- lich geregelt ist“, und aus dem ersten Paragraphen ersehn wir, dass „der Ertrag der Arbeit unver- kürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern gehört“. „Allen Gesellschaftsgliedern“? Auch den nicht arbeitenden? Wo bleibt da „der unverkürzte Ar- beitsertrag“? Nur den arbeitenden Gesellschaftsgliedern? Wo bleibt da „das gleiche Recht“ aller Gesellschaftsglieder? Doch „alle Gesellschaftsglieder“ und „das gleiche Recht“ sind offenbar nur Redensarten. Der Kern besteht darin, dass in dieser kommunistischen Gesellschaft jeder Arbeiter seinen13 „unverkürzten“ Lassalleschen „Arbeitsertrag“ erhalten muss. Nehmen wir zunächst das Wort „Arbeitsertrag“ im Sinne des Produkts der Arbeit, so ist der genos- senschaftliche Arbeitsertrag das gesellschaftliche Gesamtprodukt. Davon ist nun abzuziehen: Erstens: Deckung zum Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel. Zweitens: zusätzlicher Teil für Ausdehnung der Produktion. Drittens: Reserve- oder Assekuranzfonds gegen Missfälle, Störungen durch Naturereignisse etc. Diese Abzüge vom „unverkürzten Arbeitsertrag“ sind eine ökonomische Notwendigkeit, und ihre Größe ist zu bestim- men nach vorhandenen Mitteln und Kräften, zum Teil durch Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber sie sind in keiner Wei- se aus der Gerechtigkeit kalkulierbar. Bleibt der andere Teil des Gesamtprodukts, bestimmt, als Konsumtionsmittel zu dienen. Bevor es zur individuellen Teilung kommt, geht hiervon wieder ab: 13 (1891) einen [Red. der MEW 19, S. 18] rstens: die allgemeinen, nicht direkt14 zur Produktion gehörigen Verwaltungskosten. Dieser Teil wird von vornherein aufs bedeutendste beschränkt im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und vermindert sich im selben Maß, als die neue Gesellschaft sich entwickelt. Zweitens: was zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, wie Schulen, Gesundheitsvorrich- tungen etc. Dieser Teil wächst von vornherein bedeutend im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und nimmt im selben Maß zu, wie die neue Gesellschaft sich entwickelt. Drittens: Fonds für Arbeitsunfähige etc., kurz, für, was heute zur sog. offiziellen Armenpflege gehört. Erst jetzt kommen wir zu der „Verteilung“, die das Programm, unter Lassalleschem Einfluss, bor- nierterweise allein ins Auge fasst, nämlich an den Teil der Konsumtionsmittel, der unter die indivi- duellen Produzenten der Genossenschaft verteilt wird. Der „unverkürzte Arbeitsertrag“ hat sich unter der Hand bereits in den „verkürzten“ verwandelt, obgleich, was dem Produzenten in seiner Eigenschaft als Privatindividuum entgeht, ihm direkt oder indirekt in seiner Eigenschaft als Gesellschaftsglied zugut kommt. Wie die Phrase des „unverkürzten Arbeitsertrags“ verschwunden ist, verschwindet jetzt die Phrase des „Arbeitsertrags“ überhaupt. Innerhalb der genossenschaftlichen, auf Gemeingut an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft tauschen die Produzenten ihre Produkte nicht aus; ebenso wenig erscheint hier die auf Produkte verwandte Arbeit als Wert dieser Produkte, als eine von ihnen besessene sachliche Eigenschaft, da jetzt, im Gegensatz zur kapitalistischen Gesellschaft, die individuel- len Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamt- arbeit existieren. Das Wort „Arbeitsertrag“, auch heutzutage wegen seiner Zweideutigkeit verwerf- lich, verliert so allen Sinn. [Die Notwendigkeit einer sozialistischen Übergangsperiode, der „ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft“] Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der ka- pitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geis- tig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt. Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. Z. B. der gesellschaftliche Arbeitstag be- steht aus der Summe der individuellen Arbeitsstunden. Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln soviel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Ar- beit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der andern zurück. Es herrscht hier offenbar dasselbe Prinzip, das den Warenaustausch regelt, soweit er Austausch Gleichwertiger ist. Inhalt und Form sind verändert, weil unter den veränderten Umständen niemand etwas geben kann außer seiner Arbeit und weil andrerseits nichts in das Eigentum der einzelnen übergehn kann außer individuellen Konsumtionsmitteln. Was aber die Verteilung der letzteren unter die einzelnen Produzenten, betrifft, herrscht dasselbe Prinzip wie beim Austausch von Warenäqui- valenten, es wird gleich viel Arbeit in einer Form gegen gleich viel Arbeit in einer andern ausge- tauscht. 14 (1891) fehlt: direkt [Red. der MEW 19, S. 19] Das gleiche Recht ist hier daher immer noch – dem Prinzip nach – das bürgerliche Recht, ob- gleich Prinzip und Praxis sich nicht mehr in den Haaren liegen, während der Austausch von Äqui- valenten beim Warenaustausch nur im Durchschnitt, nicht für den einzelnen Fall existiert. Trotz dieses Fortschritts ist dieses gleiche Recht stets noch mit einer bürgerlichen Schranke behaftet. Das Recht der Produzenten ist ihren Arbeitslieferungen proportionell; die Gleichheit besteht darin, dass an gleichem Maßstab, der Arbeit, gemessen wird. Der eine ist aber physisch oder geistig dem andern überlegen, liefert also in derselben Zeit mehr Arbeit oder kann während mehr Zeit arbeiten; und die Arbeit, um als Maß zu dienen, muss der Ausdehnung oder der Intensität nach bestimmt werden, sonst hörte sie auf, Maßstab zu sein. Dies gleiche Recht ist ungleiches Recht für ungleiche Arbeit. Es erkennt keine Klassenunterschiede an, weil jeder nur Arbeiter ist wie der andre; aber es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfä- higkeit der Arbeiter15 als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit, seinem Inhalt nach, wie alles Recht. Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedne Individuen, wenn sie nicht ungleiche wären) sind nur an gleichem Maßstab messbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite fasst, z. B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht. Ferner: Ein Arbeiter ist verheiratet, der andre nicht; einer hat mehr Kinder als der andre etc. etc. Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als der andre etc.. Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste das Recht, statt gleich, vielmehr16 ungleich sein. Aber diese Missstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Ge- sellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft. [Die „höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft“] In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Un- terordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geis- tiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allsei- tigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte17 gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ih- re Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen! Ich bin weitläufiger auf den „unverkürzten Arbeitsertrag“ einerseits, „das gleiche Recht“, „die ge- rechte Verteilung“ andrerseits eingegangen, um zu zeigen, wie sehr man frevelt, wenn man einer- seits Vorstellungen, die zu einer gewissen Zeit einen Sinn hatten, jetzt aber zu veraltetem Phrasen- kram geworden, unsrer Partei wieder als Dogmen aufdrängen will, andrerseits aber die realistische Auffassung, die der Partei so mühvoll beigebracht worden, aber Wurzeln in ihr geschlagen, wieder durch ideologische Rechts- und andre, den Demokraten und französischen Sozialisten so geläufige Flausen verdreht. Abgesehn von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung We- sens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen. Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produkti- onsbedingungen selbst; letztere Verteilung aber ist ein Charakter der Produktionsweise 15 (1891) fehlt: der Arbeiter [Red. der MEW 19, S. 21] (1891) fehlt: vielmehr [Red. der MEW 19, S. 12] 17 (1891) die Produktionskräfte [Red. der MEW 19, S. 21] 16 selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z. B. beruht darauf, dass die sachlichen Produktionsbe- dingungen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Kon- sumtionsmittel. Der Vulgärsozialismus (und von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen Ökonomen überkommen, die Distribution als von der Produktionsweise unabhän- gig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen. Nachdem das wirkliche Verhältnis längst klargelegt, warum wieder rückwärtsgehn? [Missachtung der Bündnispartner des Proletariats als „reaktionäre Masse“] 4. „Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle andren Klassen nur eine reakti- onäre Masse sind.“ Die erste Strophe ist aus den Eingangsworten der internationalen Statuten, aber „verbessert“. Dort heißt es: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss die Tat der Arbeiter selbst sein“; hier hat dagegen „die Arbeiterklasse“ zu befreien – was? „die Arbeit“. Begreife, wer kann. Zum Schadenersatz ist dagegen die Gegenstrophe Lassallesches Zitat vom reinsten Wasser: „der (der Arbeiterklasse) gegenüber alle andern Klassen nur eine reaktionäre Masse bilden“. Im „Kommunistischen Manifest“ heißt es: „Von allen Klassen, welche heutzutage der Bour- geoisie gegenüberstehn, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klassen verkommen und gehn unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.“ Die Bourgeoisie ist hier als revolutionäre Klasse aufgefasst – als Trägerin der großen Industrie – gegenüber Feudalen und Mittelständen, welche alle gesellschaftlichen Positionen behaupten wollen, die das Gebilde veralteter Produktionsweisen. Sie bilden also nicht zusammen mit der Bourgeoisie nur eine reaktionäre Masse. Andrerseits ist das Proletariat der Bourgeoisie gegenüber revolutionär, weil es, selbst erwachsen auf dem Boden der großen Industrie, der Produktion den kapitalistischen Charakter abzustreifen strebt, den die Bourgeoisie zu verewigen sucht. Aber das Manifest setzt hinzu: dass die „Mittelstände ... revolutionär (werden) ... im Hinblick auf ihren bevorstehenden Übergang ins Proletariat“. Von diesem Gesichtspunkt ist es also wieder Unsinn, dass sie, „zusammen mit der Bourgeoisie“ und obendrein den Feudalen, gegenüber der Arbeiterklasse „nur eine reaktionäre Masse bilden“. Hat man bei den letzten Wahlen Handwerkern, kleinen Industriellen etc. und Bauern zugerufen: Uns gegenüber bildet ihr mit Bourgeois und Feudalen nur eine reaktionäre Masse? Lassalle wusste das „Kommunistische Manifest“ auswendig wie seine Gläubigen die von ihm ver- fassten Heilsschriften. Wenn er es also so grob verfälschte, geschah es nur, um seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie zu beschönigen. Im obigen Paragraph wird nun zudem sein Weisheitsspruch an den Haaren herbeigezogen, ohne al- len Zusammenhang mit dem verballhornten Zitat aus dem Statut der Internationalen. Es ist also hier einfach eine Impertinenz, und zwar keineswegs Herrn Bismarck missfällige, eine jener wohlfeilen Flegeleien, worin der Berliner Marat18 macht. 18 Als Berliner Marat bezeichnet Marx hier offenbar ironisch Hasselmann, den Chefredakteur des Zentralorgans der Lassalleaner „Neuer Social-Demokrat“. [Red. der MEAS II, 1950, S. 19] [Bürgerlicher Nationalismus statt proletarischer Internationalismus] 5. „Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats, sich bewusst, dass das notwendige Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturländer gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird.“ Lassalle hatte, im Gegensatz zum „Kommunistischen Manifest“ und zu allem früheren Sozialismus, die Arbeiterbewegung vom engsten nationalen Standpunkt gefasst. Man folgt ihm darin – und dies nach dem Wirken der Internationalen! Es versteht sich ganz von selbst, dass, um überhaupt kämpfen zu können, die Arbeiter- klasse sich bei sich zu Haus organisieren muss als Klasse, und dass das Inland der un- mittelbare Schauplatz ihres Kampfs. Insofern ist ihr Klassenkampf, nicht dem Inhalt, sondern, wie das „Kommunistische Manifest“ sagt, „der Form nach“ national. Aber der „Rahmen des heutigen nationalen Staats“, z. B. des Deutschen Reichs, steht selbst wie- der ökonomisch „im Rahmen des Weltmarkts“, politisch „im Rahmen des Staatensys- tems“. Der erste beste Kaufmann weiß, dass der deutsche Handel zugleich ausländischer Handel ist, und die Größe des Herrn Bismarck besteht ja eben in seiner19 Art internationaler Politik. Und worauf reduziert die deutsche Arbeiterpartei ihren Internationalismus? Auf das Bewusstsein, dass das Ergebnis ihres Strebens „die internationale Völkerverbrüderung sein wird“ – eine dem bürgerlichen Freiheits- und Friedensbund20 entlehnte Phrase, die als Äquivalent passieren soll für die internationale Verbrüderung der Arbeiterklassen im gemeinschaftlichen Kampf gegen die herr- schenden Klassen und ihre Regierungen. Von internationalen Funktionen der deutschen Arbeiter- klasse also kein Wort! Und so soll sie ihrer eignen, mit den Bourgeois aller andern Länder bereits gegen sie verbrüderten Bourgeoisie und Herrn Bismarcks internationaler Verschwörungspolitik das Paroli bieten! In der Tat steht das internationale Bekenntnis des Programms noch unendlich tief unter dem der Freihandelspartei. Auch sie behauptet, das Ergebnis ihres Strebens sei „die internationale Völker- verbrüderung“. Sie tut aber auch etwas, um den Handel international zu machen, und begnügt sich keineswegs bei dem Bewusstsein – dass alle Völker bei sich zu Haus Handel treiben. Die internationale Tätigkeit der Arbeiterklassen hängt in keiner Art von der Existenz der „In- ternationalen Arbeiterassoziation“ ab. Diese war nur der erste Versuch, jener Tätigkeit ein Zentralorgan zu schaffen; ein Versuch, der durch den Anstoß, welchen er gab, von bleibendem Erfolg, aber in seiner ersten historischen Form nach dem Fall der Pariser Kommune nicht länger durchführbar war. Bismarcks „Norddeutsche“ war vollständig im Recht, wenn sie zur Zufriedenheit ihres Meisters verkündete, die deutsche Arbeiterpartei habe in dem neuen Programm dem Internationalismus ab- geschworen.21 19 (1891) einer [Red. der MEW 19, S. 24] Gemeint ist die Internationale Friedens- und Freiheitsliga – eine 1867 in Genf gegründete Organisation bürgerlicher Demokraten und Pazifisten. Die I. Internationale führte auf Drängen und unter der Leitung von Marx einen entschiede- nen Kampf gegen die demagogischen Losungen der Liga, die das Proletariat vom Klassenkampf ablenkten. [Red. der MEAS II, 1950, S. 20] 21 Marx meint den Leitartikel in Nr. 67 der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 20. März 1875. In dem Artikel wurde zu Punkt 5 des sozialdemokratischen Parteiprogramms Stellung genommen und bemerkt, dass die „sozialdemo- kratische Agitation in mancher Hinsicht behutsamer geworden ist“ und dass sie sich „von der Internationale lossagt“. [Red. der MEAS II, 1950, S. 20] 20 II [Verschleierung des kapitalistischen Ausbeutungssystems mit Lassalles „ehernem Lohngesetz“] „Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die deutsche Arbeiterpartei mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat – und – die sozialistische Gesellschaft; die Aufhebung des Lohnsystems mit dem ehernen Lohngesetz – und – der Aus- beutung in jeder Gestalt; die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit.“ Auf den „freien“ Staat komme ich später zurück. Also in Zukunft hat die deutsche Arbeiterpartei an Lassalles „ehernes Lohngesetz“ zu glauben! Damit es nicht verlorengeht, begeht man den Unsinn, von „Aufhebung des Lohnsystems“ (sollte heißen: System der Lohnarbeit) „mit dem ehernen Lohngesetz“ zu sprechen. Hebe ich die Lohnar- beit auf, so hebe ich natürlich auch ihre Gesetze auf, seien sie „ehern“ oder schwammig. Aber Las- salles Bekämpfung der Lohnarbeit dreht sich fast nur um dies sog. Gesetz. Um daher zu beweisen, dass die Lassallesche Sekte gesiegt hat, muss das „Lohnsystem mit dem ehernen Lohngesetz“ auf- gehoben werden und nicht ohne dasselbe. Von dem „ehernen Lohngesetz“ gehört Lassalle bekanntlich nichts als das den Goetheschen „ewi- gen, ehernen, großen Gesetzen“ entlehnte Wort „ehern“. Das Wort ehern ist eine Signatur, woran sich die Rechtgläubigen erkennen. Nehme ich aber das Gesetz mit Lassalles Stempel und daher in seinem Sinn, so muss ich es auch mit seiner Begründung nehmen. Und was ist sie? Wie Lange schon kurz nach Lassalles Tod zeigte: die (von Lange selbst gepredigte) Malthussche Bevölke- rungstheorie. Ist diese aber richtig, so kann ich wieder das Gesetz nicht aufheben, und wenn ich hundertmal die Lohnarbeit aufhebe, weil das Gesetz dann nicht nur das System der Lohnarbeit, sondern jedes gesellschaftliche System beherrscht. Grade hierauf fußend, haben seit fünfzig Jahren und länger die Ökonomisten bewiesen, dass der Sozialismus das naturbegründete Elend nicht auf- heben, sondern nur verallgemeinern, gleichzeitig über die ganze Oberfläche der Gesellschaft vertei- len könne! Aber all das ist nicht die Hauptsache. Ganz abgesehn von der falschen Lassalleschen Fassung des Gesetzes, besteht der wahrhaft empörende Rückschritt darin: Seit Lassalles Tode hat sich die wissenschaftliche Einsicht in unsrer Partei Bahn gebrochen, dass der Arbeitslohn nicht das ist, was er zu sein scheint, nämlich der Wert respektive Preis der Arbeit, sondern nur eine maskierte Form für den Wert resp. Preis der Arbeitskraft. Damit war die ganze bisherige bürgerliche Auffassung des Arbeitslohns sowie die ganze bisher ge- gen selbe gerichtete Kritik ein für allemal über den Haufen geworfen und klargestellt, dass der Lohnarbeiter nur die Erlaubnis hat, für sein eignes Leben zu arbeiten, d. h. zu leben, soweit er gewisse Zeit umsonst für den Kapitalisten (daher auch für dessen Mitzehrer am Mehrwert) arbeitet; dass das ganze kapitalistische Produktionssystem sich darum dreht, diese Gratisar- beit zu verlängern durch Ausdehnung des Arbeitstags oder durch Entwicklung der Produkti- vität,22 größere Spannung der Arbeitskraft etc.; dass also das System der Lohnarbeit ein Sys- tem der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei ist, die im selben Maß härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange. Und nachdem diese Einsicht unter unsrer Partei sich mehr und mehr Bahn gebrochen, kehrt man zu Lassalles Dogmen zurück, obgleich man nun wissen musste, dass Lassalle nicht wusste, was der Arbeitslohn war, sondern, im Gefolg der bürgerlichen Ökonomen, den Schein für das Wesen der Sache nahm. 22 (1891) eingefügt: resp. [Red. der MEW 19, S. 25] Es ist, als ob unter Sklaven, die endlich hinter das Geheimnis der Sklaverei gekommen und in Re- bellion ausgebrochen, ein in veralteten Vorstellungen befangener Sklave auf das Programm der Re- bellion schriebe: Die Sklaverei muss abgeschafft werden, weil die Beköstigung der Sklaven im Sys- tem der Sklaverei ein gewisses niedriges Maximum nicht überschreiten kann! Die bloße Tatsache, dass die Vertreter unsrer Partei fähig waren, ein so ungeheuerliches Attentat auf die in der Parteimasse verbreitete Einsicht zu begehn – beweist sie nicht allein, mit welchem frevelhaften Leichtsinn, mit welcher Gewissenlosigkeit sie bei Abfassung des Kompromisspro- gramms zu Werke gingen! Anstatt der unbestimmten Schlussphrase des Paragraphen, „die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“, war zu sagen, dass mit der Abschaffung der Klassenunter- schiede von selbst alle aus ihnen entspringende soziale und politische Ungleichheit verschwin- det. III [„Staatshilfe“ statt revolutionärer Weg] „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von Produktivge- nossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volks. Die Produktivgenossenschaf- ten sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, dass aus ihnen die sozialistische Organisa- tion der Gesamtarbeit entsteht.“ Nach dem Lassalleschen „ehernen Lohngesetz“ das Heilsmittel des Propheten! Es wird in würdiger Weise „angebahnt“! An die Stelle des existierenden Klassenkampfs tritt eine Zeitungsschrei- berphrase – „die soziale Frage“, deren „Lösung“ man „anbahnt“. Statt aus dem revolutionä- ren Umwandlungsprozesse der Gesellschaft „entsteht“ die „sozialistische Organisation der Gesamtarbeit“ aus der „Staatshilfe“, die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter, „ins Leben ruft“. Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, dass man mit Staatsanlehn ebenso gut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn! Aus einem Rest von Scham stellt man „die Staatshilfe“ – „unter die demokratische Kontrolle des arbeitenden Volks“. Erstens besteht „das arbeitende Volk“ in Deutschland zur Majorität aus Bauern und nicht aus Prole- tariern. Zweitens heißt „demokratisch“ zu deutsch „volksherrschaftlich“. Was heißt aber „die volksherr- schaftliche Kontrolle des arbeitenden Volkes“? Und nun gar bei einem Arbeitervolk, das durch die- se Forderungen, die es an den Staat stellt, sein volles Bewusstsein ausspricht, dass es weder an der Herrschaft ist, noch zur Herrschaft reif ist! Auf die Kritik des von Buchez unter Louis-Philippe im Gegensatz gegen die französischen Sozialis- ten verschriebnen und von den reaktionären Arbeitern des „Atelier“23 angenommenen Rezepts ist es überflüssig, hier einzugehn. Es liegt auch der Hauptanstoß nicht darin, dass man diese spezifische Wunderkur ins Programm geschrieben, sondern dass man überhaupt vom Standpunkt der Klassen- bewegung zu dem der Sektenbewegung zurückgeht. Dass die Arbeiter die Bedingungen der genossenschaftlichen Produktion auf sozialem und zunächst bei sich, also auf nationalem Maßstab herstellen wollen, heißt nur, dass sie an der Umwälzung der jetzigen Produktionsbedingungen arbeiten, und hat nichts gemein mit der Stiftung von Kooperativ- gesellschaften mit Staatshilfe! Was aber die jetzigen Kooperativgesellschaften betrifft, so haben sie nur Wert, soweit sie unabhängige, weder von den Regierungen noch von den Bourgeois protegierte Arbeiterschöpfungen sind. 23 „Atelier“ – eine Monatsschrift für Arbeiter, die 1840–1850 in Paris erschien und unter dem Einfluss der Ideen des katholischen Sozialismus von Buchez stand. [Red. der MEAS II, 1950, S. 23] IV [Leugnung des Klassencharakters des Staates und illusionäre Reformforderungen] Ich komme jetzt zum demokratischen Abschnitt. [Mit Phrasen vom „freien Staat“ wird sein kapitalistischer Charakter vertuscht] A. „Freiheitliche Grundlage des Staats.“ Zunächst nach II erstrebt die deutsche Arbeiterpartei „den freien Staat“. Freier Staat – was ist das? Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat „frei“ zu machen. Im Deutschen Reich ist der „Staat“ fast so „frei“ als in Russland. Die Frei- heit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus unterge- ordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die „Freiheit des Staats“ beschränken. Die deutsche Arbeiterpartei – wenigstens, wenn sie das Programm zu dem ihrigen macht – zeigt, wie ihr die sozialistischen Ideen nicht einmal hauttief sitzen, indem sie, statt die beste- hende Gesellschaft (und das gilt von jeder künftigen) als Grundlage des bestehenden Staats (oder künftigen, für künftige Gesellschaft) zu behandeln, den Staat vielmehr als ein selbstän- diges Wesen behandelt, das seine eignen „geistigen, sittlichen, freiheitlichen Grundlagen“ be- sitzt. Und nun gar der wüste Missbrauch, den das Programm mit den Worten „heutiger Staat“, „heutige Gesellschaft“ treibt, und den noch wüsteren Missverstand, den es über den Staat anrichtet, an den es seine Forderungen richtet! Die „heutige Gesellschaft“ ist die kapitalistische Gesellschaft, die in allen Kulturländern existiert, mehr oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weniger durch die besondre ge- schichtliche Entwicklung jedes Landes modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der „heutige Staat“ wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein andrer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein andrer in England als in den Vereinigten Staaten. „Der heutige Staat“ ist also eine Fiktion. Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiednen Kulturländer, trotz ihrer bunten Formverschiedenheit, alle das gemein, dass sie auf dem Boden der modernen bürgerlichen Gesellschaft stehn, nur einer mehr oder minder kapitalistisch entwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Charaktere gemein. In diesem Sinn kann man von „heutigem Staatswesen“ sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seine jetzige Wurzel, die bürgerli- che Gesellschaft, abgestorben ist. [Die Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats als Periode der revolutionären Umwandlung der kapitalistischen in die kommunistische Gesellschaft] Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswesen in einer kommunistischen Gesell- schaft untergehn24? In andern Worten, welche gesellschaftliche Funktionen bleiben dort übrig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage ist nur wissenschaftlich zu beantworten, und 24 (1891) erleiden [Red. der MEW 19, S. 28] man kommt dem Problem durch tausendfache Zusammensetzung des Worts Volk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung näher. Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politi- sche Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Dikta- tur des Proletariats. Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft. [Statt „die demokratische Republik“ zu fordern, werden legalistische Illusionen geschürt] Seine politischen Forderungen enthalten nichts außer der aller Welt bekannten demokratischen Li- tanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc. Sie sind bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind. Nur liegt der Staat, dem sie angehören, nicht innerhalb der deutschen Reichsgrenze, sondern in der Schweiz, den Vereinigten Staaten etc. Diese Sorte „Zukunftsstaat“ ist heutiger Staat, obgleich außerhalb „des Rahmens“ des Deutschen Reichs existierend. Aber man hat eins vergessen. Da die deutsche Arbeiterpartei ausdrücklich erklärt, sich innerhalb „des heutigen nationalen Staats“, also ihres Staats, des preußisch-deutschen Reichs, zu bewegen – ihre Forderungen wären ja sonst auch großenteils sinnlos, da man nur fordert, was man noch25 nicht hat –, so durfte sie die Hauptsache nicht vergessen, nämlich dass alle jene schönen Sächelchen auf der Anerkennung der sog. Volkssouveränität beruhn, dass sie daher nur in einer demokratischen Republik am Platze sind. Da man nicht den Mut hat“26 – und weislich, denn die Verhältnisse gebieten Vorsicht –, die demokratische Republik zu verlangen, wie es die französischen Arbeiterprogramme unter Louis- Philippe und unter Louis-Napoleon taten – so hätte man auch nicht zu der weder „ehrlichen“ noch würdigen Finte flüchten sollen, Dinge, die nur einer demokratischen Republik Sinn ha- ben, von einem Staat zu verlangen, der nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter und zugleich27 schon von der Bourgeoisie be- einflusster, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist, und die- sem Staat obendrein noch zu beteuern, dass man ihm dergleichen „mit gesetzlichen Mitteln“ aufdringen zu können wähnt! Selbst die vulgäre Demokratie, die in der demokratischen Republik das Tausendjährige Reich sieht und keine Ahnung davon hat, dass grade in dieser letzten Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft der Klassenkampf definitiv auszufechten ist – selbst sie steht noch berghoch über solcherart Demo- kratentum innerhalb der Grenzen des polizeilich Erlaubten und logisch Unerlaubten. Dass man in der Tat unter „Staat“ die Regierungsmaschine versteht oder den Staat, soweit er einen durch Teilung der Arbeit von der Gesellschaft besonderten, eignen Organismus bildet, zeigen schon die Worte: „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als wirtschaftliche Grundlage des Staats: eine ein- zige progressive Einkommensteuer etc.“ Die Steuern sind die wirtschaftliche Grundlage der Regie- rungsmaschinerie und von sonst nichts. In dem in der Schweiz existierenden Zukunftsstaat ist diese Forderung ziemlich erfüllt. Einkommensteuer setzt die verschiednen Einkommenquellen der ver- schiednen gesellschaftlichen Klassen voraus, also die kapitalistische Gesellschaft. Es ist also nichts Auffälliges, dass die Financial Reformers von Liverpool – Bourgeois mit Gladstones Bruder an der Spitze – dieselbe Forderung stellen wie das Programm. 25 (1891) fehlt: noch [Red. der MEW 19, S. 29] (1891) Da man nicht in der Lage ist [Red. der MEW 19, S. 29] 27 (1891) fehlt: und zugleich [Red. der MEW 19, S. 29] 26 [Die demokratischen Programmforderungen sind reformistisch und vom „Untertanenglauben ... an den Staat verpestet“] B. „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: 1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlichen Unterricht.“ Gleiche Volkserziehung? Was bildet man sich unter diesen Worten ein? Glaubt man, dass in der heutigen Gesellschaft (und man hat nur mit der zu tun) die Erziehung für alle Klassen gleich sein kann? Oder verlangt man, dass auch die höheren Klassen zwangsweise auf das Modikum Erziehung – der Volksschule – reduziert werden sollen, das allein mit den ökonomischen Verhältnissen nicht nur der Lohnarbeiter, sondern auch der Bauern verträglich ist? „Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlicher Unterricht.“ Die erste existiert selbst in Deutschland, das zweite in der Schweiz und den Vereinigten Staaten für Volksschulen. Wenn in einigen Staaten der letzteren auch „höhere“ Unterrichtsanstalten „unentgeltlich“ sind, so heißt das faktisch nur, den hö- heren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel bestreiten. Nebenbei gilt dasselbe von der unter A. 5 verlangten „unentgeltlichen Rechtspflege“. Die Kriminaljustiz ist über- all unentgeltlich zu haben; die Ziviljustiz dreht sich fast nur um Eigentumskonflikte, berührt also fast nur die besitzenden Klassen. Sollen sie auf Kosten des Volkssäckels ihre Prozesse führen? Der Paragraph über die Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische) in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen. Ganz verwerflich ist eine „Volkserziehung durch den Staat“. Durch ein allgemeines Gesetz die Mittel der Volksschulen bestimmen, die Qualifizierung des Lehrerpersonals, die Unterrichtszweige etc., und, wie es in den Vereinigten Staaten geschieht, durch Staatsinspektoren die Erfüllung dieser gesetzlichen Vorschriften überwachen, ist etwas ganz andres, als den Staat zum Volkserzieher zu ernennen! Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluss auf die Schule auszuschließen. Im preußisch-deutschen Reich nun gar (und man helfe sich nicht mit der faulen Ausflucht, dass man von einem „Zukunftsstaat“ spricht; wir haben gesehn, welche Bewandtnis es damit hat) bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauen Erziehung durch das Volk. Doch das ganze Programm, trotz alles demokratischen Geklingels, ist durch und durch vom Untertanenglauben der Lassalleschen Sekte an den Staat verpestet oder, was nicht besser, vom demokratischen Wunderglauben, oder vielmehr ist es ein Kompromiss zwischen diesen zwei Sorten, dem Sozialismus gleich fernen, Wunderglauben. „Freiheit der Wissenschaft“ lautet ein Paragraph der preußischen Verfassung, Warum also hier? „Gewissensfreiheit“! Wollte man zu dieser Zeit des Kulturkampfes dem Liberalismus seine alten Stichworte zu Gemüt führen, so konnte es doch nur in dieser Form geschehen: Jeder muss seine religiöse wie seine leibliche Notdurft28 verrichten können, ohne dass die Polizei ihre Nase hin- einsteckt. Aber die Arbeiterpartei musste doch bei dieser Gelegenheit ihr Bewusstsein dar- über aussprechen, dass die bürgerliche „Gewissensfreiheit“ nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit, und dass sie vielmehr die Gewissen vom religiö- sen Spuk zu befreien strebt. Man beliebt aber das „bürgerliche“ Niveau nicht zu überschreiten. [Der Anhang des Programms: allgemeine Phrasen] Ich bin jetzt zu Ende gelangt, denn der nun im Programm folgende Anhang bildet keinen charakte- ristischen Bestandteil desselben, ich habe mich daher hier ganz kurz zu fassen. „2. Normalarbeitstag.“ Die Arbeiterpartei keines andern Landes hat sich auf solch unbestimmte Forderung beschränkt, sondern stets die Länge des Arbeitstags fixiert, die sie unter den gegebnen Umständen für normal hält. 28 (1891) seine religiösen ... Bedürfnisse [Red. der MEW 19, S. 31] „3. Beschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit.“ Die Normierung des Arbeitstags muss die Beschränkung der Frauenarbeit schon einschließen, so- weit sie sich auf Dauer, Pausen etc. des Arbeitstags bezieht; sonst kann sie nur Ausschluss der Frauenarbeit aus Arbeitszweigen bedeuten, die speziell gesundheitswidrig für den weiblichen Kör- per oder die für das weibliche Geschlecht sittenwidrig sind. Meinte man das, so musste es gesagt werden. „Verbot der Kinderarbeit“! Hier war absolut nötig, die Altersgrenze anzugeben. Allgemeines Verbot der Kinderarbeit ist unverträglich mit der Existenz der großen Industrie und da- her leerer frommer Wunsch. Durchführung desselben – wenn möglich – wäre reaktionär, da, bei strenger Reglung der Arbeits- zeit nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutz der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmit- tel der heutigen Gesellschaft ist. „4. Staatliche Überwachung der Fabrik-, Werkstatt- und Hausindustrie.“ Gegenüber dem preußisch-deutschen Staat war bestimmt zu verlangen, dass die Inspektoren nur ge- richtlich absetzbar sind; dass jeder Arbeiter sie wegen Pflichtverletzung den Gerichten denunzieren kann; dass sie dem ärztlichen Stand angehören müssen. „5. Regelung der Gefängnisarbeit.“ Kleinliche Forderung in einem allgemeinen Arbeiterprogramm, jedenfalls musste man klar ausspre- chen, dass man aus Konkurrenzneid die gemeinen Verbrecher nicht wie Vieh behandelt wissen und ihnen namentlich ihr einziges Besserungsmittel, produktive Arbeit, nicht abschneiden will. Das war doch das Geringste, was man von Sozialisten erwarten durfte. „6. Ein wirksames Haftgesetz.“ Es war zu sagen, was man unter „wirksamem“ Haftgesetz versteht. Nebenbei bemerkt, hat man beim Normalarbeitstag den Teil der Fabrikgesetzgebung übersehn, der Gesundheitsmaßregeln und Schutzmittel gegen Gefahr etc. betrifft. Das Haftgesetz tritt erst in Wir- kung, sobald diese Vorschriften verletzt werden. Kurz, auch dieser Anhang zeichnet sich durch schlottrige Redaktion aus. Dixi et salvavi animam meam.29 29 Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet. [Red. der MEW 19, S. 32] Friedrich Engels Brief an Bebel [1875] London, 18./28. März 1875 Lieber Bebel! Ich habe Ihren Brief vom 23. Februar erhalten und freue mich, dass es Ihnen körperlich so gut geht. Sie fragen mich, was wir von der Einigungsgeschichte halten? Leider ist es uns ganz gegangen wie Ihnen. Weder Lieb- knecht noch sonst jemand hat uns irgendwelche Mitteilung gemacht, und auch wir wissen daher nur, was in den Blät- tern steht, und da stand nichts, bis vor zirka acht Tagen der Programmentwurf kam. Der hat uns allerdings nicht wenig in Erstaunen gesetzt. Unsere Partei hatte so oft den Lassalleanern die Hand zur Versöhnung oder doch wenigstens zum Kartell geboten und war von den Hasenclever, Hasselmann und Tölckes so oft und so schnöde zurückgewiesen worden, dass daraus jedes Kind den Schluss ziehen musste: Wenn diese Herren jetzt selbst kommen und Versöhnung bieten, so müssen sie in ei- ner verdammten Klemme sein. Bei dem wohlbekannten Charakter dieser Leute ist es aber unsere Schuldigkeit, diese Klemme zu benutzen, um uns alle und jede mögliche Garantien auszubedingen, damit nicht jene Leute auf Kosten unse- rer Partei in der öffentlichen Arbeitermeinung ihre erschütterte Stellung wieder befestigen. Man musste sie äußerst kühl und misstrauisch empfangen, die Vereinigung abhängig machen von dem Grade ihrer Bereitwilligkeit, ihre Sektenstichworte und ihre Staatshilfe fallen zu lassen und im wesentlichen das Eisenacher Programm von 1869 oder eine für den heutigen Zeitpunkt angemesse- ne verbesserte Ausgabe desselben anzunehmen. Unsere Partei hätte von den Lassalleanern in theoretischer Beziehung, also in dem, was fürs Programm entscheidend ist, absolut nichts zu lernen, die Lassalleaner aber wohl von ihr; die erste Bedingung der Vereinigung war, dass sie aufhörten, Sektierer, Lassalleaner zu sein, dass sie also vor allem das Allerweltsheilmittel der Staatshilfe wo nicht ganz aufgaben, doch als eine untergeordnete Übergangsmaßregel unter und ne- ben vielen möglichen anderen anerkannten. Der Programmentwurf beweist, dass unsere Leute theo- retisch den Lassalleanerführern hundertmal überlegen – ihnen an politischer Schlauheit ebenso we- nig gewachsen sind; die „Ehrlichen“ sind einmal wieder von den Nichtehrlichen grausam über den Löffel barbiert. Zuerst nimmt man die großtönende, aber historisch falsche Lassallesche Phrase an: gegen- über der Arbeiterklasse seien alle anderen Klassen nur eine reaktionäre Masse. Dieser Satz ist nur in einzelnen Ausnahmefällen wahr, zum Beispiel in einer Revolution des Proletariats, wie die Kommune, oder in einem Land, wo nicht nur die Bourgeoisie Staat und Gesellschaft nach ihrem Bilde gestaltet hat, sondern auch schon nach ihr das demokratische Kleinbürgertum diese Umbil- dung bis auf ihre letzten Konsequenzen durchgeführt hat. Wenn zum Beispiel in Deutschland das demokratische Kleinbürgertum zu dieser reaktionären Masse gehörte, wie konnte da die Sozialde- mokratische Arbeiterpartei jahrelang mit ihm, mit der Volkspartei Hand in Hand gehen? Wie kann der „Volksstaat“ fast seinen ganzen politischen Inhalt aus der kleinbürgerlich-demokratischen „Frankfurter Zeitung“ nehmen? Und wie kann man nicht weniger als sieben Forderungen in dies selbe Programm aufnehmen, die direkt und wörtlich übereinstimmen mit dem Programm der Volkspartei und kleinbürgerlichen Demokratie? Ich meine die sieben politischen Forderungen 1 bis 5 und 1 bis 2, von denen keine einzige, die nicht bürgerlich-demokratisch.30 30 Diese politischen Forderungen des Gothaer Programmentwurfs lauteten: „Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als freiheitliche Grundlage des Staats: 1. Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht aller Männer vom 21. Lebensjahre an für alle Wahlen in Staat und Gemeinde; 2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk mit Vorschlags- und Verwerfungsrecht; 3. Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung; 4. Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Press-, Vereins- und Versammlungsgesetze; Zweitens wird das Prinzip der Internationalität der Arbeiterbewegung praktisch für die Ge- genwart vollständig verleugnet, und das von den Leuten, die fünf Jahre lang und unter den schwierigsten Umständen dies Prinzip auf die ruhmvollste Weise hochgehalten. Die Stellung der deutschen Arbeiter an der Spitze der europäischen Bewegung beruht wesentlich auf ihrer echt inter- nationalen Haltung während des Kriegs; kein anderes Proletariat hätte sich so gut benommen. Und jetzt soll dies Prinzip von ihnen verleugnet werden im Moment, wo überall im Ausland die Arbeiter es in demselben Maß betonen, in dem die Regierungen jeden Versuch seiner Betätigung in einer Organisation zu unterdrücken streben! Und was bleibt allein vom Internationalismus der Arbeiter- bewegung übrig? Die blasse Aussicht – nicht einmal auf ein späteres Zusammenwirken der europäi- schen Arbeiter zu ihrer Befreiung – nein, auf eine künftige „internationale Völkerverbrüderung“ – auf die „Vereinigten Staaten von Europa“ der Bourgeois von der Friedensliga! Es war natürlich gar nicht nötig, von der Internationale als solche zu sprechen. Aber das mindeste war doch, keinen Rückschritt gegen das Programm von 1869 zu tun und etwa zu sagen: obgleich die deutsche Arbeiterpartei zunächst innerhalb der ihr gesetzten Staatsgrenzen wirkt (sie hat kein Recht, im Namen des europäischen Proletariats zu sprechen, besonders nicht, etwas Falsches zu sa- gen), so ist sie sich ihrer Solidarität bewusst mit den Arbeitern aller Länder und wird stets bereit sein, wie bisher auch fernerhin die ihr durch diese Solidarität aufgelegten Verpflichtungen zu erfül- len. Derartige Verpflichtungen bestehen, auch ohne dass man gerade sich als Teil der „Internationa- le“ proklamiert oder ansieht, zum Beispiel Hilfe, Abhalten von Zuzug bei Streiks, Sorge dafür, dass die Parteiorgane die deutschen Arbeiter von der ausländischen Bewegung unterrichtet halten, Agita- tion gegen drohende oder ausbrechende Kabinettskriege, Verhalten während solcher, wie 1870 und 1871 mustergültig durchgeführt, usw. Drittens haben sich unsere Leute das Lassallesche „eherne Lohngesetz“ aufoktroyieren las- sen, das auf einer ganz veralteten ökonomischen Ansicht beruht, nämlich dass der Arbeiter im Durchschnitt nur das Minimum des Arbeitslohnes erhält, und zwar deshalb, weil nach Malthusscher Bevölkerungstheorie immer zuviel Arbeiter da sind (dies war Lassalles Beweisführung). Nun hat Marx im „Kapital“ ausführlich nachgewiesen, dass die Gesetze, die den Arbeitslohn regulieren, sehr kompliziert sind, dass je nach den Verhältnissen bald dieses, bald jenes vorwiegt, dass sie also kei- neswegs ehern, sondern im Gegenteil sehr elastisch sind und dass die Sache gar nicht so mit ein paar Worten abzumachen ist, wie Lassalle sich einbildete. Die Malthussche Begründung des von Lassalle ihm und Ricardo (unter Verfälschung des letzteren) abgeschriebenen Gesetzes, wie sie sich zum Beispiel „Arbeiterlesebuch“, Seite 5, aus einer anderen Broschüre Lassalles zitiert findet, ist von Marx in dem Abschnitt über „Akkumulationsprozess des Kapitals“ ausführlich widerlegt. Man bekennt sich also durch Adoptierung des Lassalleschen „ehernen Gesetzes“ zu einem falschen Satz und einer falschen Begründung desselben. Viertens stellt das Programm als einzige soziale Forderung auf – die Lassallesche Staatshilfe in ihrer nacktesten Gestalt, wie Lassalle sie von Buchez gestohlen hatte. Und das, nachdem Bracke diese Forderung sehr gut in ihrer ganzen Nichtigkeit aufgewiesen;31 nachdem fast alle, wo nicht alle Redner unserer Partei im Kampf mit den Lassalleanern genötigt gewesen sind, gegen diese „Staats- hilfe“ aufzutreten! Tiefer konnte unsere Partei sich nicht demütigen. Der Internationalismus herun- tergekommen auf Amand Goegg, der Sozialismus auf den Bourgeoisrepublikaner Buchez, der diese Forderung gegenüber den Sozialisten stellte, um sie auszustechen! Im besten Fall aber ist die „Staatshilfe“ im Lassalleschen Sinne doch nur eine einzige Maßregel un- ter vielen anderen, um das Ziel zu erreichen, was hier mit den lahmen Worten bezeichnet wird: „um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen“, als ob es für uns noch eine theoretisch ungelöste sozia- 5. Rechtsprechung durch das Volk. Unentgeltliche Rechtspflege. Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: 1. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltlichen Unterricht. 2. Freiheit der Wissenschaft. Gewissensfreiheit.“ [Red. der MEAS II, 1950, S. 31] 31 Engels meint die 1873 von W. Bracke herausgegebene Broschüre „Der Lassallesche Vorschlag“. [Red. der MEAS II, 1950, S. 33] le Frage gäbe! Wenn man also sagt: Die deutsche Arbeiterpartei erstrebt die Abschaffung der Lohnarbeit und damit der Klassenunterschiede vermittelst der Durchführung der genossenschaftli- chen Produktion in Industrie und Ackerbau und auf nationalem Maßstab; sie tritt ein für jede Maß- regel, welche geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen! – so kann kein Lassalleaner etwas dagegen ha- ben. Fünftens ist von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittels der Gewerksgenos- senschaften gar keine Rede. Und das ist ein sehr wesentlicher Punkt, denn dies ist die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht, in der es sich schult und die heutzutage bei der schlimmsten Reaktion (wie jetzt in Paris) platter- dings nicht mehr kaputtzumachen ist. Bei der Wichtigkeit, die diese Organisation auch in Deutsch- land erreicht, wäre es unserer Ansicht nach unbedingt notwendig, ihrer im Programm zu gedenken und ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offen zu lassen. Das alles haben unsere Leute den Lassalleanern zu Gefallen getan. Und was haben die anderen nachgegeben? Dass ein Haufen ziemlich verworrener rein demokratischer Forderungen im Pro- gramm figurieren, von denen manche reine Modesache sind, wie zum Beispiel die „Gesetzgebung durch das Volk“, die in der Schweiz besteht und mehr Schaden als Nutzen anrichtet, wenn sie über- haupt was anrichtet. Verwaltung durch das Volk, das wäre noch etwas. Ebenso fehlt die erste Be- dingung aller Freiheit: dass alle Beamte für alle ihre Amtshandlungen jedem Bürger gegenüber vor den gewöhnlichen Gerichten und nach gemeinem Recht verantwortlich sind. Davon, dass solche Forderungen wie: Freiheit der Wissenschaft – Gewissensfreiheit in jedem liberalen Bourgeoispro- gramm figurieren und sich hier etwas befremdend ausnehmen, davon will ich weiter nicht sprechen. Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt. Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit des- potischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der Volksstaat ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruss in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx’ gegen Proudhon32 und nachher das „Kommunistische Manifest“ direkt sagen, dass mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzu- halten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: solange das Proletari- at den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat „Ge- meinwesen“ zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, das das französische „Kommune“ sehr gut vertreten kann.33 „Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit“ ist auch eine sehr bedenkliche Phra- se statt: „Aufhebung aller Klassenunterschiede“. Von Land zu Land, von Provinz zu Provinz, von Ort zu Ort sogar wird immer eine gewisse Ungleichheit der Lebensbedingungen bestehen, die man auf ein Minimum reduzieren, aber nie ganz beseitigen können wird. Alpenbewohner werden immer andere Lebensbedingungen haben als Leute des flachen Landes. Die Vorstellung der sozia- listischen Gesellschaft als des Reiches der Gleichheit ist eine einseitige französische Vorstellung, anlehnend an das alte „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, eine Vorstellung, die als Entwicklungs- stufe ihrer Zeit und ihres Ortes berechtigt war, die aber, wie alle die Einseitigkeiten der früheren so- zialistischen Schulen, jetzt überwunden sein sollten, da sie nur Verwirrung in den Köpfen anrichten und präzisere Darstellungsweisen der Sache gefunden sind. 32 [Gemeint ist Karl Marx, „Das Elend der Philosophie“, 1947, in: MEW 4, S. 63–182 (Red. „Marx wirklich studie- ren“)] 33 [Diese Passage wurde von Lenin in seiner Schrift „Staat und Revolution“, 1917, zitiert (siehe: LW 25, S. 453) (Red. „Marx wirklich studieren“)] Ich höre auf, obwohl fast jedes Wort in diesem dabei saft- und kraftlos redigierten Programm zu kritisieren wäre. Es ist derart, dass, falls es angenommen wird, Marx und ich uns nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei be- kennen können und uns sehr ernstlich werden überlegen müssen, welche Stellung wir – auch öffentlich – ihr gegenüber zu nehmen haben. Bedenken Sie, dass man uns im Auslande für alle und jede Äußerungen und Handlungen der deut- schen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei verantwortlich macht. So Bakunin in seiner Schrift „Politik und Anarchie“, wo wir einstehen müssen für jedes unüberlegte Wort, das Liebknecht seit Stiftung des „Demokratischen Wochenblat- tes“34 gesagt und geschrieben. Die Leute bilden sich eben ein, wir kommandierten von hier aus die ganze Geschichte, während Sie so gut wie ich wissen, dass wir uns fast nie im geringsten in die inneren Parteiangelegenheiten gemischt, und auch dann nur, um Böcke, die nach unserer Ansicht geschossen worden, und zwar nur theoretische, wieder nach Möglichkeit gutzumachen. Sie werden aber selbst einsehen, dass dies Programm einen Wendepunkt bildet, der uns sehr leicht zwingen könnte, alle und jede Verantwortlichkeit mit der Partei, die es anerkennt, abzulehnen. Im allgemeinen kommt es weniger auf das offizielle Programm einer Partei an, als auf das, was sie tut. Aber ein neues Programm ist doch immer eine öffentlich aufgepflanzte Fahne, und die Außenwelt beurteilt danach die Partei. Es sollte daher keinenfalls einen Rückschritt enthalten, wie dies gegenüber dem Eisenacher. Man sollte doch auch bedenken, was die Arbeiter anderer Länder zu diesem Programm sagen werden; welchen Eindruck diese Kniebeugung des gesamten deutschen sozialistischen Proletariats vor dem Lassalleanismus machen wird. Dabei bin ich überzeugt, dass eine Einigung auf dieser Basis kein Jahr dauern wird. Die besten Köpfe unserer Partei sollten sich dazu hergeben, auswendig gelernte Lassallesche Sätze vom ehernen Lohngesetz und der Staatshilfe abzulei- ern? Ich möchte zum Beispiel Sie dabei sehen! Und täten sie es, ihre Zuhörer würden sie auszischen. Und ich bin sicher, die Lassalleaner bestehen gerade auf diesen Stücken des Programms wie der Jude Shylock auf seinem Pfund Fleisch. Die Trennung wird kommen; aber wir werden Hasselmann, Hasenclever und Tölcke und Konsorten wieder „ehrlich gemacht“ haben; wir werden schwächer und die Lassalleaner stärker aus der Trennung hervorgehen; unsere Partei wird ihre politische Jungferschaft verloren haben und wird nie wieder gegen Lassalle-Phrasen, die sie eine Zeitlang selbst auf die Fahne geschrieben, herzhaft auftreten können; und wenn die Lassalleaner dann wieder sagen: sie seien die eigent- lichste und einzige Arbeiterpartei, unsere Leute seien Bourgeois, so ist das Programm da, um es zu beweisen. Alle sozi- alistischen Maßregeln darin sind ihre, und unsere Partei hat nichts hineingesetzt als Forderungen der kleinbürgerlichen Demokratie, die doch auch von ihr in demselben Programm als Teil der „reaktionären Masse“ bezeichnet ist! Ich hatte diesen Brief liegenlassen, da Sie doch erst am 1. April zu Ehren von Bismarcks Geburtstag freikommen und ich ihn nicht der Chance des Abfassens bei einem Schmuggelversuch aussetzen wollte. Da kommt nun gerade ein Brief von Bracke, der auch wegen des Programms seine schweren Bedenken hat und unsere Meinung wissen will. Ich schicke ihn daher zur Beförderung an ihn, damit er ihn lese und ich den ganzen Kram nicht noch einmal zu schreiben brauche. Übrigens habe ich Ramm35 ebenfalls klaren Wein eingeschenkt, an Liebknecht schrieb ich nur kurz. Ich verzeihe ihm nicht, dass er uns von der ganzen Sache kein Wort mitgeteilt (während Ramm und andere glaubten, er habe uns genau unterrichtet), bis es sozusagen zu spät war. Das hat er zwar von jeher so gemacht – und daher die viele unangenehme Korrespondenz, die wir, Marx sowohl wie ich, mit ihm hatten –, aber diesmal ist es doch zu arg, und wir gehen ent- schieden nicht mit. Sehen Sie, dass Sie es einrichten, im Sommer herzukommen, Sie wohnen natürlich bei mir, und wenn das Wetter gut, können wir ein paar Tage seebaden gehen, das wird Ihnen nach dem langen Brummen recht nützlich sein. Freundlichst Ihr F. E. Marx ist eben ausgezogen, er wohnt 41, Maitland Park Crescent, N. W. London. 34 Das „Demokratische Wochenblatt“ erschien 1868/69 unter der Redaktion von Wilhelm Liebknecht in Leipzig. [Red. 34 Das „Demokratische Wochenblatt“ erschien 1868/69 unter der Redaktion von Wilhelm Liebknecht in Leipzig. [Red. der MEAS II, 1950, S. 35] 35 Hermann Ramm – einer der Redakteure des „Volksstaat“. [Red. der MEAS II, 1950, S. 36] Friedrich Engels Brief an Kautsky [1891] London, 23. Febr. 91 Lieber Kautsky, Meine eilige Gratulation von vorgestern wirst Du erhalten haben. Also jetzt wieder zum besagten Hammel, dem Marxbrief.36 Die Furcht, er werde den Gegnern eine Waffe in die Hand geben, war unbegründet. Boshafte Insinuationen werden ja an alles und jedes gehängt, aber im Ganzen und Großen war der Eindruck bei den Gegnern doch die vollständige Verdutztheit über diese rück- sichtslose Selbstkritik und das Gefühl: welch innere Kraft muss eine Partei besitzen, die sich selbst so etwas bieten kann! Das geht aus den von Dir gesandten (besten Dank!) und mir sonst zugänglich gewordnen Gegner- blättern hervor. Und, offen gesagt, das war auch der Sinn, worin ich das Aktenstück veröffentlichte. Dass es hie und da im ersten Moment sehr unangenehm berühren musste, das wusste ich, das war aber nicht zu vermeiden, und der sachliche Inhalt wog das in meinen Augen reichlich auf. Und ich wusste, dass die Partei reichlich stark genug war, das zu ertragen, und ich rechnete darauf, dass sie heute diese, vor 15 Jahren gebrauchte, unverhohlene Sprache auch vertragen würde; dass man mit gerechtem Stolz auf diese Kraftprobe hinweisen und sagen würde: wo ist die andre Partei, die Glei- ches wagen darf? Das hat man indes der sächsischen und Wiener „Arbeiter37-Ztg.“ und der „Züri- cher Post“38 überlassen. Wenn Du in Nr.21 der „Neuen Zeit“ die Verantwortlichkeit der Veröffentlichung übernimmst, so ist das sehr brav von Dir, aber vergiß nicht, dass ich doch den ersten Anstoß gab und obendrein Dich gewissermaßen in eine Zwangslage versetzte. Ich beanspruche deshalb die Hauptverantwortlichkeit für mich. Was Einzelheiten angeht, so kann man ja über solche immer verschiedner Ansicht sein. Ich habe alles gestrichen und geändert, was Du und Dietz beanstandet, und hätte Dietz noch mehr angestrichen, so wäre ich auch da nach Möglichkeit coulant gewesen, das habe ich Euch stets be- wiesen. Aber was die Hauptsache angeht, so war es meine Pflicht, das Ding zu veröffentlichen, sobald einmal das Programm zur Debatte stand. Und nun gar nach Liebknechts Haller Referat, worin er seine Auszüge daraus teils ungeniert als sein Eigentum verwertet, teils dagegen ankämpft, ohne es zu nennen, hätte Marx dieser Verarbeitung unbedingt das Original entgegengestellt, und ich war an seiner Stelle verpflichtet, dasselbe zu tun. Leider hatte ich damals das Aktenstück noch nicht, ich habe es erst viel später nach langem Suchen gefunden. Du sagst, Bebel schreibe Dir, die Behandlung Lassalles durch Marx habe bei den alten Lassallea- nern böses Blut gesetzt. Das mag sein. Die Leute kennen ja die wirkliche Geschichte nicht, und es scheint auch nichts geschehn zu sein, sie darüber aufzuklären. Wenn jene Leute nicht wissen, dass die ganze Größe Lassalles darauf beruhte, dass Marx ihm erlaubte, jahrelang sich mit Marx’ For- schungsresultaten als mit seinen eignen zu schmücken und sie obendrein aus mangelhafter ökono- mischer Vorbildung zu verdrehn, so ist das nicht meine Schuld. Aber ich bin literarischer Testa- mentsvollstrecker von Marx und habe als solcher auch meine Pflichten. Lassalle gehört seit 26 Jahren der Geschichte an. Wenn man unter dem Ausnahmegesetz die histori- sche Kritik über ihn hat ruhen lassen, so wird es endlich Zeit, dass sie zu ihrem Rechte kommt und 36 Gemeint ist die „Kritik des Gothaer Programms“, die auf Drängen Engels’ in der „Neuen Zeit“, dem von K. Kautsky redigierten theoretischen Organ der deutschen Sozialdemokratie, veröffentlicht wurde. [Red. der MEAS II, 1950, S. 37] 37 [Alle Abkürzungen im Brief wurden ausgeschrieben. (Red. „Marx wirklich studieren“)] 38 Von diesen Zeitungen waren die beiden ersten sozialdemokratische, die letzte eine bürgerliche. [Red. der MEAS II, 1950, S. 37] über die Stellung Lassalles zu Marx Klarheit geschaffen wird. Die Legende, die die wahre Gestalt Lassalles verhüllt und verhimmelt, kann doch kein Glaubensartikel der Partei werden. Mag man die Verdienste Lassalles um die Bewegung noch so hoch anschlagen, seine his- torische Rolle darin bleibt eine zwieschlächtige. Den Sozialisten Lassalle begleitet der Demagog Lassalle auf Schritt und Tritt. Durch den Agitator und Organisator Lassalle scheint der Leiter des Hatzfeldtschen Prozesses39 überall durch: derselbe Zynismus in der Wahl der Mittel, dieselbe Vorliebe, sich mit anrüchigen und korrumpierten Leuten zu umgeben, die man als bloße Werkzeuge gebrauchen resp. wegwerfen kann. Bis 1862 in der Praxis spezifisch preußischer Vulgärdemokrat mit stark bonapartistischen Neigungen (ich habe eben seine Briefe an Marx durchgesehn), schlug er plötzlich um aus rein per- sönlichen Ursachen und begann seine Agitation; und ehe 2 Jahre vorbei, verlangte er, die Arbeiter sollten die Partei des Königtums gegen die Bourgeoisie ergreifen, und mogelte mit seinem Charak- terverwandten Bismarck in einer Weise, die zum tatsächlichen Verrat an der Bewegung führen musste, wäre er nicht zu seinem eigenen Glück rechtzeitig erschossen worden. In seinen Agitations- schriften ist das Richtige, das er von Marx entlehnt, so sehr mit Lassalleschen eignen und regelmä- ßig falschen Ausführungen verwebt, dass beides fast nicht zu trennen ist. Der Teil der Arbeiter, der sich durch Marx’ Urteil verletzt fühlt, kennt von Lassalle eben nur die 2 Jahre Agitation und auch diese nur durch eine gefärbte Brille. Aber vor solchen Vorurteilen kann die historische Kritik nicht ewig stehnbleiben, den Hut in der Hand. Mir war es Pflicht, endlich einmal reinen Tisch zu schaffen zwischen Marx und Lassalle. Das ist geschehn. Damit kann ich mich vorderhand begnügen. Ich selbst habe zudem jetzt andres zu tun. Und das veröffentlichte rücksichtslose Urteil Marx’ über Lassalle wird schon allein seine Wirkung tun und andren Mut machen. Aber würde ich dazu ge- zwungen, so bliebe mir keine Wahl: ich müsste mit der Lassalle-Legende ein für allemal aufräu- men. Dass in der Fraktion Stimmen laut geworden, man solle die ,,Neue Zeit“ unter Zensur stellen, ist ja sehr schön. Spukt die sozialistengesetzliche Fraktionsdiktatur40 (die ja notwendig war und vortreff- lich geführt wurde) noch nach, oder sind es Erinnerungen an die weiland stramme Organisation v. Schweitzers? Es ist in der Tat ein brillanter Gedanke, die deutsche sozialistische Wissenschaft nach ihrer Befreiung vom Bismarckschen Sozialistengesetz unter ein neues, von den sozialdemokrati- schen Parteibehörden selbst zu fabrizierendes und auszuführendes Sozialistengesetz zu stellen. Im übrigen ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Der „Vorwärts“-Artikel rührt mich wenig.41 Ich werde Liebknechts Geschichtserzählung abwarten und dann wohl in möglichst freundschaftlichem Ton auf beide antworten. Im „Vorwärts“-Artikel sind nur einige Unrichtigkeiten zu korrigieren (z. B. wir hätten die Einigung nicht gewollt, die Er- eignisse hätten Marx unrecht gegeben usw.) und Selbstverständliches zu bestätigen. Mit dieser Antwort denke ich dann die Debatte meinerseits zu schließen, falls ich nicht durch neue Angriffe oder unrichtige Behauptungen zu Weiterem genötigt werde. Sage Dietz, ich sei an der Bearbeitung des „Ursprung“.42 Aber nun schreibt heute Fischer und will auch 3 neue Vorre- den haben! Dein F. E. 39 Gemeint ist der Ehescheidungsprozess der Gräfin Hatzfeldt, den Lassalle als Anwalt in den Jahren 1845–1854 geführt hatte. [Red. der MEAS II, 1950, S. 38] 40 Hier ist die sozialdemokratische Fraktion des Deutschen Reichstags gemeint. [Red. der MEAS II, 1950, S. 39] 41 Der „Vorwärts“, das Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie, gab am 13. Februar 1891 in einem redaktionellen Artikel die offizielle Stellungnahme des Parteivorstands zur „Kritik des Gothaer Programms“ bekannt. In diesem Arti- kel wurde die Marxsche Einschätzung Lassalles aufs schärfste verurteilt und der Partei als Verdienst angerechnet, dass sie trotz der Marxschen Kritik den Programmentwurf angenommen hatte. [Red. der MEAS II, 1950, S. 39] 42 Engels meint die Vorbereitung der 4. Auflage seines Werks „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“. [Red. der MEAS II, 1950, S. 40] Anhang 1: Entwurf des Gothaer Programms Entwurf des „Programms der deutschen Arbeiterpartei“, veröffentlicht in „Der Volksstaat“, Nr. 27 vom 7. März 1875, dem Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei („Eisenacher“). Dieser Programmentwurf, der gleichzeitig in „Neu- er Social-Demokrat“, dem Organ der „Lassalleaner“ veröffentlicht wurde, bildete die Grundlage für die Kritik von Marx und Engels. Programm der deutschen Arbeiterpartei I. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da nutzbringende Arbeit nur in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft möglich ist, gehört der Ertrag der Arbeit unverkürzt, nach gleichem Rechte, allen Gesellschaftsgliedern. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die Erhebung der Arbeitsmittel zu Gemeingut der Gesellschaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gerechter Verteilung des Arbeitsertra- ges. Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klas- sen nur eine reaktionäre Masse sind. Die Arbeiterklasse wirkt für ihre Befreiung zunächst im Rahmen des heutigen nationalen Staats, sich bewusst, dass das notwendige Ergebnis ihres Strebens, welches den Arbeitern aller Kulturlän- der gemeinsam ist, die internationale Völkerverbrüderung sein wird. II. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die deutsche Arbeiterpartei mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft: die Aufhebung des Lohnsystems mit dem ehernen Lohngesetze, und der Ausbeutung in jeder Gestalt; die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. III. Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errich- tung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbei- tenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfan- ge ins Leben zu rufen, dass aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht. IV. Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, als freiheitliche Grundlage des Staats: 1) allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht aller Männer vom 21. Lebensjahre an für alle Wahlen in Staat und Gemeinde. 2) direkte Gesetzgebung durch das Volk mit Vorschlags- und Verwerfungsrecht; 3) Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung; 4) Abschaffung aller Ausnahmegesetze, namentlich der Press-, Vereins- und Versammlungsge- setze; 5) Rechtsprechung durch das Volk. Unentgeltliche Rechtspflege. Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: 1) Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unent- geltlichen Unterricht. 2) Freiheit der Wissenschaft. Gewissensfreiheit. Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als wirtschaftliche Grundlage des Staats: Eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat und Gemeinde, an Stelle aller bestehenden, insbesondere der indirekten Steuern. Die deutsche Arbeiterpartei verlangt zum Schutze der Arbeiterklasse gegen die Kapitalmacht inner- halb der heutigen Gesellschaft: 1) Koalitionsfreiheit 2) Normalarbeitstag und Verbot der Sonntagsarbeit. 3) Beschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit. 4) Staatliche Überwachung der Fabrik-, Werkstatt- und Haus-Industrie. 5) Regelung der Gefängnisarbeit. 6) Ein wirksames Haftpflichtgesetz. Anhang 2: Gothaer Programm (beschlossen auf dem Gothaer Parteitag, Mai 1875) Das Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands I. Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur, und da allgemein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich ist, so gehört der Gesellschaft, das heißt allen ihren Gliedern, das gesamte Arbeitsprodukt, bei allgemeiner Arbeitspflicht, nach gleichem Recht, jedem nach sei- nen vernunftgemäßen Bedürfnissen. In der heutigen Gesellschaft sind die Arbeitsmittel Monopol der Kapitalistenklasse; die hierdurch bedingte Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen. Die Befreiung der Arbeit erfordert die Verwandlung der Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesell- schaft und die genossenschaftliche Regelung der Gesamtarbeit mit gemeinnütziger Verwendung und gerechter Verteilung des Arbeitsertrages. Die Befreiung der Arbeit muss das Werk der Arbeiterklasse sein, der gegenüber alle anderen Klas- sen nur eine reaktionäre Masse sind. II. Von diesen Grundsätzen ausgehend, erstrebt die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft, die Zerbrechung des ehernen Lohngesetzes durch Abschaffung des Systems der Lohnarbeit, die Aufhebung der Ausbeu- tung in jeder Gestalt, die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, obgleich zunächst im nationalen Rahmen wirkend, ist sich des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung bewusst und entschlossen, alle Pflich- ten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt, zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert, um die Lösung der sozialen Frage anzubah- nen, die Errichtung von sozialistischen Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demo- kratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes. Die Produktivgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfange ins Leben zu rufen, dass aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates: 1. Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer und obligatorischer Stimm- abgabe aller Staatsangehörigen vom zwanzigsten Lebensjahre an für alle Wahlen und Abstimmun- gen in Staat und Gemeinde. Der Wahl- oder Abstimmungstag muss ein Sonntag oder Feiertag sein. 2. Direkte Gesetzgebung durch das Volk. Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk. 3. Allgemeine Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. 4. Abschaffung alles Ausnahmegesetze, namentlich der Press-, Vereins- und Versammlungsgesetze; überhaupt aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Forschen und Denken be- schränken. 5. Rechtsprechung durch das Volk. Unentgeltliche Rechtspflege. 6. Allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat. Allgemeine Schulpflicht. Unentgeltli- chen Unterricht in allen Bildungsanstalten. Erklärung der Religion zur Privatsache. Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert innerhalb der heutigen Gesellschaft: 1. Möglichste Ausdehnung der politischen Rechte und Freiheiten im Sinne der obigen Forderungen. 2. Eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat und Gemeinde, anstatt aller bestehenden, insbesondere der das Volk belastenden indirekten Steuern. 3. Unbeschränktes Koalitionsrecht. 4. Einen den Gesellschaftsbedürfnissen entsprechenden Normalarbeitstag. Verbot der Sonntagsar- beit. 5. Verbot der Kinderarbeit und aller die Gesundheit und Sittlichkeit schädigenden Frauenarbeit. 6. Schutzgesetze für Leben und Gesundheit der Arbeiter. Sanitätliche Kontrolle der Arbeiterwoh- nungen. Überwachung der Bergwerke der Fabrik-, Werkstatt- und Hausindustrie durch von den Ar- beitern gewählte Beamte. Ein wirksames Haftpflichtgesetz. 7. Regelung der Gefängnisarbeit. 8. Volle Selbstverwaltung für alle Arbeiterhilfs- und -unterstützungskassen. (Entnommen aus: Karl Marx, „Kritik des Gothaer Programms“, Verlag Olga Benario und Herbert Baum, Offenbach 1997, S. 82–85)

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