Freitag, 12. Oktober 2012
Nur Missverständnisse
ATHEN/BERLIN
german-foreign-policy vom 10.10.2012 (auf Kommunisten-online am 11. Oktober 2012) – Begleitet von Massenprotesten hat die deutsche Kanzlerin am gestrigen Dienstag in Athen sich um neue Chancen für deutsche Firmen bemüht. Die Privatisierung von Staatsbetrieben und Infrastruktur müsse beschleunigt werden, hieß es bereits vor Merkels Reise in Berlin. Die Kanzlerin habe die Abwicklung der DDR-Unternehmen gut in Erinnerung und wisse seither, wie man die industriellen Filetstücke eines Landes an profitorientierte Investoren veräußere. Begünstigt werden deutsche Interessenten, wie sie gestern im Umfeld der Kanzlerin auftraten, durch die Einrichtung von „Sonderwirtschaftszonen“ in Griechenland, die Berlin seit längerer Zeit fordert. Über die Wirkung des deutschen Spardiktats, das zur Verelendung der Bevölkerung führt, erklärt ein Sprecher der Bundesregierung: „Die Senkung der Lohnstückkosten ist prozentual zweistellig gelungen.“ Außenpolitik-Experten in der deutschen Hauptstadt führen die gestrigen Massenproteste auf „Missverständnisse“ zurück und empfehlen Berlin gezielte PR-Maßnahmen, um für die Zukunft Widerstände gegen die deutsche Dominanzpolitik auszuhebeln. Die griechische Bevölkerung sei zur Zeit „schlecht informiert“, sie habe aber Anrecht auf „verständliche Pressemitteilungen“ zur näheren Erläuterung des deutschen Spardiktats.
Deutsche Fingerzeige
Bei ihren Gesprächen am gestrigen Dienstag traf Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der gesamten griechischen Staatsspitze zusammen und führte Verhandlungen mit deutschen und mit griechischen Unternehmern. Hintergrund ist - neben der unkontrollierbar eskalierenden Euro-Krise - das Berliner Drängen auf einen umfassenden Ausverkauf von Staatsbetrieben und von Infrastruktur. Dieser wird bereits seit langem gefordert, kommt jedoch nicht recht voran - aufgrund anhaltender griechischer Widerstände, aber auch, weil der drohende Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone Geschäfte größeren Umfangs aus Sicht deutscher Interessenten zu einem riskanten Unterfangen macht. Es sei nun jedoch an der Zeit, Fortschritte zu erzielen, hieß es bereits vor Merkels Athen-Besuch in Berlin: Die deutsche Kanzlerin könne „Fingerzeige für maßgebliche Fortschritte bei der Privatisierung der griechischen Staatswirtschaft und Strukturreformen“ geben [1], ließ sich der Vorsitzende der CSU-Mittelstands-Union, Hans Michelbach, zitieren. Schließlich habe Merkel die Abwicklung der DDR-Unternehmen bestens in Erinnerung und wisse, wie man die industriellen Filetstücke eines Landes an profitorientierte Investoren veräußere.
Sonderwirtschaftszone Griechenland
Begünstigt werden deutsche Interessenten insbesondere durch die geplante Einrichtung sogenannter Sonderwirtschaftszonen durch die griechische Regierung, wie sie schon seit geraumer Zeit von der deutschen Wirtschaft gefordert werden (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Laut aktuellem Planungsstand sollen Unternehmen in den Sonderwirtschaftszonen Steuerermäßigungen erhalten - womöglich bis zu einem Steuersatz von null Prozent -, außerdem sind Subventionen vorgesehen. Es steht noch nicht fest, ob die Zonen geografisch oder aber nach Branchen abgegrenzt werden; der für sie zuständige Minister für Entwicklung hat gestern mit Bundeskanzlerin Merkel konferiert. Aus der deutschen Wirtschaft werden inzwischen noch weiter reichende Forderungen laut. Wie der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans Peter Keitel, unlängst verlangte, sollen nicht nur einzelne Teile der griechischen Ökonomie, sondern vielmehr das gesamte Land „eine Art Sonderwirtschaftszone im Euro-Raum werden“. Die Verwaltung der „Sonderwirtschaftszone Griechenland“ sei „mit auswärtigem EU-Personal“ zu bewerkstelligen.[3]
Auf dem Lohnniveau der 1970er Jahre
Die Vergünstigungen für auswärtige - insbesondere auch deutsche - Investoren kämen zu den schon jetzt bestehenden Vorteilen für die Profitmaximierung hinzu. Über diese äußerte erst am Montag ein Sprecher der Bundesregierung: „Die Senkung der Lohnstückkosten ist prozentual zweistellig gelungen.“ Aus der Perspektive der griechischen Bevölkerung stellen sich die Dinge freilich recht anders dar: So wurde die „Senkung der Lohnstückkosten“ unter anderem durch ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit auf offiziell fast 25 Prozent erreicht; bei Jugendlichen beträgt sie 50, bei jungen Frauen 60 Prozent. Die Löhne von Geringverdienenden sind inzwischen auf das Niveau der zweiten Hälfte der 1970er Jahre abgestürzt - bei konstant gebliebenen Preisen, was beispielsweise die teuren Arzneimittel für viele unerschwinglich macht. Hunderttausende sind inzwischen auf Suppenküchen der Kirchen angewiesen, um blanken Hunger zu vermeiden - ebenfalls eine Folge des lohnstückkostensenkenden deutschen Spardiktats.
Deutsche Provokationen
Die Proteste gegen die deutsche Kanzlerin resultieren dabei keineswegs nur aus der Wut über das deutsche Spardiktat, sondern auch aus einer Vielzahl weiterer deutscher Provokationen. Schon zu Beginn der Kriseneskalation Anfang 2010 hatten deutsche Medien die griechische Bevölkerung unter Rückgriff auf rassistische Phrasen eines völkischen Publizisten verunglimpft, der bereits zur NS-Zeit als ideologischer Kronzeuge gegen Griechenland gedient hatte.[4] Ähnlich rassistischen Beschimpfungen in deutschen Massenmedien („Pleite-Griechen“) folgten deutsche Forderungen, ein EU-Protektorat über das Land zu errichten. In der Presse hieß es zuletzt, man könne „Merkels Sparpolitik auf den Straßen von Athen“ womöglich nur noch „mit Waffengewalt durchsetzen“. In einem Kommentar einer renommierten Tageszeitung war die Warnung zu lesen: „An internationale Schutztruppen, wie sie weiter nördlich zur Stabilisierung taumelnder Staaten stationiert sind, wird man hoffentlich nicht denken müssen.“[5] (german-foreign-policy.com berichtete [6].) Aus diesen Provokationen erklärt sich nicht nur, dass jüngsten Umfragen zufolge vier Fünftel der griechischen Bevölkerung eine negative Einstellung gegenüber Deutschland haben, sondern auch die Intensität der gestrigen Proteste, deren Eindämmung durch die Verhängung einer Art Ausnahmezustand über die griechische Hauptstadt vorgenommen wurde - ein für Auslandsreisen bundesdeutscher Politiker bislang ungewohnter Akt.
Die Wahrheit aus deutscher Hand
Außenpolitik-Experten warnen, man dürfe das rasche Erstarken der griechischen Proteste gegen die deutsche Politik keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Mit der Entwicklung befasst sich eine kürzlich von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) publizierte Analyse. Der Autor erklärt die griechische Wut über Spardiktate und Provokationen aus der Bundesrepublik zu „Missverständnissen“, denen die Bundesregierung eine „funktionierende Kommunikationsstrategie“ entgegensetzen müsse. Künftig sollten etwa „regelmäßige Pressekonferenzen“ sowie „verständliche Pressemitteilungen in deutscher und griechischer Sprache“ dazu beitragen, „Berlins Handeln im Kontext der griechischen Krise (zu) erklären“. Dadurch erhalte „die griechische Öffentlichkeit, die derzeit schlecht informiert ist, die Chance, die Wahrheit zu erfahren - und das aus erster Hand“. Die deutsche Eigenpropaganda gegenüber der griechischen Bevölkerung dürfe „nicht unbedingt als eine Einmischung in die griechische Politik betrachtet werden“, sondern „als Zeichen des gegenseitigen Respekts“ - um „bestehende Missverständnisse zu klären“.[7]
[1] Merkel will in Athen loben und mahnen; www.welt.de 08.10.2012
[2] s. dazu Die Chance in Griechenland nutzen
[3] BDI-Chef will Griechenland zur Sonderwirtschaftszone machen; www.spiegel.de 10.09.2012
[4] s. dazu Bilanz der Nationalismus-Party
[5] Griechenlands Schicksalswahl; Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.05.2012
[6] s. dazu Vom Stellenwert der Demokratie
[7] George N. Tzogopoulos: Das griechisch-deutsche Missverständnis. Auswirkungen der Krise auf das Deutschland-Bild in Griechenland, DGAPanalyse kompakt No. 8, September 2012
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58429
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