8.
März 1943. Im Morgengrauen haben Massenverhaftungen begonnen. In
München und Umgebung werden Familien aus dem Schlaf gerissen, auf
Lastwagen getrieben und ins Polizeipräsidium verfrachtet. »Was haben wir
getan, warum sperren die uns ein?« fragt Hugo Höllenreiner seinen
Vater. »Nichts haben wir getan. Die tun das, weil wir Sinti sind«,
bekommt er zur Antwort. Der Neunjährige versteht die Welt nicht mehr.
Am 13. März fahren Züge vom Güterbahnhof los, quer durch Bayern, Richtung Osten. Nach Auschwitz, ins »Zigeunerlager«. Mindestens 141 Münchner Sinti und Roma sind in den Viehwaggons zusammengepfercht, ohne Sitze, ohne Nahrung und fast ohne Wasser, ohne Toiletten, ohne alles. An den folgenden Stationen kommen im Laufe der dreitägigen Reisedauer immer mehr Familien aus anderen Städten hinzu. Nur wenige von ihnen werden 1945 zurückkehren. Was sie erlebt und erlitten haben, wird niemanden interessieren. Was ihnen geraubt wurde, wird ihnen nicht ersetzt werden. Wo andere Verfolgte wenigstens eine magere Entschädigung erhalten, werden sie leer ausgehen. Ihre Anträge werden oft von denselben Personen bearbeitet werden, die der Gestapo die Deportationslisten zusammengestellt haben. Als Verfolgte werden die meisten nicht anerkannt werden. Man wird ihnen sagen, sie seien von den Nazis aus »kriminalpräventiven Gründen« gequält worden, zur Vorbeugung – weil sie eben »Zigeuner« seien und damit auf jeden Fall schuldig. Rassische Verfolgung? Bei ihnen nicht.
Fünfundsiebzig Jahre später. Vieles hat sich geändert. Nicht, dass es keine antiziganistische Diskriminierung mehr gäbe. Aber die nunmehr 38-jährige Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma – gerechnet ab 1980, dem Jahr des Hungerstreiks in der KZ-Gedenkstätte Dachau – ist nicht erfolglos geblieben. Selbstbewusst fordern Sinti und Roma heute gleiche Rechte und einen angemessenen Platz in der Erinnerungskultur für die Opfer des NS-Regimes. So erinnern die Münchner Sinti und Roma in diesem März erstmals gemeinsam mit der Landeshauptstadt und verschiedenen Kooperationspartnern durch eine zwölftägige Veranstaltungsreihe an ihre deportierten und ermordeten Angehörigen. Höhepunkte der Veranstaltungsreihe sind, nach einer eindrucksvollen Würdigung ihrer »starken Frauen« am 8. März, eine Gedenkstunde am Platz der Opfer des Nationalsozialismus am Nachmittag und eine Gedenkveranstaltung im Großen Sitzungssaal des Münchner Rathauses am Abend des 13. März.
Namenslesung auf dem Platz der NS-Opfer
Die an der nachmittäglichen Gedenkstunde Teilnehmenden werden von Oberbürgermeister Dieter Reiter begrüßt. Allen Rassisten will er ins Stammbuch geschrieben wissen, »dass die Sinti und Roma seit mehr als 600 Jahren Bestandteil der deutschen Geschichte und Kultur sind«. Deshalb müsse es unser aller Anliegen sein, das Gedenken an die deportierten Sinti und Roma wachzuhalten und gleichzeitig »mit aller Entschlossenheit gegen ihre fortgesetzte Ausgrenzung und Diskriminierung anzugehen«. Erich Schneeberger, Landesvorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, fordert die Stadt München auf, eine Straße nach dem 2015 verstorbenen Hugo Höllenreiner zu benennen, der seit den 1980er Jahren als Zeitzeuge immer wieder an Schulen und bei Gedenkveranstaltungen über seine Erlebnisse in Auschwitz gesprochen hat. Alexander Diepold, Leiter von Madhouse München/Beratungsstelle für Sinti und Roma und wichtigste Triebkraft für die Durchführung der Gedenktage, schildert die breite Zusammenarbeit städtischer und nicht-städtischer Stellen bei der Vorbereitung dieses ersten Programms und kündigt an, dass künftig alljährlich um den 13. März an den Völkermord an den Sinti und Roma erinnert werden soll. Die Mitte der Gesellschaft muss erreicht werden, deshalb wünscht sich Diepold, dass der Gedenkgottesdienst im nächsten Jahr nicht mehr in den Räumen einer unbekannten freichristlichen Gemeinde, sondern in der Münchner Frauenkirche stattfinden kann. Bis dahin dürfte allerdings noch viel Arbeit nötig sein. Nach einer Kranzniederlegung werden die Namen und Lebensdaten der Menschen verlesen, die am 13. März 1943 aufgrund von Heinrich Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 deportiert wurden. Lang, sehr lang ist die Reihe der Namen, vom fünf Monate alten Säugling bis zur 79-jährigen Greisin. Die Gedenkstunde am Platz der Opfer endet mit einem Ökumenischen Gebet, vorgetragen von Geistlichen unterschiedlicher Konfessionen.
Abendliches Gedenken im Rathaus
Der Abend im Rathaus ist geladenen Gästen vorbehalten. Als Hausherrin begrüßt Bürgermeisterin Christine Strobl (SPD) die Anwesenden, unter ihnen Hugo Höllenreiners jüngster Bruder Peter und Hugos Cousin Mano sowie Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Die engagierte Rede der Bürgermeisterin wird mit lebhaftem Beifall quittiert. Strobl: »Gerade München [hat] als Zentrum der antiziganistischen, aber auch antisemitischen Verfolgung eine ganz besonders unrühmliche Rolle gespielt. Der Nährboden dafür wurde bereits lange vor 1933 geschaffen. Es begann schon viel früher, aber es kulminierte erstmals mit der Schaffung der sogenannten Ordnungszelle Bayern nach der blutigen Niederschlagung der zweiten Münchner Räterepublik, als die Stadt zum Sammelbecken für Antidemokraten, fanatische Rassisten und Rechtsextremisten wurde.«
Die Rolle der Münchner Polizei, die seit Kaisers Zeiten das organisatorische Zentrum der Verfolgung von Sinti und Roma im Deutschen Reich gebildet hatte, war bereits am Vorabend bei einer Veranstaltung im Polizeipräsidium von dem Historiker Joachim Schröder beleuchtet worden. Bei der Abendveranstaltung im Rathaus findet Polizeipräsident Hubertus Andrä zu diesem Thema klare Worte: »Die Deportation von Münchnern – Kindern, Frauen und Männern – vor 75 Jahren war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es war ein Verbrechen aus rassistischen Gründen, begangen durch Angehörige und unter Mitwirkung der Münchner Polizei. Daran gibt es nichts zu deuteln.« Die Münchner Polizei bemühe sich, ihrem Nachwuchs die Lehren aus der Vergangenheit nahezubringen. Heute ermittle die Münchner beziehungsweise die bayerische Polizei ohne Ansehen der jeweiligen Personen – »niemals dürfen Abstammung und Herkunft dazu Anlass geben«. Die Beamtinnen und Beamten verstünden sich als Hüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und träten für die Sicherheit der hier lebenden Menschen ein. Andrä: »Für die Münchner Polizei sage ich: Mit vollem Engagement wollen wir einstehen für die persönliche Sicherheit und den Schutz der Grundrechte eines jeden, der in diesem Staat und in unserer Stadt lebt.« Mit dieser allzu freundlichen Darstellung der polizeilichen Gegenwart und auch mit dem Hinweis auf das »bayerische Handlungskonzept gegen Extremismus«, das zahlreiche Maßnahmen gegen »politische Menschenfeindlichkeit« enthalte, kann Münchens oberster Ordnungshüter allerdings nicht jeden im Saal überzeugen.
Romani Rose weist auf die in Jahrhunderten gewachsene Verwurzelung der deutschen Sinti und Roma in ihrer Heimat und auf die schlimmen Folgen der nach 1945 andauernden Diskriminierung der Minderheit für die Entwicklung des westdeutschen Staates hin. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma: »Große Teile der an der Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma beteiligten Beamten konnten ihre Karriere nach 1945 nahezu bruchlos fortsetzen. Dafür mussten sie ihre maßgebliche Rolle bei der Organisation des Völkermords an den Sinti und Roma systematisch verschleiern und verharmlosen. Um sich selbst zu entlasten, rechtfertigten die ehemaligen SS-Offiziere die Deportation von Sinti und Roma in die Vernichtungslager als vorgeblich kriminalpräventiv. Damit erhielten die ehemaligen SS-Beamten erneut die Deutungsmacht über das Schicksal ihrer ehemaligen Opfer. Diese Verfälschung der historischen Tatsachen, die sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte fand, war nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, sie stellte die Prinzipien von Rechtstaatlichkeit und demokratischem Neubeginn radikal in Frage.« Rose begrüßt den Abschluss eines Staatsvertrages, in dem sich der Freistaat Bayern verpflichtet hat, die Minderheit zu fördern und wirksame Maßnahmen gegen ihre Diskriminierung zu ergreifen.
Nach dem Zentralratsvorsitzenden schildert der Landesvorsitzende Erich Schneeberger die Etappen der Verfolgung in Bayern und im Reich und hebt hervor, dass der Völkermord an der als »Zigeuner« verfolgten Minderheit sich in keiner Weise vom Holocaust an den Juden unterschied.
Tiefen Eindruck hinterlassen schließlich die Lebenserinnerungen von Peter Höllenreiner, der seinen vierten Geburtstag im Viehwaggon nach Auschwitz verbringen musste und danach noch weitere drei Konzentrationslager durchlief, bevor er als Sechsjähriger in seine Heimatstadt München zurückkehrte. Sein weiteres Leben war durch die schrecklichen Erlebnisse in den KZs und die weiter andauernden rassistischen Demütigungen geprägt. Bis heute hat er Albträume und Panikattacken; bis heute lösen die Geräusche beim Rangieren von Güterzügen Schweißausbrüche bei ihm aus. Seine Hoffnungen richten sich auf die Jugend, die dafür sorgen muss, dass den heute wieder zunehmenden Angriffen auf die Minderheit entgegengetreten und eine Wiederholung der damaligen grauenhaften Ereignisse nicht zugelassen wird. Dieser Wunsch habe ihn auch dazu bewogen, an diesem Abend zu sprechen. Jedoch: »Was heute geschieht, das hätte ich mir schon zu meiner Schulzeit vor siebzig Jahren gewünscht.« Die Zuhörer danken dem mittlerweile 79-Jährigen mit lang anhaltendem stehendem Applaus. Nach einem Auftritt des Sandro Roy Trios, das die Veranstaltung musikalisch begleitet, überbringen zwei ausländische Roma-Delegationen, die eine aus Serbien, die andere aus Spanien, sowie eine Delegation aus Berlin Bürgermeisterin Christine Strobl als Vertreterin der Landeshauptstadt München Grüße und Geschenke aus ihrer Heimat.
Am nächsten Tag geht das Programm mit einem Workshop zum Thema »Antiziganismus heute« weiter.
Weitere Informationen über Projekte der Bürgerrechtsbewegung und gegen Antiziganismus nicht nur in München siehe www.madhouse-munich.com.
Am 13. März fahren Züge vom Güterbahnhof los, quer durch Bayern, Richtung Osten. Nach Auschwitz, ins »Zigeunerlager«. Mindestens 141 Münchner Sinti und Roma sind in den Viehwaggons zusammengepfercht, ohne Sitze, ohne Nahrung und fast ohne Wasser, ohne Toiletten, ohne alles. An den folgenden Stationen kommen im Laufe der dreitägigen Reisedauer immer mehr Familien aus anderen Städten hinzu. Nur wenige von ihnen werden 1945 zurückkehren. Was sie erlebt und erlitten haben, wird niemanden interessieren. Was ihnen geraubt wurde, wird ihnen nicht ersetzt werden. Wo andere Verfolgte wenigstens eine magere Entschädigung erhalten, werden sie leer ausgehen. Ihre Anträge werden oft von denselben Personen bearbeitet werden, die der Gestapo die Deportationslisten zusammengestellt haben. Als Verfolgte werden die meisten nicht anerkannt werden. Man wird ihnen sagen, sie seien von den Nazis aus »kriminalpräventiven Gründen« gequält worden, zur Vorbeugung – weil sie eben »Zigeuner« seien und damit auf jeden Fall schuldig. Rassische Verfolgung? Bei ihnen nicht.
Fünfundsiebzig Jahre später. Vieles hat sich geändert. Nicht, dass es keine antiziganistische Diskriminierung mehr gäbe. Aber die nunmehr 38-jährige Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma – gerechnet ab 1980, dem Jahr des Hungerstreiks in der KZ-Gedenkstätte Dachau – ist nicht erfolglos geblieben. Selbstbewusst fordern Sinti und Roma heute gleiche Rechte und einen angemessenen Platz in der Erinnerungskultur für die Opfer des NS-Regimes. So erinnern die Münchner Sinti und Roma in diesem März erstmals gemeinsam mit der Landeshauptstadt und verschiedenen Kooperationspartnern durch eine zwölftägige Veranstaltungsreihe an ihre deportierten und ermordeten Angehörigen. Höhepunkte der Veranstaltungsreihe sind, nach einer eindrucksvollen Würdigung ihrer »starken Frauen« am 8. März, eine Gedenkstunde am Platz der Opfer des Nationalsozialismus am Nachmittag und eine Gedenkveranstaltung im Großen Sitzungssaal des Münchner Rathauses am Abend des 13. März.
Namenslesung auf dem Platz der NS-Opfer
Die an der nachmittäglichen Gedenkstunde Teilnehmenden werden von Oberbürgermeister Dieter Reiter begrüßt. Allen Rassisten will er ins Stammbuch geschrieben wissen, »dass die Sinti und Roma seit mehr als 600 Jahren Bestandteil der deutschen Geschichte und Kultur sind«. Deshalb müsse es unser aller Anliegen sein, das Gedenken an die deportierten Sinti und Roma wachzuhalten und gleichzeitig »mit aller Entschlossenheit gegen ihre fortgesetzte Ausgrenzung und Diskriminierung anzugehen«. Erich Schneeberger, Landesvorsitzender des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, fordert die Stadt München auf, eine Straße nach dem 2015 verstorbenen Hugo Höllenreiner zu benennen, der seit den 1980er Jahren als Zeitzeuge immer wieder an Schulen und bei Gedenkveranstaltungen über seine Erlebnisse in Auschwitz gesprochen hat. Alexander Diepold, Leiter von Madhouse München/Beratungsstelle für Sinti und Roma und wichtigste Triebkraft für die Durchführung der Gedenktage, schildert die breite Zusammenarbeit städtischer und nicht-städtischer Stellen bei der Vorbereitung dieses ersten Programms und kündigt an, dass künftig alljährlich um den 13. März an den Völkermord an den Sinti und Roma erinnert werden soll. Die Mitte der Gesellschaft muss erreicht werden, deshalb wünscht sich Diepold, dass der Gedenkgottesdienst im nächsten Jahr nicht mehr in den Räumen einer unbekannten freichristlichen Gemeinde, sondern in der Münchner Frauenkirche stattfinden kann. Bis dahin dürfte allerdings noch viel Arbeit nötig sein. Nach einer Kranzniederlegung werden die Namen und Lebensdaten der Menschen verlesen, die am 13. März 1943 aufgrund von Heinrich Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 deportiert wurden. Lang, sehr lang ist die Reihe der Namen, vom fünf Monate alten Säugling bis zur 79-jährigen Greisin. Die Gedenkstunde am Platz der Opfer endet mit einem Ökumenischen Gebet, vorgetragen von Geistlichen unterschiedlicher Konfessionen.
Abendliches Gedenken im Rathaus
Der Abend im Rathaus ist geladenen Gästen vorbehalten. Als Hausherrin begrüßt Bürgermeisterin Christine Strobl (SPD) die Anwesenden, unter ihnen Hugo Höllenreiners jüngster Bruder Peter und Hugos Cousin Mano sowie Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Die engagierte Rede der Bürgermeisterin wird mit lebhaftem Beifall quittiert. Strobl: »Gerade München [hat] als Zentrum der antiziganistischen, aber auch antisemitischen Verfolgung eine ganz besonders unrühmliche Rolle gespielt. Der Nährboden dafür wurde bereits lange vor 1933 geschaffen. Es begann schon viel früher, aber es kulminierte erstmals mit der Schaffung der sogenannten Ordnungszelle Bayern nach der blutigen Niederschlagung der zweiten Münchner Räterepublik, als die Stadt zum Sammelbecken für Antidemokraten, fanatische Rassisten und Rechtsextremisten wurde.«
Die Rolle der Münchner Polizei, die seit Kaisers Zeiten das organisatorische Zentrum der Verfolgung von Sinti und Roma im Deutschen Reich gebildet hatte, war bereits am Vorabend bei einer Veranstaltung im Polizeipräsidium von dem Historiker Joachim Schröder beleuchtet worden. Bei der Abendveranstaltung im Rathaus findet Polizeipräsident Hubertus Andrä zu diesem Thema klare Worte: »Die Deportation von Münchnern – Kindern, Frauen und Männern – vor 75 Jahren war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es war ein Verbrechen aus rassistischen Gründen, begangen durch Angehörige und unter Mitwirkung der Münchner Polizei. Daran gibt es nichts zu deuteln.« Die Münchner Polizei bemühe sich, ihrem Nachwuchs die Lehren aus der Vergangenheit nahezubringen. Heute ermittle die Münchner beziehungsweise die bayerische Polizei ohne Ansehen der jeweiligen Personen – »niemals dürfen Abstammung und Herkunft dazu Anlass geben«. Die Beamtinnen und Beamten verstünden sich als Hüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und träten für die Sicherheit der hier lebenden Menschen ein. Andrä: »Für die Münchner Polizei sage ich: Mit vollem Engagement wollen wir einstehen für die persönliche Sicherheit und den Schutz der Grundrechte eines jeden, der in diesem Staat und in unserer Stadt lebt.« Mit dieser allzu freundlichen Darstellung der polizeilichen Gegenwart und auch mit dem Hinweis auf das »bayerische Handlungskonzept gegen Extremismus«, das zahlreiche Maßnahmen gegen »politische Menschenfeindlichkeit« enthalte, kann Münchens oberster Ordnungshüter allerdings nicht jeden im Saal überzeugen.
Romani Rose weist auf die in Jahrhunderten gewachsene Verwurzelung der deutschen Sinti und Roma in ihrer Heimat und auf die schlimmen Folgen der nach 1945 andauernden Diskriminierung der Minderheit für die Entwicklung des westdeutschen Staates hin. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma: »Große Teile der an der Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma beteiligten Beamten konnten ihre Karriere nach 1945 nahezu bruchlos fortsetzen. Dafür mussten sie ihre maßgebliche Rolle bei der Organisation des Völkermords an den Sinti und Roma systematisch verschleiern und verharmlosen. Um sich selbst zu entlasten, rechtfertigten die ehemaligen SS-Offiziere die Deportation von Sinti und Roma in die Vernichtungslager als vorgeblich kriminalpräventiv. Damit erhielten die ehemaligen SS-Beamten erneut die Deutungsmacht über das Schicksal ihrer ehemaligen Opfer. Diese Verfälschung der historischen Tatsachen, die sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte fand, war nicht nur eine Verhöhnung der Opfer, sie stellte die Prinzipien von Rechtstaatlichkeit und demokratischem Neubeginn radikal in Frage.« Rose begrüßt den Abschluss eines Staatsvertrages, in dem sich der Freistaat Bayern verpflichtet hat, die Minderheit zu fördern und wirksame Maßnahmen gegen ihre Diskriminierung zu ergreifen.
Nach dem Zentralratsvorsitzenden schildert der Landesvorsitzende Erich Schneeberger die Etappen der Verfolgung in Bayern und im Reich und hebt hervor, dass der Völkermord an der als »Zigeuner« verfolgten Minderheit sich in keiner Weise vom Holocaust an den Juden unterschied.
Tiefen Eindruck hinterlassen schließlich die Lebenserinnerungen von Peter Höllenreiner, der seinen vierten Geburtstag im Viehwaggon nach Auschwitz verbringen musste und danach noch weitere drei Konzentrationslager durchlief, bevor er als Sechsjähriger in seine Heimatstadt München zurückkehrte. Sein weiteres Leben war durch die schrecklichen Erlebnisse in den KZs und die weiter andauernden rassistischen Demütigungen geprägt. Bis heute hat er Albträume und Panikattacken; bis heute lösen die Geräusche beim Rangieren von Güterzügen Schweißausbrüche bei ihm aus. Seine Hoffnungen richten sich auf die Jugend, die dafür sorgen muss, dass den heute wieder zunehmenden Angriffen auf die Minderheit entgegengetreten und eine Wiederholung der damaligen grauenhaften Ereignisse nicht zugelassen wird. Dieser Wunsch habe ihn auch dazu bewogen, an diesem Abend zu sprechen. Jedoch: »Was heute geschieht, das hätte ich mir schon zu meiner Schulzeit vor siebzig Jahren gewünscht.« Die Zuhörer danken dem mittlerweile 79-Jährigen mit lang anhaltendem stehendem Applaus. Nach einem Auftritt des Sandro Roy Trios, das die Veranstaltung musikalisch begleitet, überbringen zwei ausländische Roma-Delegationen, die eine aus Serbien, die andere aus Spanien, sowie eine Delegation aus Berlin Bürgermeisterin Christine Strobl als Vertreterin der Landeshauptstadt München Grüße und Geschenke aus ihrer Heimat.
Am nächsten Tag geht das Programm mit einem Workshop zum Thema »Antiziganismus heute« weiter.
Weitere Informationen über Projekte der Bürgerrechtsbewegung und gegen Antiziganismus nicht nur in München siehe www.madhouse-munich.com.
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