Sonntag, 27. Mai 2018

Gesellschaft von unten gesehen (Werner Boldt)


Als sich die Reformuniversität Oldenburg noch dafür einsetzen musste, nach Carl von Ossietzky benannt zu werden, fuhren meine Frau und ich nach Hamburg, um Axel Eggebrecht, einen Mitarbeiter der Weltbühne, zu interviewen. Sobald er uns im verabredeten Lokal entdeckt hatte, kam er umgehend auf einen Artikel Ossietzkys zu sprechen, der sie damals alle stark beeindruckt hatte. Er meinte den Artikel »Lob der Außenseiter«, den Ossietzky mitten in den besten Jahren der Republik schrieb, als Parteien der liberalen Mitte mit der monarchistischen Rechten Regierungskoalitionen eingingen. Man sah und sieht heute noch darin ein Moment der Stabilisierung der Demokratie, doch Ossietzky sah dies ganz anders:
»Der liberale Demokratismus, in dessen Zeichen sich die sogenannte Stabilisierung vollzieht, erschöpft sich in der breiten Lobpreisung des Parlamentsstaates. Er sieht nichts Werdendes, verbeugt sich pietätvoll vor Vergangnem, ahnt nichts von einem Problem der Köpfe, geschweige denn von denen des Magens. Der böse Satz von Anatole France: ›Das Gesetz verbietet in seiner majestätischen Gleichheit den Reichen wie den Armen, unter den Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen‹, kennzeichnet für immer die hohle sittliche Attitüde einer Demokratie, die nur in ihren Institutionen und für ihre Institutionen lebt. Hier aber ist die Grundlage der fortschreitenden Einigung zwischen Reaktion und mittelparteilichem Bürgertum. Sie finden sich auf dem Verfassungspapier der Republik.«

Täglich lesen wir heute Klagen über die Schere, die sich zwischen Armen und Reichen immer weiter öffnet. Die sozialen Verwerfungen bedrohen die Demokratie, fördern das Aufkommen populistischer Strömungen. Ossietzky sah die Bedrohung auch, aber sie kam für ihn nicht von außen, sie gehörte zum innersten Kern der Demokratie, die von innen her verfaulte, weil die Institutionen einer Demokratie zwar noch auf dem Papier standen, aber nicht mehr einer demokratischen Politik dienten. Wenn Ossietzky an Demokratie dachte, dann an die Verhältnisse, unter denen Menschen leben als Arme, Gedemütigte, Unterdrückte, Ausgegrenzte. Eine formaljuristische Betrachtungsweise führte in seinen Augen zu Aussagen, die unzureichend, ja widersinnig sind. Es gibt sie heute noch. So hören wir in den Nachrichten von demokratischen Wahlen, die Gegner der Demokratie gewonnen haben, lesen wir in einem Kommentar zu den Wahlen in Ungarn, es liege im Wesen echter Demokratie, dass sie letztlich auch dazu führen kann, sich selbst abzuschaffen.

Dass die wesentlichen Ursachen der Kluft zwischen Arm und Reich in den Besitzverhältnissen liegen, wusste Ossietzky selbstverständlich. Aber sein Blickfeld reichte weiter. Seine Parteinahme für die Armen war tief empfunden, hat er doch selber in ärmlichen Verhältnissen gelebt, ein Außenseiter, der seine publizistischen Fähigkeiten in den Dienst der Demokratie stellte, statt sie für eine Karriere zu nutzen. Seine Empathie schlug sich in der Sprache nieder. Wenn er über Arme schrieb, wichen Witz und Ironie, die sonst seine Artikel auszeichnen, einem ernsten Pathos.

Wie Ossietzky den politischen Missbrauch der Verfassung anprangerte, so kritisierte er auch die Anwendung überholter Gesetze, die in das Alltagsleben eingriffen. Eine junge Frau aus proletarischem Milieu wurde wegen des Verdachts auf Prostitution verhaftet und starb in der Untersuchungshaft an einer falschen Behandlung gegen Syphilis. Ihre Mutter wurde wegen Kuppelei zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ossietzky konfrontierte die Gesetzeslage mit der alltäglichen Wirklichkeit in Armut lebender Menschen: »Dieses Gericht kennt nur ein vor zweitausend Jahren in einem bescheidenen Distrikt Vorderasiens entstandenes Sittengesetz. […] Das Gericht fällt Werturteile über das Liebesleben von Arbeitertöchtern, aber es weiß nichts von dem dumpfen proletarischen Stadtmilieu, nichts von der warmen Sehnsucht junger Dinger herauszukommen: immer am Rand der Prostitution, manchmal einen Schritt darüber. […] Kuppelei ist ein typisches Verbrechen armer Leute. Kuppelei gehört zur Wohnungsnot. Es wird ziemlich unmöglich sein, der Inhaberin einer Zehnzimmer-Wohnung nachzuweisen, daß sie ihre Tochter verkauft.«

Als Jahre später der Faschismus die Republik bedrohte, warnte Ossietzky vor der Vergangenheit, die »noch einmal die dürren Hände reckt, um die Gegenwart zu würgen.« Beim Gerichtsprozess ging es um ein alltägliches Geschehen. Die Deutsche Juristenzeitungsah keinen Grund, das Urteil zu beanstanden. Sie warf den Berichterstattern des Prozesses vor, der Lust der Menge in einem Fall zu frönen, der ohne juristische oder sonstige Besonderheiten sei.

Waren die Richter durch Gesetz an eine das Leben missachtende Tradition gebunden, so pflegte ein Minister, der aus einer Arbeiterfamilie stammte, aus freien Stücken eine antidemokratische. Im preußischen Landtag äußerte Carl Severing seinen Respekt vor den preußischen Traditionen, wobei er darauf hinwies, dass in seinem Arbeitszimmer das Bild des Großen Kurfürsten hängt. Ossietzky versuchte, ihn in die Gegenwart zurückzuholen: »Kennen Sie Käthe Kollwitz, Herr Minister, die größte und warmherzigste Frau, die jemals in der Welt den Zeichenstift führte? Kennen Sie die gräßliche Wahrheit ihrer Proletarierfrauen, kennen Sie diese zermergelten Gesichter mit leergebrannten, hoffnungslosen Augen, diese eingesunkenen Brüste und diese schrecklich gewölbten Leiber, vom Fluch der Fruchtbarkeit gezeichnet? […] Tun Sie ihn weg, den dicken Mann mit der riesigen Wollperücke. Was soll er Ihnen, wenn Ihr Blick einmal hilflos über die Wände irrt, weil die trockenen Akten unter Ihren Händen wie heißer Wüstensand zu glühen beginnen?«

Ein oberflächliches Verständnis von Demokratie, starre Anwendung weltfremder Gesetze, unbedachte Pflege einer belastenden Tradition, das alles trübt den Blick auf das wirkliche Leben und damit auf das, was Demokratie in Wirklichkeit ausmacht. Dazu gehört auch ein Denken in abstrakten Begriffen, das als Ausweis von Sachlichkeit gilt, aber das Leben der Armen nicht erfasst. »Die Wirtschaft« ist ein solcher Begriff, der heute bis zum Überdruss gebraucht wird. Ossietzky warnte:
»Hier ist der Punkt, wo die sogenannte Stabilisierung ihren Widersinn enthüllt. Bleiben zwei Millionen Deutsche etwa erwerbslos bei Seite, so mag das nebelhafte Abstraktum ›Wirtschaft‹ stabilisiert sein: das deutsche Volk ist es nicht. […] Es gibt heute eine Grenze, wo die ›Wirtschaft‹ aufhört. Es gibt eine wirtschaftslose Zone, ohne Arbeit, ohne Produktion, mit bettelhaft geringem Konsum, wo das Wollen verwest, die Kräfte faulen und giftige Dünste ausströmen, die Region der Schaffenden gefährlich umzirkend. Ahnen die Lenker des Staates, wie hier aus dumpfer Hoffnungslosigkeit ein neuer Nihilismus entstehen muß, sein Gefüge bedrohend? In den Industrie-Syndikaten weiß man diese Hölle zu schätzen: mit dem bloßen Fingerzeig darauf zwingt man ja die Arbeiter und Angestellten unter die Fuchtel des Hungerlohns. Aber der Staat sollte vor der seelischen Verwüstung zittern, die durch dauernde Arbeitslosigkeit entsteht.«

Ossietzky wusste, dass die Kluft zwischen Armen und Reichen die demokratische Entwicklung nicht nur in einem Volk, sondern auch zwischen den Völkern blockiert. Als Anfang 1927 die Kuomintang die Engländer mit militärischem Einsatz zwang, ihre Niederlassung in Hankau zu räumen, berichtete er darüber mit einer Anteilnahme, die sich zu Visionen steigerte: »Als in der Nacht englische Soldaten, von chinesischem Militär wie ein Haufen Landfahrer abgeschoben, zusehen mußten, wie Alt-Englands Hoheitszeichen vom Dach gerissen und besudelt wurde, da schwebte über diesem schweigenden, verbissnen Zug in den Lüften noch ein zweiter unendlich großer: die Geister Aller, die Europäerhabgier in fremden Zonen um Gold und Elfenbein, um Gummi und Zuckerrohr geschlachtet hat. Eine schreckliche Gespenster-Kavalkade: Rote vom Potomac, Schwarze vom Kongo, braune Kabylen, im Wüstensand verröchelt, Gelbe als Kanonenfutter des Kapitalismus in Gruben und Fabriken verbraucht. In dieser Nacht von Hankau hat Europa eine Schlacht verloren, nicht gegen eine andre Rasse, sondern, Gott sei Dank, gegen die Menschheit. Und mag auch solcher Nacht ein ungewisser Morgen folgen: das Herz kündet, daß Etwas doch anders geworden ist und es sich leichter atmen läßt. Eine Bastille ist weniger. Die Freiheit war wieder auf der Erde zu Gast.« In China wurde eine Bastille gestürmt, in Europa nicht mehr. Heute wird der ganze Kontinent zu einer Bastille ausgebaut.

Im KZ sagte Ossietzky einem politischen Mithäftling: »Ob wir überleben, ist weder sicher noch die Hauptsache. Wie man aber später von uns denken wird, ist so wichtig wie, dass man an uns denken wird. Darin liegt auch unsere Zukunft. Danach müssen wir hier leben, solange wir atmen. Ein Deutschland, das an uns denkt, wird ein besseres Deutschland sein.«

Mit dem Friedensnobelpreis international geehrt, starb Ossietzky vor 80 Jahren an den Folgen seiner KZ-Haft. Er hat uns ein Vermächtnis hinterlassen, ein Pfund, mit dem wir wuchern können – könnten.


Von Werner Boldt erschienen im Ossietzky Verlag die Bücher: »Carl von Ossietzky – Vorkämpfer der Demokratie« (2013, Ossietzky-Biografie, 820 Seiten, 34 € EUR / zzgl. 1,50 EUR Versandkosten) sowie »Carl von Ossietzky. Ein Lesebuch«, (2014, 144 Seiten, 10 € zzgl. 1,50 € Versandkosten), Bezug: ossietzky@interdruck.net

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