Sonntag, 27. Mai 2018

Sehr viel bewirkt und erreicht (Klaus Nilius)

»Ich möchte was drum geben, genau zu wissen, für wen eigentlich die Taten getan worden sind, von denen man öffentlich sagt, sie wären für das Vaterland getan worden«, grübelte Georg Christoph Lichtenberg schon im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er konnte nicht wissen, dass die größten (Un-)Taten späteren Jahrhunderten vorbehalten waren, vor denen der Ruhm des Vaterlandes verblasste. Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre waren von diesem Vaterland nur noch »zwei Wartesäle« übrig geblieben, in denen »70 Millionen Deutsche« saßen (Erich Kuby).

So wie für Kuby gehörten damals und noch bis in die 1990er Jahre hinein für viele Schriftsteller Literatur, Politik und gesellschaftliches Engagement wie selbstverständlich zusammen. In jenen Jahren stand in der Bundesrepublik Deutschland der Geist links, »in Deutschland immer eine umstrittene Position, die Ressentiments und mancherlei Misstrauen auf sich zog« (Horst Krüger 1962 in dem Sammelband »Was ist heute Links?«).

Zwei können davon besonders ein Lied singen, ein garstig Lied: Heinrich Böll und Günter Grass.

Heinrich Böll, unser Gegenwartsklassiker. Etwas unserer Zeit entfallen. Im letzten Dezember wäre er 100 Jahre alt geworden. Manches, was heute niemand mehr aufregt, war vormals geradezu skandalös (siehe dazu Ossietzky 24/2017).

»Heinrich Böll und die Deutschen«, das ist nicht nur der Titel eines im Herbst 2017 erschienenen Buches, sondern, um es mit Günter Grass zu sagen: ein weites Feld. Ralf Schnell, emeritierter Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Medienwissenschaft, schöpft aus seinem tiefgründigen Fundus als Mitherausgeber der Kölner Ausgabe der Werke des Literaturnobelpreisträgers, um die zentralen Aspekte von Bölls Biografie und Schaffen zu beleuchten.

Heinrich Böll hat sich eingemischt, als Dichter und als Homo Politicus. »Doch«, schreibt Schnell, »er tat dies stets auf eigenes Risiko, auf eigene Verantwortung und im eigenen Namen.« Heinrich Böll habe in unserem »allzu kurzen kulturellen Gedächtnis als öffentlicher Intellektueller überlebt«. »Doch man kann die Reden und Essays, die seine literarische Arbeit bis an sein Lebensende begleitet und ergänzt haben« – Böll starb 67-jährig 1985 –, »im Ernst nicht trennen von den frühen Erzählungen oder den Romanen der 1960er und 1970er Jahre.« Schnells Studie lädt ein zur Lektüre oder Re-Lektüre, zur Entdeckung oder Wiederentdeckung des großartigen Schriftstellers, und damit »zur Begegnung mit einer Epoche, die in Heinrich Böll ihren herausragenden Autor besaß« und in der er sehr viel bewirkt und erreicht hat. Wie sein Zeitgenosse Grass.

*

Den politischen Günter Grass lässt Klaus Wettig (SPD), ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, als Herausgeber in dem Band »Ich wohne nicht in stehenden Gewässern« zu Wort kommen, beginnend 1961, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Romans »Die Blechtrommel«. Damals startete Fritz J. Raddatz als neuer Cheflektor des Rowohlt Verlages die Buchreihe »rororo aktuell«, die in der Folge einen nicht zu überschätzenden Einfluss auf die kritische Öffentlichkeit der Bundesrepublik erlangte. Der erste Band, herausgegeben von dem Schriftsteller Martin Walser, warb unter dem Titel »Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung?« (heute noch bei https://www.zvab.comerhältlich) für die Ablösung der konservativ erstarrten Obrigkeit. Grass war mit von der Partie, natürlich, ebenso wie 20 andere deutsche Schriftsteller, unter ihnen sein Freund Peter Rühmkorf, Siegfried Lenz und Hans Magnus Enzensberger.

Von da an äußerte sich Grass zunehmend politisch: zu dem Bau der Mauer in Berlin, zum Einmarsch von Warschauer-Pakt-Truppen in die ČSSR, zum Kriegsrecht in Polen und zur Solidarność, zur Verfolgung von Schriftstellern, dies auf einer P.E.N.-Tagung in Moskau. Ab 1965 machte er dann allen konservativen Anfeindungen zum Trotz couragiert Wahlkampf für Willy Brandt und die SPD:
»…glaubt dem Kalender, im September / beginnt der Herbst, das Stimmenzählen; / ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen.«

Briefe der Kritik, des Mutmachens und der Solidarität nach Brandts Rücktritt 1974 vom Amt des Bundeskanzlers folgen in dem Sammelband, ebenso Reden in Landtagswahlkämpfen für die beiden »Enkel« Willy Brandts, für Gerhard Schröder in Niedersachsen und Björn Engholm in Schleswig-Holstein (»Rede von der Verantwortung«). Zum letzten Mal als Wahlkämpfer trat Grass bei der Bundestagswahl 2005 auf dem Gendarmenmarkt in Berlin auf.

Daneben nutzte Grass sein Ansehen im Kampf für eine starke Berufsorganisation der Schriftsteller und Übersetzer, zusammen mit Heinrich Böll.

Als 1967 die weltweiten Proteste gegen den USA-Krieg in Vietnam aufflammen, als hierzulande eine Notstandsverfassung angekündigt wird, steht Grass am Mikrophon. Nach dem Entstehen der RAF fehlt es nicht an seiner deutlichen Kritik der Gewalt, ebenso hart aber kritisiert er die Springer-Presse und die Hetze gegen Heinrich Böll.

Einsprüche gegen internationale Entwicklungen gehörten zu seinem »Tagesgeschäft«: gegen das Franco-Regime in Spanien, gegen den Obristen-Putsch in Griechenland, gegen den Militärputsch in Chile. Grass war stets dabei, sprach Tacheles, wenn andere schwiegen, auch die Spitzen seiner Partei, aus der er Anfang der 90er Jahre aus Protest gegen ihren Kurs in der Asyl-Politik austrat.

Bereits 1971 griff er die Zuwanderung und die mangelhafte soziale sowie kulturelle Integration der Neubürgerinnen und Neubürger auf: »In Kreuzberg fehlt ein Minarett«.

Der Band schließt mit der »Rede vom Verlust« aus dem Jahr 1992. Grass, der schon 1989 vergeblich einem »weitreichenden Lastenausgleich, fällig ab sofort und ohne weitere Vorbedingungen« zugunsten der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR das Wort geredet hatte, sparte nicht mit Kritik an der seiner Ansicht nach verfehlten Bundespolitik. Herausgeber Klaus Wettig: »Viele der von ihm benannten Punkte belasten bis heute das Zusammenwachsen.«


Ralf Schnell: »Heinrich Böll und die Deutschen«, Kiepenheuer & Witsch, 235 Seiten, 19 €. – Klaus Wettig (Hg.): »Ich wohne nicht in stehenden Gewässern«, Steidl, 160 Seiten, 18 €

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