Vor dem »Requiem pour L.« nach Mozart der Auftritt jener, die alles ermöglichen: Mitarbeiter von Kampnagel in Hamburg versammeln sich vor dem großen Bühnenvorhang zu einem kleinen Streik. Ihre Arbeitsbedingungen und Bezahlung sind im Vergleich zu den städtischen Bühnen viel schlechter. Um das zu ändern, appellieren sie – mit Hilfe der Gewerkschaft ver.di – an den bisher wenig hervorgetretenen Kultursenator Carsten Brosda, für höhere tarifliche Löhne zu sorgen. Die Zuschauer quittieren die Forderung mit Beifall.
Eine Viertelstunde später beginnt die Premiere des Requiems. Ein Musiker erscheint mit einem Akkordeon auf der Bühne, läuft um die dunklen Steinquader herum, die wie Särge anmuten, legt einen weißen Kiesel auf eine Platte. Andere Musiker kommen mit ihren Instrumenten, verteilen sich im Raum: Euphonium, Gitarren (elektrisch verstärkt) und eine kleine, überall in Afrika verbreitete Sansa und Trommeln, die akzentuieren und antreiben. Das alles bei Mozart? Dieses Stück, von afrikanischen und europäischen Musikern und Tänzern gestaltet, die ihre eigenen Trauerrituale in Mozarts letzte Komposition einfügen – er starb, bevor sein Requiem vollendet war. Sein Lacrimosa blieb unvollständig. Die verschiedenen Musikstile mit Mozarts Musik zu verbinden gelang Fabrizio Cassol. Regie führte Alain Platel mit den »Ballets C de la B., Gent/Brüssel«. Dreizehn Akteure, vom Gitarristen Rodriguez Vangama aus der Mitte heraus dirigiert. Die Solostimmen, volltönend und weich, mal A-cappella-Gesang, mal Gospel-Chor. Sie singen lateinisch oder in afrikanischen Sprachen. Das Thema Tod vereint.
Das Bühnenbild (Platel) ist ein Gräberfeld aus schwarzen Quadern, dem Holocaust-Mahnmal in Berlin nachgestaltet. Alain Platel spricht im Interview (auf dem Programmzettel abgedruckt) von einem »Friedhof«, wo »sich Menschen versammeln«. Aber das Holocaust-Mahnmal ist genau das nicht. Es steht für Millionen von Ermordeten, die dort nicht beerdigt wurden, die kein Grab haben, deren Gräber »in den Lüften« sind. Und wer denkt dabei an Afrika? Aber das alles spielt hier nicht wirklich eine Rolle. Mozarts Requiem und afrikanische Totenfeste werden zelebriert, nicht immer traurig. Die Gräber sind Teil des Lebens, auf ihnen zu tanzen ist erlaubt. Auch zärtliche Berührungen der Steinhaut, als gehöre sie zu Menschen. Und das Ablegen kleiner weißer Steinchen auf die Quader, ein Zeichen der Verbundenheit – wie auf jüdischen Friedhöfen. Die schwarze Sängerin formt aus einem weißen Tuch eine Blume – es könnte auch ein Tier sein, was das Grab bewachen soll. Alle tragen Gummistiefel – sogar die Tänzer – als seien sie gerade von der Arbeit gekommen. Der Tanz kann aufrührerisch, gar gewaltsam sein, dann ganz ruhig wie das Schicksal akzeptierend. Manche legen sich rücklings auf die Grabsteine. Das Euphonium – der Klang einem Widderhorn ähnlich, laut und klagend – dann ganz weit weg, wie ein Atmen, Verhauchen.
Hinten, ganz oben über der Bühne ein Video, groß, die ganze Wand beherrschend. Es zeigt das Gesicht einer Frau, hier nur »L.« genannt – wie auch das Stück: »Requiem pour L.« –, es ist das Gesicht einer Sterbenden. Sehr friedlich, es verändert sich wenig. Das Video ohne Farbe. Das Gegenbild zu den Tanzenden in bunten Hemden. »L.« wirkt wie einverstanden mit dem, was ihr nun widerfährt. Helfende Hände, die sie auch streicheln, kommen ins Bild. Mal öffnet sie ganz leicht den Mund, um etwas zu sagen. Die Augen sind halb geschlossen. Ich sehe wie gebannt zu und schäme mich gleichzeitig: Dieser Vorgang ist intim, nichts Spektakuläres. Soll man ihn zeigen? Sie sei einverstanden gewesen mit der Aufnahme ihres Sterbens. Irritierend, wenn zwei Tänzer ganz hoch oben zu »L.« gewandt mit den Hinterteilen wackeln. Ist es die europäische Tradition, die so etwas ausschließt? Wenn dann zwei Tänzer Stäbe in den Händen halten und mit ihnen zu rudern scheinen, sehe ich darin ein Übersetzen über den Fluss Styx ins Jenseits. Das Klopfen mit den Händen auf die Gräber – ist es ein Aufbegehren, Protest? Das Sterben als Übergang – nicht plötzlich – friedvoll und behütet: ästhetisch. Wer an die Ermordeten der Kriege (auch der Kolonialkriege in Afrika, den Völkermord an den Herero) oder nur an die Alleingelassenen und Abgeschobenen in Heimen und Krankenhäusern heute denkt – bei uns –, fühlt die Diskrepanz. Und doch ist dieser Versuch des Zusammenführens der Kulturen zum Thema Tod und Sterben – trotz der Gegensätze – gelungen.
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