Alejandra Ancheita über
mexikanische Arbeitsbedingungen
taz v. 21.4.2018
taz am wochenende:
Frau Ancheita, Mexiko wirbt als Gastland der
Hannover-Messe mit seinen ausgezeichneten
Investitionsbedingungen. Was denken Sie, wenn Sie das
hören?
Alejandra Ancheita:
Die Regierung will damit auf internationaler Ebene als
starker Partner dastehen. Doch mit der Wirklichkeit hat das
nichts zu tun. 74 Prozent der Bevölkerung leben in Armut.
Zudem leiden wir unter extremer Gewalt: Menschen
verschwinden, täglich werden sieben Frauen ermordet, der
Menschenhandel blüht, Kinder müssen arbeiten.
Der
Siemens-Konzern erklärt, die 2013 verabschiedete
Energiereform würde Investitionen besonders attraktiv
machen. Welche Konsequenzen hat diese Reform für die
Bevölkerung?
Besonders betroffen sind die
indigenen Völker. Sie haben ein Recht darauf, gehört zu
werden, bevor auf dem von ihnen bewohnten Land Energie- und
andere Entwicklungsprojekte geplant werden. Häufig werden
die Gemeinden jedoch weder vorab informiert noch befragt.
Zum Beispiel bei Windkraftanlagen in der Landenge von
Tehuantepec. Die Behörden haben dort im Interesse der
Unternehmen agiert und nicht dafür gesorgt, dass
Konsultationen durchgeführt werden. Wenn die Konzessionen
dann vergeben sind, ist es kaum mehr möglich, die Projekte
zu stoppen.
Deutsche Unternehmen investieren vor allem in der
Automobilindustrie und sprechen von Erfolg.
Ja, hier gibt es eine
Entwicklung. Aber die Investitionen wirken sich nicht
merkbar auf die arbeitende Bevölkerung aus. Insgesamt sind
nur 1,4 Prozent in der Automobilindustrie tätig.
Sind mexikanische Arbeiter
sozial abgesichert und gewerkschaftlich organisiert?
Das Arbeitsrecht garantiert eine
soziale Absicherung und das Recht auf gewerkschaftliche
Organisation. Doch es herrscht eine große Diskrepanz
zwischen den Vorgaben und der Realität. Die Gesetze werden
nicht im Interesse des Gemeinwohls angewendet. So kümmert
sich die Mehrheit der Gewerkschaften zum Beispiel darum,
Kollektivverträge mit den Unternehmern auszuhandeln, bevor
in den Werken überhaupt gearbeitet wird. Die künftigen
Arbeiter wissen nichts davon. Es ist undurchsichtig.
Sie meinen die
Gewerkschaft CTM, die mit BMW schon zwei Jahre vor der
Werkseröffnung einen Stundenlohn zwischen 1 und 2,30 Euro
vereinbart hat?
Ja, aber selbst solche
Vereinbarungen betreffen nur jene, die eine formalisierte
Arbeitsstelle haben. Das sind wenige. Die Gewerkschaften
vertreten nur etwa 10 Prozent der wirtschaftlich aktiven
Bevölkerung. Obwohl also fortschrittliche Gesetze
existieren, sind wir weit davon entfernt, dass
Arbeiterrechte garantiert sind.
Alejandra Ancheita
ist Juristin und Gründerin sowie
Direktorin des Menschenrechtszentrums Prodesc in
Mexiko-Stadt. 2014 erhielt sie den
Martin-Ennals-Preis, der von zehn internationalen
Menschenrechtsorganisationen ausgelobt wird.
Interview:
Wolf-Dieter Vogel
Chiapas98 Mailingliste
JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider
Chiapas98@listi.jpberlin.de
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