Totentanz in Tabasco
Von Eckart Leiser
Der Freitag v. 29.3.2018
Als ich Mexiko 1988 nach einer längeren
Gastprofessur an der Nationalen Autonomen Universität (UNAM)
verließ, ging eine Welle der Hoffnung auf Veränderung durchs
Land. Nach 60 Jahren Herrschaft des Partido Revolucionario
Institucional (PRI) sagten die Umfragen einen klaren Sieg von
Cuauhtémoc Cárdenas voraus, dem Kandidaten des Partido de la
Revolución Democrática (PRD), hervorgegangen aus einer
Abspaltung vom PRI. Dieser Cuauhtémoc Cárdenas war der Sohn
von Lázaro Cárdenas, dem einzigen Präsidenten Mexikos, der
zwischen 1934 und 1940 wenigstens ansatzweise das Programm der
1910 ausgebrochenen und bis in die 1920er Jahre
hineinreichenden mexikanischen Revolution umgesetzt hatte,
indem er eine Agrarreform vorantrieb und Bodenschätze
verstaatlichte. Die 1988 mit Cuauhtémoc Cárdenas ausgelöste
Hoffnung wurde durch einen massiven Wahlbetrug zu Grabe
getragen, einen der spektakulärsten in der langen Geschichte
solcher Betrügereien.
Nach meiner Rückkehr nach Europa erreichten mich aus Mexiko im
Laufe der Jahre immer häufiger Horrormeldungen über Kriege
zwischen Drogenkartellen, das Abschlachten Tausender von Frauen
in Ciudad Juárez (dazu las ich kürzlich eine makabre
Beschwichtigung: Der Anteil der ermordeten Frauen an der
Gesamtzahl von Morden sei in Ciudad Juárez nicht höher als im
Rest des Landes. Es sei daher nicht gerechtfertigt, von
„Femizid“ zu sprechen, das Besondere sei lediglich die
exemplarische Bestialität der Morde: Die Frauen werden nach der
Vergewaltigung und vor ihrer Ermordung gewöhnlich noch auf
unbeschreibliche Weise gefoltert). Hinzu kamen Nachrichten über
Dutzende von Gouverneuren, die mit den Drogenkartellen unter
einer Decke steckten.
Narkokannibalismus
Die wiederholten Einladungen einer
mexikanischen Freundin, sie zu besuchen, lösten bei mir zwar
Neugier, aber gleich darauf Gänsehaut aus. Bei einem
Video-Telefonat per Skype sah ich sie dann – vor meinem
Fenster ein hässlicher Winter – in einem tropischen Garten
sitzen. In einer Anwandlung von Nostalgie und Abenteuerlust
sagte ich schließlich zu und besorgte mir kurzerhand ein
Flugticket. Bis zu meiner Reise im Februar beruhigte ich mich
damit, dass die Exzesse der Drogenmafia eher im Norden des
Landes stattfinden würden und dass ich vom Bundesstaat
Tabasco, wo die Freundin lebt, bisher eigentlich nur in
Verbindung mit tropischen Früchten sowie Kaffee- und
Kakaoplantagen gehört hatte.
Dann stieß ich bei einigen Recherchen
auf einen Bericht der Zeitung Sol del Sureste über
einen fünffachen Mord auf dem Gelände eines Automobilhändlers,
begangen am 22. Mai 2017 in genau dem Stadtviertel von
Villahermosa, in dem meine Freundin wohnt. Zwei der fünf
Leichen waren geköpft worden. Unter der Überschrift
„Narkokannibalismus“ war zu lesen, das Verbrechen werde dem
von jungen Männern dominierten Drogenkartell Cartel Jalisco
Nueva Generación (CJNG) zugeschrieben. Dieses verlange als
neues Initiationsritual von frisch rekrutierten Kandidaten,
Mitglieder gegnerischer Kartelle „hinzurichten“ und dann deren
Fleisch zu verspeisen. Ich trat meine Reise trotzdem an.
Meine Freundin empfing mich gleich am
Flughafen mit einer Liste von Sicherheitsregeln: Auto beim
Fahren immer verriegeln, nicht die Fenster herunterlassen,
besondere Vorsicht vor roten Ampeln, bei denen im Dunkeln
nicht gehalten werden muss, möglichst nie allein auf der
Straße gehen, die Jalousien des vergitterten Hauses immer
geschlossen halten und so weiter. Sie stellte mir dann einen
Untermieter vor, der für eine symbolische Miete bei ihr
wohnte, damit ein Mann im Hause war. Sie hatte sich dafür
entschieden, nachdem Nachbarn sie telefonisch gewarnt hatten,
dass von ihr Schutzgeld erpresst werden könnte. Kurz gesagt:
Die Frau lebt in permanenter Angst, und das in einem eher
ruhigen Viertel. Schnell stellte ich fest, dass meine Freundin
– sie hat einst in Madrid promoviert – politisch nicht nur
bestens informiert, sondern auch engagiert war. Eine meiner
ersten Fragen lautete daher, was aus der „Hoffnungspartei“ von
1988, dem PRD, geworden sei. Antwort: Nach dem Rückzug von
Cuauhtémoc Cárdenas sei beim PRD vom Willen zum Wandel wenig
übrig geblieben. Das nach wie vor vom Partido Revolucionario
Institucional dominierte politische System habe die Partei
absorbiert. Sie paktiere zwischenzeitlich in einigen Gegenden
Mexikos – auch für die bevorstehende Präsidentenwahl – mit der
Rechtspartei Partido Acción Nacional (PAN). Ich erfuhr
zugleich, dass aus einer Abspaltung vom PRI eine neue Partei
entstanden war, die sich Movimiento Regeneración Nacional
(MORENA) nennt und mit Andrés Manuel López Obrador als
Präsidentschaftsbewerber antreten wird, unterstützt vom
Partido del Trabajo (PT). Derzeit liegt López Obrador in allen
Umfragen vorn, was in diesem Land freilich nicht viel
bedeutet. Er tritt bereits zum dritten Mal an, nach zwei
verlorenen Wahlen, denen stets massenhafte Proteste wegen
Wahlmanipulation folgten.
Die Motive für das Engagement meiner
Freundin für diesen Kandidaten konnte ich während meines
Aufenthalts nicht so recht ergründen. Neben politischen
Präferenzen spielte auch der Faktor Lokalpatriotismus eine
Rolle, denn López Obrador kommt aus Tabasco. Ich spürte
Zeichen der Resignation, die sich in der Aussage meiner
Freundin verdichteten, dass auch eine Partei wie MORENA keine
wirklichen Veränderungen bringen werde, solange das „System“
und seine „Strukturen“ die gleichen blieben.
Unerwartet kam ich mit einem weiteren
Problem Mexikos in Berührung, der Flut von indocumentados
aus Guatemala, Honduras, El Salvador und anderen Staaten. Es
handelt sich um junge Männer, die mit allen Mitteln versuchen,
die USA zu erreichen, und dazu Mexiko als Transitland
durchqueren. Die Zahl derer, die auf diesem Weg ums Leben
kommen oder verschwinden, ist hoch. Die einen verhungern oder
verdursten, andere werden ausgeraubt und ermordet, wieder
andere entführt und von Drogenkartellen versklavt. Nahe bei
Villahermosa fährt zweimal täglich ein Güterzug mit Hunderten
von Migranten vorbei, die sich über, unter oder zwischen den
Waggons festklammern. Einigen gelingt es, in die Waggons
einzudringen. Viele sind irgendwann derart erschöpft, dass sie
während der Fahrt in den Tod stürzen. Der Zug trägt den Namen
„La Bestia“ – die Bestie. Die Haltung der mexikanischen
Regierung zu den indocumentados ist wie so vieles in
diesem Land ambivalent. Bisweilen werden sie festgenommen und
abgeschoben, in den meisten Fällen jedoch schauen die Behörden
einfach weg.
Ein gescheiterter Staat
Meine Freundin sprach von Hinweisen,
wonach Präsident Peña Nieto Donald Trump einen „Deal“ in der
Grenzfrage angeboten habe: Um eine Mauer zwischen den USA und
Mexiko zu verhindern, werde sein Land die Kontrollen an der
Südgrenze verstärken. Tatsächlich bin ich auf der
Nationalstraße von Villahermosa nach Palenque im Staat Chiapas
auf eine riesige Kontrollstation getroffen und bekam zu hören:
Hier sollten die in Lastwagen versteckten Migranten abgefangen
werden.
Der Staat Tabasco ist eines der Zentren
der Erdölförderung und -verarbeitung, betrieben vom
Staatskonzern PEMEX, der einst unter dem Präsidenten Lázaro
Cárdenas gegründet wurde. Obwohl seither in der Verfassung
eine staatliche Kontrolle bei der Ausbeutung von Bodenschätzen
festgeschrieben ist, gibt es seit längerem eine schleichende
Privatisierung, die López Obrador zurückdrehen will. Doch hat
PEMEX der Region Tabasco auch als Staatsunternehmen keinen
Wohlstand gebracht. Diese Firma funktioniert weitgehend nach
den Regeln der Mafia, die Belegschaft bildet eine Art von
Kaste, die in einer auf Privilegien gegründeten Welt lebt –
mit eigener Gewerkschaft, eigenem Gesundheitswesen,
Einkaufszentren und Wohnsiedlungen. Kurz gesagt: Was
Villahermosa von der Ölindustrie zu spüren bekommt, sind
hauptsächlich höhere Lebenshaltungskosten.Ansonsten verdient sich die Bevölkerung ihren spärlichen Lebensunterhalt mit einer Unzahl von „Mikroökonomien“. Alle hundert Meter findet sich ein Stand, an dem tacos, enchiladas oder quesadillas zubereitet und verkauft werden. Bei jedem Einparken gibt es jemanden, der einweist und ein Trinkgeld kassiert, in jedem Supermarkt an den Kassen eine Brigade von „Tütenpackern“. Im Umfeld meiner Gastgeberin traf ich auf ein besonderes Phänomen: Familienmitglieder haben akademische Abschlüsse als Betriebswirte, Juristen oder Journalisten, finanzieren aber ihr Leben mit Wäschereien, Spielzeugläden oder Gymnastikzentren.
Was mich während meines Aufenthalts am
meisten schockierte, war die Traumatisierung der Menschen
durch die Allgegenwart des Verbrechens. Einige Tage vor meiner
Abreise traf meine Freundin auf der Straße eine ehemalige
Kollegin, die plötzlich in Tränen ausbrach. Vor kurzem waren
ihr Sohn und dessen Lebensgefährtin ermordet worden. Die Frau
litt besonders darunter, dass es nicht einmal den Versuch
einer polizeilichen oder strafrechtlichen Aufklärung gab. Ein
anderes Beispiel: Am letzten Tag besuchten wir in einem
belebten Viertel ein Fischrestaurant direkt am idyllischen
Ufer des Flusses Grijalva. Nach Hause zurückgekehrt, fand
meine Freundin in einem Internetportal die Nachricht, dass
hundert Meter von jenem Restaurant entfernt eine Leiche mit
Schusswunden auf der Straße gefunden worden war. Wie es hieß,
hatte das Opfer eine Woche zuvor selbst jemanden umgebracht.
Ich stieß dann auf eine Statistik, der zu entnehmen war, dass
in Villahermosa allein im Mai 2017 37 Morde begangen wurden,
in Mexiko insgesamt 200.000 während des zurückliegenden
Jahrzehnts, also 55 Morde pro Tag. Verbrechen, die nicht nur
auf Drogenkartelle zurückgingen, sondern ebenso auf das Konto
von menudeos (Kleinhändlern) und gewöhnlichen
Kriminellen.
In der Zeitung La Jornada las
ich, die letzte Ordnungsmacht sei inzwischen die Drogenmafia,
der daran liege, eine ausufernde Kriminalität in gewissen
Grenzen zu halten. Zwar fahren ständig Patrouillen mit schwer
bewaffneten Polizisten durch die Straßen, doch scheint das
ohne Wirkung zu bleiben, ein schlecht inszenierter Versuch,
staatliche Präsenz in einem Land vorzutäuschen, das inzwischen
mit guten Gründen als failed state bezeichnet werden
kann. Es war ein bedrückendes Gefühl, meine so liebevollen
Gastgeber in dieser Situation zurückzulassen.
Chiapas98 Mailingliste
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