Sonntag, 8. März 2015

Demokratie als Mißbrauchsfall (Marc-Thomas Bock)

Demokratische Herrschaftsformen als die derzeit beste aller Welten anzuerkennen, dürfte uns Deutschen nach den geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wahrscheinlich nicht allzu schwer fallen. Und zu Recht erachten wir als Europäer das Zeitalter der Aufklärung, der bürgerlich-demokratischen Revolutionen, der wechselvollen und blutigen Kämpfe um Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde, um Verfassungstreue und Bürgerrechte als unser progressives Erbe, das es zu schützen und verteidigen gilt. Gegenwärtig, so scheint es jedoch, wird unsere Demokratie – und mit ihr unser Demokratieverständnis – von zwei unterschiedlichen Seiten gefährdet. Da sind zum einen die Bevölkerungsteile der Pegida-Bewegung, die sich als »vox populi« empfinden und gemeinsam mit ihren institutionellen Trittbrettfahrern, der AfD und NPD, die Einschränkung von Bürger- und Menschenrechten fordern. Bevölkerungsteile, die noch wesentlich zahlreicher sind, weil viele Bürger »hinter den Gardinen« (so der Bielefelder Soziologe Andreas Zick) insgeheim der gleichen Meinung sind. Gemeinsames Ziel ist es, die von ihnen artikulierten Forderungen nach Eingrenzung der Reise- und Religionsfreiheit, nach Pressezensur und Vorratsdatenspeicherung sowie im extremen Fall nach Wiedereinführung der Todesstrafe für »Terroristen« oder »Kinderschänder« in den tagespolitischen Diskurs zu lancieren. Und die in Dresden skandierten Pegida-Losungen »Kein Krieg mit Rußland« und »Lügenpresse, Lügenpresse«, die ja auch die Befindlichkeiten vieler Pegida-Gegner widerspiegeln, werden in diesem Kontext von den Apologeten eines neuen deutschen Kriegsengagements und den Leitmedien des neoliberalen Establishments genüßlich zu einem querfronttauglichen Interessenausgleich zwischen Rechts und Links umgedeutet. Doch die vermeintliche Friedensliebe von Pegida gilt eben nicht für Flüchtlinge, für Andersdenkende oder deutsche Mitbürger nichtdeutscher Herkunft. Und auch die DDR-Bürgerrechtler, die den ihrer Meinung nach von Pegida mißbräuchlich gebrauchten Slogan »Wir sind das Volk« als basisdemokratischen Markenartikel der ersten Stunde geschützt sehen wollen, verkennen, daß schon 1990 »das Volk« aus dem »Wir« nicht etwa eine kollektive Forderung nach einer weiterführenden demokratischen Vision für alle Bundesbürger ableitete, sondern die Forderung nach (west)deutschen Markenartikeln ohne sozialistisches Wenn und Aber, ohne »Experimente« für die Neubundesbürger aus dem »Beitrittsgebiet«. Diese Doktrin gilt seither und wird von allen regierenden Parteien oder Koalitionen seit 1990, seit einem Vierteljahrhundert also, als Modus Vivendi quer durch die Abgeordnetenbänke jenseits der Linkspartei akzeptiert. Und hier nun kommen wir zum zweiten Gefährdungsfaktor für die demokratische Ausgestaltung der Berliner Republik: Sich so souverän wie konsequent an demokratische Grundsätze zu halten scheint in Zeiten vorauseilender Bekenntnisse zu noch stärkerem Militärengagement weltweit kaum noch machbar. Wenn dazu noch globale Finanzmarktregulationen und massive Erpressungsversuche nationaler und transnationaler Konzerne in die innerdeutsche Tagespolitik hineinwirken, wenn Europa Terrorakte und Flüchtlingsströme heimsuchen, weil gerade auch jahrzehntelange westliche Kriegsdiplomatie im Nahen Osten und in Mittelasien keine Alternativen für friedliche Konfliktlösungen zuließen, weil Absatzmärkte und geopolitische Planspiele wichtiger waren als das Leben der größtenteils hoffnungslos verarmten und kollateral zusammengebombten Massen, drohen unseren Grund- und Bürgerrechten Gefahren, die unmittelbarer sind als die der Pegida. Verursacht wird diese Gefährdung durch die immer dreistere Umdeutung provozierter gesellschaftspolitischer Konflikte zu angeblich demokratischen Entwicklungsprozessen. Die Demokratie gerät zum Mißbrauchsfall. Die westliche Behauptung, Demokratie als universelles Leitbild im internationalen Rahmen implementieren zu können, wenn denn nur die marktwirtschaftlichen Grundlagen, freie Wahlen und eine demokratische – sprich vom Westen geförderte und anerkannte – Regierung vorhanden seien, ist kulturimperialistische Hybris und wird jenseits des Westens – also auch in Osteuropa – als genau solche wahrgenommen. Wenn einstmals demokratisch gewählte Präsidenten – egal ob korrupt, selbstherrlich oder anderweitig unangenehm – von Demonstranten aus dem Amt geputscht werden, weil letztere von Repräsentanten westlicher Demokratien materiell, logistisch und personell unterstützt werden, so ist dies keine Implementierung demokratischer Spielregeln, sondern deren Diskreditierung. Wenn der ins Amt geputschte Nachfolgepräsident nun von westlichen Demokraten als einer der Ihren auf dem internationalen Verhandlungsparkett anerkannt wird, obwohl er – genau wie sein Vorgänger – von Teilen seiner Bevölkerung nicht akzeptiert wird, darüber hinaus aber auch noch nicht einmal demokratisch durch sein Volk gewählt wurde, so ist dies keine demokratische Willensbildung. Es handelt sich dann vielmehr um eine souveränitätszerstörende Intervention destabilisierender Außenmächte, zu denen auch Deutschland zählt. Wenn sich nach dem Arabischen Frühling demokratisch gewählte Staatsoberhäupter zu religiösen Dogmatikern entwickeln, die dann die gerade entstandene Demokratie wieder aushebeln, um ihren Machtanspruch zu verewigen, so ist das tragisch, aber Ergebnis eines demokratischen Entscheidungsprozesses, dem immerhin eine identitätstragende Souveränität im Wahlprozeß zugrunde lag. Es gibt nun einmal das unveräußerliche Recht auf eine nationale Katharsis. Der österreichisch-britische Philosoph und Gesellschaftskritiker Karl Popper unterstrich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in seinem Hauptwerk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« die Wichtigkeit einer durch gewählte Volksvertreter ausgeübten demokratischen Intervention, die sich der Gier des von Popper analysierten »schrankenlosen Kapitalismus« des 19. Jahrhunderts innerstaatlich widersetzte und für sozialen Fortschritt und Sicherheit in ihren Gesellschaften eintrat. Diese Demokraten wurden durch die bloße Existenz der realsozialistischen Staaten in ihrer Nachbarschaft ab 1945 gestärkt. Mit dem Wegfall des sozialökonomischen Gegenmodells im Jahre 1990 expandierte der globale Kapitalismus in beispielloser Form, getragen von der informationstechnischen Revolution und dem Wegfall jeglicher sozialethischer Regulative. Die als »Wachstum« deklarierte Bereicherung von im Vergleich zur Weltbevölkerung verschwindend wenigen Menschengruppen (ein Prozent der Weltbevölkerung haben mehr Reichtum als die übrigen 99 Prozent – so die jüngste Studie der britischen OXFAM-Stiftung) wird als Fortschritt ausgegeben. Die Vergrößerung der Armut in Europa ist dabei noch vernachlässigbar im Vergleich zu der Verelendung der Weltbevölkerung auf der südlichen Halbkugel. Die Implementierung demokratischer Strukturen »rechnet« sich dort nicht. Und sie kann auch gar nicht funktionieren, denn die von Popper beschriebene demokratische Intervention der Volksvertreter gegen die soziale Destruktivität des Kapitals im eigenen Staat hat sich nun, da der Kapitalismus weltweit wieder schrankenlos zu herrschen vermag, in eine Intervention nach außen gewandelt. Diese Intervention der Demokraten nicht gegen, sondern für die Interessen des Kapitals sorgt gegenwärtig für eine beispiellose mentale Aufrüstung der westlichen Gesellschaften, führt zu einer mißbrauchten Demokratie, der es zunehmend an sozialer Solidarität und vor allem an Glaubwürdigkeit mangelt. Wenn der verarmte Rest der Welt unsere Demokratien mitsamt ihren Grundrechten und Freiheiten nur noch als besitzstandswahrende Bollwerke des Westens wahrnimmt, als entseeltes Refugium der Reichen und materialistisch denkenden Staatsbürger ohne andere Vision als die der nächsten Schnäppchenjagd und des Dünkels über den gesellschaftlich Schwächeren – eben ohne einen Propheten, einen wie auch immer geschaffenen Gott oder wenigstens den Hauch einer sozialen Empathie –, dann täuscht sich der große Rest nicht, sondern wir selbst unterliegen der kollektiven Täuschung, weil wir dem großen Ausverkauf unserer einstmals so strahlenden Maxime von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bald nichts mehr entgegenzusetzen zu haben.

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