Dienstag, 17. März 2015
Jeder sein eigener Kolumbus (Stepahn Krull)
Manches erinnert an Bertolt Brecht bei Stefan Kaegis Stück vom Autoren-Kollektiv »Rimini-Protokoll«: die Bühne und ihre von wechselndem Licht und Videoinstallationen lebende sparsame Kulisse, die überraschenden Übergänge vom Sprechtheater zum Musiktheater, vor allem aber der materialistische Gehalt der Inszenierung. Kaegi hat eine überzeugende Bühneninstallation unter dem vielsagenden Titel »Volksrepublik Volkswagen« in das hannoversche Schauspielhaus gebracht. Im Mittelpunkt von Kaegis Arbeit steht die Weiterentwicklung des Theaters, um ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen. Mit dem Ensemble aus Hannover lernen die Zuschauerinnen und Zuschauer auf neue Weise die Globalisierung und wesentliche Akteure wie die Volksrepublik China und den Weltkonzern Volkswagen kennen. Ohne Fragezeichen wird zum Ende der dokumentarischen Performance der Satz in den Raum gestellt »Vielleicht sollte Volkswagen auch eine Partei gründen.« Selbst dem weniger informierten Zuschauer wird das verständlich durch Gegenüberstellungen aus dem Programmheft: der Hauptstädte (Beijing und Wolfsburg), der Regierungsformen (Einparteiensystem und Aktiengesellschaft), der Inspiratoren (Mao Zedong und Adolf Hitler / Ferdinand Porsche), der jeweiligen Führungen (Regierungschef Li Kequang und Vorstandsvorsitzender Martin Winterkorn, Präsident Xi Jinping und Aufsichtsratsvorsitzender Ferdinand Piëch), des internationalen Vergleichs (China auf Platz 2 hinter den USA, Volkswagen auf Platz 2 hinter Toyota), der kulinarischen Spezialitäten (Peking-Ente und VW-Currywurst).
Die Erfahrungen deutscher Ingenieure in China und chinesischer Kader in Deutschland sind von Stereotypen geprägt – ein Spiegel, in dem wir uns und unsere Vorurteile erkennen. Erkennen können wir, wie die Ideologie des Autos und der Autogesellschaft von Westen nach Osten transportiert wird, wenn für die 13th Beijing International Automotive Exhibition (20.–24. April 2014) containerweise Scheinwerfer aus Deutschland eingeflogen werden. Susanna aus der Abteilung Öffentlichkeit erklärt ihrem chinesischen Kollegen Zihan: »Du mußt das Ganze eher wie eine gigantische Kunst-Performance betrachten«, nachdem sie vorher erfahren hatte, wie die flexibel einsetzbaren (Leih-)Arbeiter bei VW in China arbeiten und leben: umgerechnet 200 Euro Monatsverdienst, 320 Arbeitstage im Jahr, Bandarbeit im 64-Sekunden-Takt, »wohnen« ohne Niederlassungsbewilligung in der Stadt als »Dorf-Bewohner« in Achtbettzimmern. Im VW-Werk der nordchinesischen Millionenstadt Changchun mit knapp 15.000 Beschäftigten werden in diesem Jahr eine Millionen Fahrzeuge vom Band laufen – gut 200.000 mehr als im Mutterwerk in der VW-Hauptstadt Wolfsburg mit etwa 21.000 Beschäftigten in der Automobilfertigung.
Es kommt schon ein bißchen Zukunftsangst bei den deutschen VW-Entsandten auf, wenn sie feststellen, daß inzwischen fast die Hälfte des Absatzes des Unternehmens in China realisiert wird. Kaegi läßt Julia, die mitreisende Gattin eines Ingenieurs aus Wolfsburg in Shanghai eine übliche Kurzfassung der Geschichte von Volkswagen als Lehrerin der deutschen Schule an chinesische Kinder vermitteln: »In den 30ern entwarf ein jüdischer Ingenieur den Volkswagen, in den 40ern gab Hitler den Volkswagen in Auftrag, in den 50ern bauten die Amerikaner die Fabrik wieder auf, in den 60ern kamen die Autobahnen, in den 70ern die Gastarbeiter, in den 80ern die Roboter, in den 90ern der Sozialabbau, in den 00ern die Globalisierung – nun wird Deutschland Exportweltmeister.« Ihre Skepsis wird jedoch deutlich, wenn sie die von Albert Speer junior errichtete »deutsche Autostadt«, tatsächlich eine Geisterstadt in Anting/Shanghai, als Irrwitz bezeichnet: »Wir wären ja blöd gewesen, wenn wir da hingezogen wären.«
An Brechts frühe Forderung fühle ich mich erinnert: »Für das Publikum gilt dem Stück gegenüber: Jeder sein eigener Kolumbus« (1922, Suhrkamp 1967, Band 15, Seite 78). Wohin hat mich als ehemaligen Beschäftigten und Betriebsratsmitglied von VW dieses Stück geführt? Am Satz von der eigenen Partei, die Volkswagen gründen sollte, bin ich hängengeblieben. Ich erinnerte mich, daß Volkswagen als »NS-Musterbetrieb« in einer »NS-Musterstadt« mit gestohlenem Geld der freien Gewerkschaften gegründet wurde, daß Ferdinand Porsche und Anton Piëch durch Rüstungsproduktion sowie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und jüdischen KZ-Häftlingen reich wurden, daß Werkleitung und Belegschaftsvertretung nach der Befreiung vom Faschismus nicht ausgewechselt wurden (von der Flucht von Porsche und Piëch abgesehen), daß später ein »System Volkswagen« mit »eigenen« Bundes- und Landtagsabgeordneten entwickelt wurde, daß in dem System Sozialpartnerschaft und Co-Management jeden Streik zu verhindern wußten, daß sich Ministerpräsidenten jeglicher Couleur und Gewerkschafter von Zwickel bis Huber in der grundsätzlichen Ausrichtung des Unternehmens immer einig waren. In den chinesischen Werken sitzt die kommunistische Partei mit am Leitungstisch, und auch in Deutschland widerspricht im Aufsichtsrat niemand der Expansion und den Sparprogrammen des Vorstandes. Als »eigener Kolumbus« bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß Volkswagen keine Partei zu gründen braucht – das Unternehmen ist längst eine solche! Volkswagen ist eine globale Partei zur Ausbreitung der Auto-Ideologie, eine Partei zum partiellen Wohle der Stammbelegschaft, eine Partei zur Vermögenssteigerung des Porsche-Piëch-Clans und der Scheichs von Katar.
Schön und produktiv wäre es, das Stück auch im Wolfsburger Theater zu zeigen. Zu hoffen ist, daß möglichst viele Beschäftigte, auch diejenigen, die nach China entsandt werden, die Gelegenheit bekommen werden, sich das Gedanken und Diskussionen anregende Stück anzusehen.
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