Dienstag, 17. März 2015
Ein trauriger Tag
THESSALONIKI/BERLIN
german-foreign-policy.com vom 13.03.2015 – Am kommenden Sonntag gedenkt die jüdische Gemeinde Thessalonikis der etwa 50.000 Deportierten, die ab 15. März 1943 in 19 Bahntransporten mit jeweils 40 Güterwagen in die Vernichtungslager Auschwitz und Treblinka verschleppt wurden. Nur wenige kehrten zurück. Die internationalen Feierlichkeiten werden von der deutschen Weigerung überschattet, für die Schäden an Leib und Leben der Deportierten sowie für die materiellen Verluste in vollem Umfang aufzukommen. Insgesamt schuldet die Bundesrepublik Deutschland in Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches den jüdischen Gemeinden Griechenlands über eine Milliarde Euro. Für die deutsche Weigerung verantwortlich ist das Auswärtige Amt, dessen „Staatsminister für Europa“, Michael Roth (SPD), den griechischen Juden empfiehlt, sie sollen das Leid ihrer Opfer nicht länger „aufrechnen“. Statt zur Rückzahlung der Schulden sei Berlin zu unverbindlichen Wohlfahrtsleistungen eigenen Ermessens und „für eine bessere Zukunft“ bereit. Bettelbeträge sollen über die Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) fließen, in der die Regierungsparteien und die deutsche Opposition gemeinsame Sache machen.
Am 15. März 1943 stellten die deutschen Besatzer in Thessaloniki 40 Viehwaggons bereit, in die sie 2.800 Griechen pferchten. Es war der erste Todestransport aus der Stadt. Pro Person wurde die Mitnahme von 20 Kilogramm Habseligkeiten erlaubt.[1] Für die fast zweitausend Kilometer bis nach Auschwitz und Treblinka mussten die Verhafteten Fahrscheine lösen.[2] Die Einnahmen kamen der Deutschen Reichsbahn und damit der deutschen Staatskasse zugute. Weitere 18 Transporte erfolgten im Wochenrhythmus und dauerten bis zum 18. August 1943 an. In diesem Zeitraum plünderten die Deutschen das letzte Wohnungseigentum der Deportierten und beschlagnahmten die zurückgebliebenen Wertgegenstände. Der Abtransport des Beuteguts zur Verteilung im Reich erfolgte unter anderem über die staatseigene Spedition Schenker u. Co, die dabei ebenfalls verdiente.
Überschattet
Am kommenden Sonntag wollen Bürgermeister Boutaris und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, David Saltiel, einen Demonstrationszug in das ehemalige Ghetto der Stadt leiten. Dort, im Baron-Hirsch-Viertel, befand sich die Bahnrampe der Massendeportationen. An dem Gang durch Thessaloniki nehmen Repräsentanten mehrerer Opfernationen und zahlreiche internationale Beobachter teil. Das Gedenken wird von zunehmenden Auseinandersetzungen mit dem Rechtsnachfolger der Täter, der Bundesrepublik Deutschland, überschattet.
Erpresst
Die deutsche Staatskasse weigert sich, der jüdischen Gemeinde die seit 1943 aufgelaufenen Schulden zurückzuzahlen. Dazu gehören nicht nur die Bahngebühren für die Fahrten in den Tod (in heutiger Währung etwa 70 bis 90 Millionen Euro) [3]; hinzu kommen 1,9 Milliarden Drachmen Lösegelder, die der in Thessaloniki residierende deutsche Kriegsverwaltungsrat Max Merten von der jüdischen Gemeinde erpresst hatte (je nach Zinssatz zwischen 500 Millionen und 1,5 Milliarden in heutiger Währung) [4]. Auch dieses Geld verfiel dem deutschen Finanzministerium und wurde nie zurückgezahlt.
Staatsräson
Bei seinem kürzlichen Antrittsbesuch in Griechenland (März 2014) schloss der deutsche Bundespräsident Erörterungen über die deutschen Schulden kategorisch aus. Offenbar um einem Treffen mit der jüdischen Gemeinde zu entgehen, vermied Gauck die Fahrt nach Thessaloniki und dekretierte, „der Rechtsweg sei ausgeschlossen“ (german-foreign-policy berichtete [5]). Diese Weigerung gehorcht der Strategie des Auswärtigen Amtes unter Frank-Walter Steinmeier (SPD), der damit die Politik sämtlicher früherer Bundesregierungen unverändert fortsetzt. Die Behauptung, der deutsche Staat dürfe von den Opfern nicht in Regress genommen werden („Immunität“) und könne sich sich in moralischer „Verantwortung“ genügen, gehört zur Staatsräson der Bundesrepublik.
Widerspruch
Um diese Behauptungen zu stützen, verweist das Auswärtige Amt auch gegenüber der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki auf einen Staatsvertrag mit Griechenland aus dem Jahr 1960.[6] Darin hatte sich Bonn zur Zahlung von 115 Millionen DM für Verfolgungsmaßnahmen „aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung“ verpflichtet. Während die deutsche Seite damals meinte, damit seien alle „den Gegenstand dieses Vertrages bildenden Fragen“ abschließend geregelt, widersprach der griechische Botschafter Ypsilanti im rechtsgültigen Vertragsanhang: „Mit dem Verlangen nach Regelung weiterer Forderungen“ könne die griechische Seite an Deutschland herantreten, sobald eine Prüfung der deutschen Auslandsschulden fällig werde – also nach einem Friedensvertrag mit dem Weltkriegsaggressor.
Unermesslich
Zwar ist dieser Friedensvertrag 1990 de facto abgeschlossen worden („Zwei plus Vier-Vertrag“), doch hat die vorgesehene Prüfung der deutschen Auslandsschulden bisher nicht stattgefunden. Das „Verlangen nach Regelung weiterer Forderungen“, wie sie die jüdische Gemeinde von Thessaloniki erhebt, ist daher vollauf berechtigt und deckt sich mit den Darlegungen des griechischen Staatspräsidenten Prokopis Pavlopulos. Pavlopoulos hatte in einer ausführlichen Stellungnahme am 14. Januar erklärt, die deutschen Schutzbehauptungen seien „provozierend falsch“ [7]; Deutschland schulde einen Betrag von etwa 170 Milliarden Euro. Dem widerspricht Michael Roth, „Staatsminister für Europa“ im Auswärtigen Amt: das „Leid“ der Opfer sei dermaßen „unermesslich“ [8], dass man es weder „aufwiegen“ noch „aufrechnen“ könne.
Unbezahlbar
Der ethische Tenor verbirgt eine ausgefeilte Infamie: Weil sich die deutschen Menschheitsverbrechen angeblich nicht messen ließen, könne man ihren Umfang weder wiegen noch berechnen. Ihre schiere Größe mache sie unbezahlbar. In ähnlicher Weise hatte sich bereits der Pressesprecher der Deutschen Bahn AG in einem TV-Beitrag der ARD über die Schulden aus den Massendeportationen der Deutschen Reichsbahn geäußert: „Das Unrecht war so groß, war so monströs, dass es mit Geld nicht wieder gutzumachen ist. … Wir können das Unrecht, das geschehen ist, mit Geld nicht wieder gut machen, auch nicht wenn wir zehn Mal so viel Geld einzahlen würden.“[9]
Gnadenakte
Der argumentative Gleichklang verdeutlicht, dass sich die staatlichen Tätererben die Barbarei ihrer Vorfahren zugute halten – „möglichst viele Menschen zu töten erspart demnach den Schuldenabtrag“.[10] Stattdessen bietet Berlin rechtsunverbindliche Gnadenakte an. Als organisatorischer Mittler fungiert die Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ), deren Vorsitz das Bundeskanzleramt bestimmt. In das EVZ- Kuratorium teilt sich die Crème deutscher Ministerialbeamter und einflussreicher Repräsentanten der Großindustrie, denen jeweils zwei Vertreter der im Bundestag vertretenen Parteien beigestellt sind.
Europa!
Wie bereits in anderen Fällen nutzt die Bundesregierung die EVZ, um finanzielle Forderungen von NS-Opfern zu unterlaufen. So etatisiert die EVZ die vom Auswärtigen Amt dringend gewünschten Kontakte zu Bewohnern griechischer Massakerdörfer [11], die nach Berlin eingeladen werden, wo sie sich im AA wiederfinden. Bei den dort stattfindenden „Begegnungen“ mit ausgesuchten „Partnern“ der deutschen „Zivilgesellschaft“ bietet Staatsminister Michael Roth nicht Schuldentilgung aus deutschen NS-Verbrechen, sondern ungedeckte Wechsel auf die Zukunft an: „Wir müssen zusammenarbeiten … . Wir meinen es ernst! … Es geht um unsere gemeinsame Zukunft in Europa“.[12]
Abschieben
Die vom AA und der EVZ geknüpften „Kontakte zwischen der griechischen und der deutschen Zivilgesellschaft“ stellen den Versuch dar, die staatlichen Schulden der Bundesrepublik in den Bereich privater Anteilnahme ihrer Bürger abzuschieben und die privatrechtlichen Verpflichtungen führender deutscher Großunternehmen zu sozialisieren, indem diese früheren Sklavenhalterbetriebe der staatlichen „Immunität“ der Bundesrepublik unterstellt werden. Ihnen sollen weitere Zahlungen erspart bleiben.
Durchgriff
Diese Politik betreibt die EVZ inzwischen völlig offen. Weil die in der EVZ massiv vertretene deutsche Industrie und die dort ebenfalls präsenten Ministerien den gerechtfertigten Forderungen entgehen und keine ausreichenden Mittel zur Verfügung stellen wollen, ruft die EVZ zu einer „Kampagne“ anläßlich des bevorstehenden 70. Jahrestags der Befreiung auf – und fordert die „Zivilgesellschaft“ zu „Spenden für NS-Opfer“ auf. Das Bürgergeld soll in die Kassen der Bundesbehörde EVZ fließen (also letztlich in die Kassen des Bundesfinanzministeriums).[13] Dort hortet Deutschland seine geraubten und geplünderten Weltkriegsmilliarden und verweigert den NS-Opfern die ihnen zustehende Restitution.
Gemeinsame Sache
Der staatliche und industrielle Durchgriff auf die deutsche Zivilgesellschaft zwecks Entlastung der vermögenden Tätererben wird auch von den deutschen Oppositionsparteien gedeckt: sowohl die Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen (u.a. Volker Beck) wie auch die der Partei Die Linke (u.a. Ulla Jelpke) sitzen im EVZ-Kuratorium und machen gemeinsame Sache. Wie seit über 70 Jahren gehen die Überlebenden in Griechenland leer aus.
Für die jüdische Gemeinde von Thessaloninki ist der kommende Sonntag, der 15. März, ein trauriger Tag.
[1] Die Internationale Schule für Holocaust-Studien (ISHS). www.yadvashem.org.
[2] Zeugnis des Überlebenden Owadiah Baruch.
[3] Deutsche Bahn schuldet griechischen Opfern 75 Millionen Euro. Zug der Erinnerung e.V. Pressemitteilung 01-15, 12.02.2015.
[4] Thessaloniki will Lösegeld zurück. Jüdische Allgemeine, 25.02.2014.
[5] S. dazu Erbe ohne Zukunft.
[6] Vertrag zwischen der BRD und dem Königreich Griechenland über Leistungen zugunsten griechischer Staatsangehöriger, die von nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen betroffen worden sind. Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1961, Teil II/ 1596.
[7] Harte Antwort von Prokopis Pavlopoulos an Herrn Schäuble zum Besatzungszwangskredit. I Agvi, 14.01.2015.
[8] Staatsminister Michael Roth am Holocaust-Gedenktag in Thessaloniki, Januar 2014.
[9] Das Erbe der Bahn. ARD. Sendung vom 20.10.2014.
[10] Blutgeld II. www.zug-der-erinnerung.eu.
[11] Jugendaustausch mit Lechovo. Kirche bei uns. Oktober/November 2014.
[12] Rede von Michael Roth anlässlich der Begegnung mit Besuchergruppen aus Griechenland und Vertretern der deutschen Zivilgesellschaft am 15. Dezember 2015.
[13] Ich lebe noch! Stiftung EVZ: Extra-Newsletter, Januar 2015.
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