Montag, 17. November 2014
Mexiko inmitten von Schmerz und Tragödie
Neues Deutschland v. 16.10.2014
Schicksal verschwundener Studenten ungewiss / Kommilitonen kommen zu Protesten nach Guerrero
Von Gerd Goertz, Mexiko-Stadt
Die Leichen in mexikanischen Massengräbern sollen nicht die der 43 verschwundenen Studenten sein. Aber die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen.
In Iguala patrouilliert die neu formierten Gendarmerie, eine Abteilung der Bundespolizei.
Foto: dpa/Nationale Sicherheitskommission (CNS)
Das für die Angehörigen kaum erträgliche Warten, Bangen und Hoffen nimmt kein Ende. Unter den am 4. Oktober in sechs Massengräbern bei der Stadt Iguala im mexikanischen Bundesstaat Guerrero entdeckten 28 Leichen befindet sich nach offiziellen Angaben keiner der seit Ende September verschwundenen 43 Studenten. Eine entsprechende Erklärung gab Dienstagabend der mexikanische Bundesgeneralstaatsanwalt Jesús Murillo Karam nach Auswertung von DNA-Proben ab. Es fehlen aber noch die Untersuchungsergebnisse von mindestens drei weiteren Massengräbern. Zudem gibt es widersprüchliche Meldungen über zusätzliche Gräber.
Fast gleichzeitig informierte Tomás Zeron de Lucio, Direktor der mexikanischen Kriminalbehörde, über zusätzliche Verhaftungen. Sie betreffen den Bürgermeister, den Polizeichef sowie 14 weitere Polizisten aus dem an Iguala angrenzenden Landkreis Cocula. Die Verhafteten sollen gestanden haben, die von ihren Kollegen in Iguala mit Polizeifahrzeugen verschleppten Studenten der pädagogischen Fachhochschule von Ayotzinapa entgegengenommen und an das Drogenkartell Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) übergeben zu haben.
Die neuen Informationen gelangen in einer Situation an die Öffentlichkeit, die der Bischof Raúl Vera vor wenigen Tagen als Dampfkessel bezeichnete. Am Montag hatten zornige und verzweifelte Studenten, Lehrer und Familienangehörige der Opfer in Guerreros Landeshauptstadt Chilpancingo den Regierungssitz sowie die Stadtverwaltung angezündet und verschiedene Protestaktionen durchgeführt. Am Dienstag blieb es relativ ruhig.
Die Studenten besetzten vorübergehend mehrere Radiostationen und Banken. Sie forderten die lebende Rückkehr ihrer Kommilitonen. Aus den Bundesstaaten Michoacán und Oaxaca sind mehrere Hundert Lehramtsstudenten nach Guerrero gekommen, um die Proteste und Forderungen zu unterstützen. In Mexiko-Stadt riefen verschiedene Fakultäten der Nationaluniversität UNAM und der Autonomen Hauptstadt- Universität UAM einen 48-stündigen Solidaritätsstreik aus. Dieser Streik soll am 22. und 23. September wiederholt werden.
Selbst aus Unternehmerkreisen werden Rufe nach dem Rücktritt von Engel Aguirre, dem Gouverneur von Guerrero, immer lauter. Dieser klammert sich jedoch an den Posten. Mit leeren Worten und einer Betroffenheit, die in der Bevölkerung für gespielt gehalten wird, hat er die Situation in den vergangen zwei Wochen noch verschärft. Es geht jedoch für die gesamte mexikanische Politikerklasse um ihren Rest von Glaubwürdigkeit. »Inmitten von Schmerz und Tragödie« verwalte die politische Klasse die Schäden, warf ihr der bekannte Journalist und politische Analyst Luis Hernández vor.
Immer mehr schon länger bekannte Einzelheiten über die Fusion staatlicher Funktionsträger mit dem organisiertem Verbrechen im Bundesstaat Guerrero - und nicht nur dort - werden in diesen Tagen zusammengetragen. Dies wirft die Frage auf, warum Landes- und Bundesregierung erst reagierten, als die Ermordung von sechs Menschen in Iguala durch Polizei und organisiertes Verbrechen sowie das mutmaßliche Massaker an weiteren 43 Studenten die Weltöffentlichkeit alarmierte. Ihre Sorge um die als aufrührerisch geltenden Studenten von Ayotzinapa war bis dahin ebenso wenig ausgeprägt wie in vielen anderen Fällen, in denen Vertreter sozialer Bewegungen in den vergangenen Jahren Opfer krimineller Machenschaften wurden. »Jeder Versuch, die politische Dimension des Massakers klein zu halten, wird das Regime weiter abnutzen«, warnt Hernández.
Der mexikanische Finanzminister Luis Videgaray sowie Zentralbankchef Agustín Carstens äußerten ihre Erwartung, die Vorgänge in Guerrero würden sich nicht auf die Investitionen in Mexiko auswirken. Dies kann als eine indirekte Reaktion unter anderem auf die in weiten Teilen der mexikanischen Presse aufgenommene Erklärung einer länderübergreifenden Gruppe von EU-Parlamentariern und einigen deutschen Bundestagsabgeordneten gewertet werden. Diese hatten am Wochenende gefordert, die Neuverhandlungen des Globalabkommens zwischen der Europäischen Union und Mexiko so lange auszusetzen, bis das Vertrauen in die mexikanischen Regierung beim Thema Menschenrechte wieder hergestellt sei.
Die Wahrheitskommission von Guerrero hatte in dieser Situation die Vorlage ihres Bericht über den »Schmutzigen Krieg« gegen die bewaffnete und zivile Opposition im Bundesstaat in den Jahren 1969 bis 1979 angekündigt. Darin wird unter anderem dokumentiert, dass die mexikanische Luftwaffe in sogenannten Todesflügen ermordete Oppositionelle über dem Meer in der Nähe des Badeortes Acapulco abwarf. Die Kommissionsbeauftragte Pilar Noriega erklärte in einem Interview: »Für die heute fortbestehende Straffreiheit wurde in jenen Jahren die Grundlage geschaffen.«
Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/949338.mexiko-inmitten-von-schmerz-und-tragoedie.html
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