Montag, 17. November 2014
"In Mexiko herrscht Straflosigkeit"
Deutsche Welle v. 15.10.2014
Der mexikanische Dichter Javier Sicilia bittet Europa im Kampf gegen die Straflosigkeit in seinem Land um Hilfe. Der Staat sei vom Verbrechen unterwandert, sagt er im DW-Interview. Er befürchtet eine soziale Explosion.
Vom 15. bis 19. Oktober 2014 findet in Mexiko die Internationale Buchmesse von Acapulco statt. Einer der bekanntesten zeitgenössischen Autoren des Landes ist nicht dabei: Der Dichter und Romancier Javier Sicilia boykottiert die Messe aus Protest gegen das Verschwinden von 43 Studenten, die mutmaßlich von Killern eines Drogenkartells unter Mithilfe von Polizisten ermordet wurden.
Javier Sicilia ist einer der prominentesten Aktivisten gegen die Gewalt in Mexiko. Nachdem sein Sohn im März 2011 von Mitgliedern des organisierten Verbrechens ermordet worden war, gründete der Schriftsteller die "Nationale Bewegung für Gerechtigkeit und Würde", in der er die Opfer des organisierten Verbrechens aus dem ganzen Land vereinen will. Ziel der Bewegung ist es, dass die unzähligen Verbrechen aufgeklärt werden. Forschungsinstitute beziffern die Zahl unaufgeklärter Straftaten in Mexiko auf weit über 90 Prozent.
Deutsche Welle: Es heißt, die Bezirksregierung von Iguala und das organisierte Verbrechen seien Komplizen beim Mord von mindestens sechs Studenten gewesen. Können Sie die Situation beschreiben?
Javier Sicilia: Es handelt sich um ein Staatsverbrechen. Man kann es nicht anders nennen, weil der Staat offensichtlich vom organisierten Verbrechen unterwandert ist und wir nicht mehr sagen können, wo die Komplizenschaft anfängt und wo sie aufhört. Die vor kurzem entdeckten Massengräber offenbaren die schreckliche Realität, in der wir bereits seit der vergangenen Legislaturperiode [2006 bis 2012, d. R.] leben und die man versucht zu verheimlichen. Wir haben in Mexiko 30.000 verschwundene und 160.000 ermordete Menschen zu beklagen. Es handelt sich um eine menschliche Tragödie und einen nationalen Notfall.
Wieso ist der Gouverneur von Guerrero, Ángel Aguirre, nach wie vor an der Macht? Wo sind die Verantwortlichen?
Sowohl die Parteien als auch die lokalen Regierungen und die nationale Regierung sind in Korruptionsfälle verwickelt. Der Gouverneur von Guerrero wird wie viele andere Gouverneure und Funktionäre nicht zur Rechenschaft gezogen. Es gibt zahlreiche Beispiele: Ulises Ruiz, ehemaliger Gouverneur des Bundestaates Oaxaca, wo grausame Verbrechen begangen wurden, die mit dem organisierten Verbrechen im Zusammenhang stehen. Im Bundesstaat Morelos, in dem während der Regierungszeit von Felipe Calderón mein Sohn getötet wurde, steckt die Landesregierung mit dem organisierten Verbrechen unter einer Decke. Angeklagt wurde bisher niemand. Das Massaker von Tlatlaya, bei dem Militärs angebliche Auftragsmörder eines Drogenkartells umgebrachten haben, spiegelt die tiefen Verstrickungen zwischen Militär und Mafia wider, in denen es nur noch um Macht und Kontrolle der Geldflüsse geht. Und dabei folgen sie der Logik des Krieges.
Übernimmt die kriminelle Industrie jetzt immer mehr politische Ämter wie in Guerrero, Michoacán oder Tamaulipas?
Das ist schon lange Realität. Neben den Toten und Verschwundenen haben wir mittlerweile fast eine halbe Million Binnenflüchtlinge aufgrund des Drogenkrieges. Die Abwesenheit des Staates und die Tatsache, dass seine Vertreter mit dem organisierten Verbrechen zusammenarbeiten, haben schon vor Langem einen nationalen Notfall ausgelöst.
Welche Rolle spielt die Straflosigkeit beim schmutzigen Krieg, den die Regierungen in den 1970er Jahren gegen linke Oppositionelle in Guerrero geführt haben?
Das kann man nicht vergleichen. Damals gab es noch eine Ideologie. Wie bei allen totalitären Regimes wurden alle unterdrückt, die linke Haltungen vertraten, weil sie als politische und ideologische Bedrohung gesehen wurden. Heute ist es viel schlimmer. Die Ära der Ideologien ist vorbei, wir befinden uns jetzt in der Ära des Geldes. Es gibt einen tiefgehenden Zusammenhang zwischen der Unterdrückung der Lehramtsstudenten und dem organisierten Verbrechen. Es ist nicht zu verstehen, weil es so etwas noch nie gegeben hat. Es ist eine neue Art von Totalitarismus, von Diktatur. Das Geschäft beherrscht alles.
Wie können Europa und die internationale Gemeinschaft die mexikanische Zivilgesellschaft bei ihrem Kampf gegen die Straflosigkeit unterstützen?
Einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments haben vorgeschlagen, dass andere Regierungen die Wirtschaftsverträge mit Mexiko aussetzen könnten. Das ist das Einzige, das der mexikanischen Regierung schaden kann. Was wir Bürger und die mexikanische Zivilbevölkerung sagen, lässt die Regierung kalt. Seitdem Enrique Peña Nieto an der Macht ist, wurde sehr viel Geld investiert, um das Image von Mexiko aufzupolieren und zu zeigen, dass das Land sich verändert hat. Aber das stimmt nicht. Wir leben in einem Regime der Straflosigkeit und Kriminalität, das gegen die eigenen Bürger gerichtet ist. Wir benötigen die Hilfe der internationalen Gemeinschaft, um den Frieden, die Gerechtigkeit und den Rechtsstaat wiederherzustellen. Alleine schaffen wir das nicht.
Schätzungen zufolge sind dem Drogenkrieg seit 2007 mehr als 100.000 Menschen zum Opfer gefallen. Wird Präsident Peña Nieto sein Versprechen halten und das Land befrieden?
Die Regierung hat den Ernst der Lage nicht begriffen. Das Land brennt, und deshalb müssten alle Parteien, Regierungsorgane und Organisationen zusammenarbeiten, das schließt auch die Kirche mit ein. Wenn es zu keinem Konsens kommt und kein klarer Weg vorgegeben wird, wie Straflosigkeit bekämpft, Gerechtigkeit hergestellt und die Schuldigen bestraft werden sollen, wird es sehr schwierig werden, einen Ausweg zu finden.
Ist eine soziale Explosion zu befürchten?
Ich habe mitbekommen, wie die Eltern der verschwundenen Studenten sagten, dass sie den Behörden keinen Glauben schenken und dass sie die Gerechtigkeit selbst in die Hand nehmen werden, falls ihre Kinder nicht lebendig wieder auftauchen. Das Aufkommen der Bürgerwehren, die die Behörden versuchen, aus den Medien zu verbannen, ist symptomatisch dafür, dass wir uns am Rande einer sozialen Explosion befinden. Die Botschaft, die sie an die Bürger senden, lautet: Verteidigt euch mit allen Mitteln. Das könnte der Scheidepunkt sein, an dem das Land in eine noch viel schlimmere Krise stürzt.
ULR: http://www.dw.de/in-mexiko-herrscht-straflosigkeit/a-17996560
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