Samstag, 1. Februar 2014
"Mare Nostrum"
IMI-Analyse 2014/002
Humanitäre Operation oder Deckmantel militarisierter Migrationspolitik?
http://www.imi-online.de/2014/01/28/mare-nostrum-humanitaere-operation-oder-deckmantel-militarisierter-migrationspolitik/
Jacqueline Andres (28. Januar 2014)
Im Oktober 2013 wurde von der italienischen Regierung die
humanitär-militärische Operation "Mare Nostrum" initiiert, welche die
Meeresenge zwischen Sizilien und Nordafrika patrouilliert und seit
Oktober mehr als 5000 Migrant_Innen in Seenot gerettet haben soll.
Anfang des Jahres sorgte die Operation für Schlagzeilen, als von ihr
mehr als 1000 Menschen innerhalb von 24 Stunden vor dem Ertrinken
bewahrt wurden. Bei genauerer Betrachtung von "Mare Nostrum" vergeht die
Feierlaune schnell.
Hintergrund der Operation
Entstanden ist diese Maßnahme kurz nach der Katastrophe des 3.Oktober
2013, als ein Boot mit 500 Migrant_Innen sank und 364 von ihnen vor der
Küste Lampedusas ertranken. Lampedusa hat viele Boote sinken sehen: Es
wird geschätzt, dass seit 1994 mehr als 7000 Menschen vor der Insel
starben[1], doch nie zuvor trieben so viele Leichen zur gleichen Zeit im
Wasser. Bilder der schwierigen Bergungsaktion und die aufgereihten
Särge, die eine graue Lagerhalle ausfüllten, waren auf allen
Fernsehkanälen und in sämtlichen Zeitungen zu sehen. Der italienische
Ministerpräsident Enrico Letta erklärte den darauf folgenden Tag zum
Staatstrauertag und vergab die italienische Staatsangehörigkeit an alle
bei der Katastrophe Ertrunkenen[2]. Den 155 Überlebenden hingegen wurde
ein Platz in einem Abschiebelager (Centro di identificazione ed
espulsione- CIE) zugewiesen, wo sich viele von ihnen bis heute aufhalten[3].
Um eine weitere Tragödie zu vermeiden, fordern die italienische
Regierung sowie die EU-Institutionen mehr Überwachung und eine stärkere
Militarisierung des Migrationsregimes. Laut dem Präsident der
Europäischen Kommission José Manuel Barroso wird die EU 30 Millionen
Euro für Migrant_Innen in Italien bereitstellen, wobei der genaue
Verwendungszweck dieser Gelder noch unklar ist. Die EU-Kommissarin für
Innenpolitik, Cecilia Malmström, hingegen versprach Italien mit einer
Aufstockung der Finanzierung der Grenzschutzagentur FRONTEX um
zusätzliche 3 Millionen Euro zu helfen[4]. Die italienische Regierung
entschied sich zu einer tatenkräftigeren Reaktion und rief die Operation
"Mare Nostrum" ins Leben, welche nur zwei Wochen später bereits ihre
Arbeit aufnahm.
"Mare Nostrum": Eingesetzte Mittel und Kräfte
An der Luft- und Meeroperation "Mare Nostrum" beteiligen sich
unterschiedliche Ministerien und fast alle italienischen Streitkräfte.
Das Verteidigungsministerium ist mit der ihm unterstehenden Marine,
Armee, Luftwaffe, und Carabiniere involviert. Das Ministerium für
Wirtschaft und Finanzen beteiligt sich mit der ihm zugehörigen
Polizeitruppe Guardia di Finanza (Finanzwache) und das
Verkehrsministerium mit der Küstenwache. Das Innenministerium stellt
Kräfte der Polizei zur Verfügung, die an Bord der Militärschiffe tätig
sind. Der italienische Verteidigungsminister Mario Mauro hatte die
Mitarbeit anderer EU-Länder angefragt, doch nur die slowenische
Regierung zeigte Interesse und nimmt mit einem ihrer Triglav 11
Patrouillenboote sowie mit 40 Militärs an "Mare Nostrum" teil[5].
Auch eine Vielzahl an militärischen Mittel kommen zum Einsatz. Zu Wasser
werden ein für die amphibische Kriegsführung genutztes Militärschiff des
Typs Landing Platform Dock (LPD), zwei Fregatten, zwei Patrouillenboote
und ein Militärschiff für logistische Zwecke verwendet und zu Luft zwei
mit Nachtsicht-Technik ausgerüsteten Piaggio P-180-Flugzeuge, zwei
Helikopter EH101 der Marine, ein Langstrecken-Seeaufklärer des Typs
Breguet 1150 "Atlantic"[6] und Drohnen des Typs Predator B[7]. Darüber
hinaus wird auch Gebrauch von dem Küstenradarnetzwerk gemacht, mit
dessen Hilfe kleine Boote aufgespürt werden können.
Ende November 2013 unterzeichneten der libysche Verteidigungsminister
Abdullah Al-Thinni und sein italienischer Amtskollege Mario Mauro ein
Abkommen, welches zu einer erhöhten Zusammenarbeit bezüglich der
Bekämpfung von "illegaler" Migration, Menschenhandels und organisierter
Kriminalität beitragen soll. Dank dieses Abkommens können auch libysche
Beamt_Innen auf den Kriegsschiffen der Operation "Mare Nostrum" präsent
sein[8] und sich -- als "Schulungsübung" mit dem italienischen Militär
-- auch an der Identifizierung und der Befragung von Migrant_Innen
beteiligen.
Die Kosten der Operation "Mare Nostrum" werden vom
Verteidigungsministerium offiziell auf monatlich 1,5 Millionen
geschätzt, wobei nach kritischeren Berechnungen von monatlich 10 bis 14
Millionen ausgegangen wird[9].
Ziele der Operation
Laut dem Verteidigungsministerium sieht die Operation vor, "den
italienischen Überwachungs- und Rettungsapparat, der bereits auf hoher
See präsent ist, zu verstärken, um die Sicherheit von menschlichem Leben
und die Kontrolle der Migrationsflüsse zu erhöhen[10]". Die angestrebte
Intensivierung der Migrationskontrolle erklärt den Einsatz von
Kriegsschiffen, die technisch nicht für Rettungsaktionen ausgelegt sind.
Laut dem italienischen Verteidigungsminister Mauro haben die
Kriegsschiffe "die Aufgabe, auch die Mutterschiffe zu identifizieren,
die von den Schlepper_Innen benutzt werden[11]". Um Schlepper_Innen zu
fassen, wurde im November ein solches "Mutterschiff" mit einem U-Boot
auf internationalen Gewässern überwacht und schließlich angehalten[12].
Wie Mauro weiter ausführt, werden "gerettete" Migrant_Innen im Rahmen
von "Mare Nostrum" nicht zwangsläufig in einen sicheren Hafen nach
Italien gebracht: "Wenn keine Migranten medizinische Hilfeleistungen
benötigen, die wir ansonsten auf unseren Schiffe aufnehmen würden, dann
wird das Schiff in den nächstliegenden Hafen begleitet, der nicht
notwendigerweise italienisch sein muss[13]".
Folgen der Operation "Mare Nostrum"
Durch die Operation "Mare Nostrum" kann die Überfahrt nach Europa für
die Migrant_Innen noch gefährlicher werden. Um das Risiko einer
drohenden Gefängnisstrafe von fünf bis fünfzehn Jahre für Menschenhandel
zu vermeiden, werden die Schlepper_Innen vermutlich ihre Strategien
ändern. Statt die Migrant_Innen mit Mutterschiffen in internationale
Gewässer zu bringen oder die Boote der Migrant_Innen gar selbst zu
steuern, werden die Schlepper_Innen sich vermutlich vor dem Erreichen
von überwachten Gewässer von den Booten distanzieren oder den
Migrant_Innen, welchen oftmals jegliche Erfahrung auf See fehlt, das
Steuer gleich überlassen. Eine stärkere Überwachung in internationalen
und libyschen Gewässer kann dazu führen, dass sich Schlepper_Innen von
"Mare Nostrum" zurückdrängen lassen und die Migrant_Innen auf den Booten
zunehmend sich selbst überlassen werden. Ähnliche Folgen gab es bereits
an der Grenze von Spanien zu Marokko im Jahr 2004, als das "humanitäre"
Überwachungssystem "Integrated System of External Surveillance" (SIVE)
eingeführt wurde[14].
Aus dem Kommentar des italienischen Verteidigungsministers geht hervor,
dass die aufgegriffenen Schiffe nicht grundsätzlich nach Italien
begleitet werden müssen. Es besteht die Befürchtung, dass "Mare Nostrum"
Menschen "retten" bzw. Boote finden und sie in einer vermeintlichen
Rettungsaktion im Schlepptau nach Libyen zurückbringen wird. Italien
wurde bereits 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg für eine solche unrechtmäßige Rückführung verurteilt, bei der
die italienische Finanzwache Migrant_Innen ohne Überprüfung ihrer
Asylansprüche nach Libyen zurückgedrängt hatte[16].
"Mare Nostrum" erschwert auch das Stellen von Asylanträgen für
Migrant_Innen. Libysche Beamt_Innen sowie italienische Polizist_Innen
führen die Identifizierung und Befragung von den oftmals durch die Reise
und die "Rettungsaktionen" traumatisierten Migrant_Innen noch an Bord
der Militärschiffe durch. Dies geschieht in Abwesenheit von
Übersetzer_Innen und interkulturellen Mediator_Innen, wodurch den
Migrant_Innen kein ordnungsgemäßes Verfahren garantiert wird. Keine
kontrollierende Instanz bezüglich der Antragsstellung ist auf den
Militärschiffen präsent, wodurch den Migrant_Innen kein effektiver
Rechtsschutz garantiert werden kann und sie ihr Widerspruchsrecht
verlieren[17].
"Mare Nostrum"- Es ist "unser" Meer!
Der Name der Operation ist Programm. Als "Mare Nostrum", auf deutsch
"unser Meer", wurde im zunächst im Römischen Reich und später im 19.
Jahrhundert, in der Hochphase des italienischen Kolonialismus, das
Mittelmeer bezeichnet. Zuletzt nutze Mussolini den Begriff im Zweiten
Weltkrieg für das Mittelmeer, als er die italienische Seestreitkraft
stärkte, um aus Italien die dominante Mittelmeermacht zu machen.
Angesichts der Tatsache, dass die meisten Migrant_Innen aus ehemaligen
italienischen Kolonien stammen (z.B. aus Äthiopien, Eritrea und Somalia)
oder zumindest aus ihnen abreisen, insbesondere aus Libyen, ist die
Namenswahl grotesk. Hinter der vermeintlich humanitären Operation "Mare
Nostrum" steckt kein solidarisches Mittelmeerkonzept. Es ist unser Meer,
es ist "unser" von der EU kontrolliertes und militarisiertes Meer, ja
gar ein "Mare Monstrum", in dem seit 1994 geschätzte 20 000
Migrant_Innen gestorben sind, es ist ein Monster-Meer, dessen Monster
die EU-Politik erschuf. Durch die Operation "Mare Nostrum" können unter
humanitärem Deckmantel die erschütternden Bilder von versunkenen Booten
vor den dolce vita Touristenstränden vermieden, die Migration noch
intensiver kontrolliert und bei geschickter Handhabung auch Asylanträgen
aus dem Weg gegangen werden[18]. Die Operation "Mare Nostrum" erweitert
die Handlungsräume und die Aufgabenbereiche der italienischen Polizei
und des Militärs, aber sie wird weder zu einem Stopp der von
Schlepper_Innen ermöglichten Überfahrten führen, noch wird sie die
Sicherheit von Migrant_Innen beim Überqueren des Mittelmeers erhöhen.
Anstatt die Sicherheit der Migrant_Innen auf dem Meer zu erhöhen,
gefährdet die Operation "Mare Nostrum" sie, da sie durch die intensivere
Militarisierung und Überwachung Migrant_Innen zu riskanteren
Überfahrtsstrategien drängen wird.
Anmerkungen
[1] Gabriele del Grande(03.10.2013):Nel Canale di Sicilia 7.065
tra morti e dispersi dal 1994,
http://fortresseurope.blogspot.de/2006/02/nel-canale-di-sicilia.html
[2] Internazionale/TMNews (04.10.2013):Lampedusa. Letta: quei
morti da oggi sono cittadini italiani,
http://www.internazionale.it/news/lampedusa/2013/10/04/letta-quei-morti-da-oggi-sono-cittadini-italiani/
[3] Fulvio Vassallo Paleologo(08.01.2014): Lampedusa --
Continua la detenzione illegittima dei superstiti, in: Melting Pot,
http://www.meltingpot.org/Lampedusa-Continua-la-detenzione-illegittima-dei-superstiti.html#.UtAECPsueE4
[4] Infoaut (09.10.2013): Lampedusa. Contestati governo e U.E.,
http://www.infoaut.org/index.php/blog/prima-pagina/item/9220-lampedusa-contestati-governo-e-ue
[5] Ministero della Difesa(13.12.2013): Mare Nostrum. La
Slovenia partecipa all'operazione umanitaria,
http://www.difesa.it/Primo_Piano/Pagine/Mare_Nostrum_Slovenia.aspx
[6] Ministro della Difesa (21.10.2013): Al via l'operazione
militare e umanitaria "Mare Nostrum",
http://www.difesa.it/Primo_Piano/Pagine/Via_Mare_Nostrum.aspx
[7] Aeronautica Militare (29.10.2013): Mare Nostrum: 1^
missione del Predator,
http://www.aeronautica.difesa.it/News/Pagine/MareNostrumIlPredatorAMindividuaunaimbarcazioneconpersoneabordo.aspx
[8] Ministero della Difesa (28.11.2013): Italia -- Libia:
accordi di cooperazione,
http://www.difesa.it/Primo_Piano/Pagine/Italia_Libia.aspx
[9] Giovanni Caprara(19.12.2013): Eurosur e Frontex: la
geostrategia dell'Unione europea, in Notizie Geopolitiche Quotidiane,
http://www.notiziegeopolitiche.net/?p=36959
[10] Ministero della Difesa (21.10.2013)
[11] Internazionale/TMNews(15.10.2013): Immigrati. Mauro:
cominciata l'operazione Mare Nostrum per salvare migranti,
http://www.internazionale.it/news/immigrati/2013/10/15/mauro-cominciata-loperazione-mare-nostrum-per-salvare-migranti/
[12] AFP(10.11.2013):'Mother ship' traffickers arrested off
Libya,
http://www.aljazeera.com/news/europe/2013/11/ship-traffickers-arrested-off-libya-201311101523733505.html
[13] Internazionale/TMNews(15.10.2013)
[14] Jørgen Carling: Migration Control and Migrant Fatalities at
the Spanish African Borders, International Migration Review, Vol. 41,
No. 2 (Summer, 2007), S.325
[15] Hirsi Jamaa and others v. Italy, Judgement from 23. February
2012, Application no. 27765/09,
http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-109231#{%22itemid%22:[%22001-109231%22]}
[16] Antonio Mazzeo(13.01.2014): Italia addestra militari libici
contro i migranti,
http://www.infoaut.org/index.php/blog/migranti/item/10268-italia-addestra-militari-libici-contro-i-migranti
[17] Fulvio Vassallo Paleologo(28.10.2013):Mare Nostrum -- Luci
ed ombre sulle modalità operative,
http://www.meltingpot.org/Mare-Nostrum-Luci-ed-ombre-sulle-modalita-operative.html#.UuEzLvswfGg
[18] Antonio Mazzeo(13.01.2014)
--
Informationsstelle Militarisierung (IMI) e. V.
Hechingerstrasse 203
72072 Tübingen
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