Sonntag, 16. Februar 2014

„DIESES POLITISCHE ENGAGEMENT IST LOGISCHE FOLGE MEINER GEWERKSCHAFTSARBEIT“

von Nick Dobbelaere und Jonathan Lefèvre übersetzt von Jens-Torsten Bohlke Brüssel, 6. Februar 2014, Solidair. – Einer von ihnen ist Limburger, der andere ist aus Lüttich. Gaby Colebunders (41) arbeitete als Fordwerker in Genk, Frédéric Gillot (52) arbeitete als Metallarbeiter bei Arcelor-Mittal in Lüttich. Gaby ist gewählter Gewerkschaftsvertrauensmann aus der christlichen Arbeiterbewegung hervorgegangenen Gewerkschaftsverband ACV, Frédéric ist gewählter Gewerkschaftsvertrauensmann des sozialistischen Gewerkschaftsverbandes CGTB. Gaby spricht niederländisch und italienisch, Fréderic spricht französisch und seinen wallonischen Dialekt. Gaby ist Spitzenkandidat der PVDA in der Provinz Limburg für das Parlament Flanderns, Frédéric ist Spitzenkandidat der PTB in der Provinz Lüttich für das Parlament der Wallonie. Beide kämpfen seit Jahrzehnten sehr aktiv für ihre Klasse, die Arbeiterklasse Belgiens. Interview-Termin für beide Spitzenkandidaten auf dem Parkplatz am Stadion des Fußballvereins Standard Lüttich. Gaby Colebunders als eifriger Unterstützer von KRC Genk meint scherzhaft: „Wir wollen doch nicht etwa ausgerechnet hier ein Foto machen?“ Zwischen den beiden miteinander eng befreundeten Arbeitern gibt es eine herzliche Begrüßung bei diesem Wiedersehen. Sie fallen sich in die Arme und klopfen sich beherzt auf die Schultern und reißen Witze. Wie wird wohl das Interview werden, wenn sie keine gemeinsame Sprache sprechen? Oder doch? „In der Fabrik von Chertal hängen die Sicherheitsvorschriften in mehreren Sprachen aus: italienisch, niederländisch, französisch …“, sagt Frédéric Gillot. „Bei Ford auch“, ergänzt Gaby Colebunders. „Probleme wird es zwischen uns nicht geben, wir sind sprachliche Vielfalt gewöhnt.“ Gut, dann mal los. Allons-y. Let’s go. Vamos. Andiamo. Rueghtuiesijrpoj. Erste Frage: WIE HABT IHR EUCH KENNENGELERNT? GABY: Wir hatten uns schon auf Demonstrationen gesehen. Aber richtig in Kontakt sind wir gekommen, als wir mit den Betriebsstilllegungen konfrontiert wurden. Als voriges Jahr im Februar die Demonstration gegen den Lohnstopp und für die Beibehaltung der gesetzlichen Koppelung der Lohnentwicklung an den jährlichen Inflationsindex in Brüssel lief, haben wir gemeinsam beschlossen, dass wir uns an die Spitze der Demonstration stellen. Meistens bilden die Gewerkschaftsvorsitzenden die Spitze einer von den Gewerkschaften organisierten Massendemonstration. Aber damals fanden wir, dass uns diese Rolle zusteht. Wir trugen zusammen Spruchbänder und führten den Kampf gemeinsam. Damit machten wir klar, dass wir über sprachliche Grenzen hinaus genau dieselben Probleme haben, denn in unseren beiden Fällen ging es um Werksschließungen, um kapitalistische Ausbeutung und Entlassungen. Wir waren Brüder im gleichen Kampf. FRÉDÉRIC: Es hat zwischen uns sofort gefunkt. Auch wenn er kein französisch spricht, ich kein niederländisch spreche. Die Sprache war noch nie unser Problem. Als wir miteinander losplauderten, benutzten wir mal ein paar italienische Brocken, dann wieder französische Wörter, anschließend auch niederländische Begriffe und auch englische Wendungen… GABY: Und Google-Translator nutzen wir viel, wenn wir uns mailen. FRÈDÈRIC: Auch zwischen den Fordwerkern und den Lütticher Stahlarbeitern ist eine außergewöhnliche Beziehung entstanden. Die Lütticher Kollegen und Genossen sprechen mich immer wieder darauf an. Sie sagen: ‘Weißt du, einige Leute wollen uns weismachen, dass die Flamen anders sind als wir Wallonen. Aber die Menschen vor Ort wissen, dass ein Flame genau so ein Arbeiter ist wie wir. Die jungen Leute bekommen den ganzen lieben langen Tag zu hören, dass die Flamen abweisend und die Wallonen umgänglich sind. Aber wenn sich alle kennenlernen, verschwinden diese Vorurteile. GABY: Die Klischees sind tot. Bei uns fragen die Arbeiter ständig nach, wann wir denn bitte endlich wieder unsere Kollegen in Lüttich unterstützen fahren. Wir in Genk stammen aus Bergarbeiterfamilien. Wir haben mit dem ganzen Getue um Flamen und Wallonen nichts am Hut. Bei Ford haben mehr als 40 Nationalitäten gearbeitet. WAS HEISST FÜR EUCH GEWERKSCHAFTSAKTIVISTEN GEWERKSCHAFTSARBEIT? GABY: Wir merken, dass die Gewerkschaften sich immer mehr hin zur Sozialpartnerschaft entwickeln. Wir wollen Gewerkschaften, die kämpferischer sind. Der Kampf lohnt sich. Davon versuche ich innerhalb der Gewerkschaften jedermann zu überzeugen. Und dies heißt für mich Gewerkschaftsarbeit. FRÉDÉRIC: Erstens heißt das instinktiv jede Art von Unrecht zu bekämpfen. Die Jüngeren bekommen in der Fabrik von den Älteren ihre Lektionen in Klassenbewusstsein. Nicht durch komplizierte Worte, denn nicht jedermann kennt die großen Theorien über den Klassenkampf aus den Büchern, sondern die alten Kollegen sagen es in ihrer einfachen Sprache. Das ist auch für mich die Basis gewesen. Danach folgt die aktive Teilnahme am gewerkschaftlichen Kampf. Ich wollte meine Kollegen vertreten, wie auch mich selbst und unsere gesellschaftliche Klasse, die Arbeiterklasse. Und dafür stehen wir Gewerkschaftsvertrauensleute nach meiner Meinung. Es geht da nicht nur um die konkreten Dinge wie Lohnerhöhungen usw., viel wichtiger ist die Bewußtseinsarbeit unter der arbeitenden Bevölkerung. … UND JETZT STEIGT IHR IN DIE POLITIK EIN… FRÉDÉRIC: Für mich ist mein politisches Engagement eigentlich eine logische Folge meiner Gewerkschaftsarbeit. Lediglich sind die anzupackenden Themen nun viel umfassender als die Stahlbranche. Als Gewerkschafter kämpfen wir in der Fabrik für unsere gesellschaftliche Klasse, mit unserem politischen Engagement machen wir dasselbe, aber im größeren Maßstab. Ich werde aber stets mit Herz und Nieren ein Gewerkschaftsmann bleiben. GABY: Für mich war der Übergang in die Politik ganz schwierig. Ich habe stets gesagt, dass ich als Gewerkschaftsmann sterben werde, dass ich niemals in die Politik einsteigen werde, weil ich ein Mann des Volkes bin und auch immer die Standpunkte der Menschen vertreten will. WARUM GEHT IHR IN DIE POLITIK, WÄHREND VIELE GEWERKSCHAFTER DER POLITIK DEN RÜCKEN KEHREN? FRÉDÉRIC: Das ist nicht nur wichtig, sondern sogar unvermeidlich. Ich engagiere mich nicht am gewerkschaftlichen Kampf, um da einen Euro Lohnerhöhung zu erkämpfen, oder um zu streiken. Ich tue es, um eine Perspektive für die Gesellschaft zu haben, und um die Gesellschaft zu verändern. Wer das angeht, der arbeitet politisch! Protestieren gegen viel zu wenig Steuerzahlung von Mittal lässt sich nicht ohne politische Argumente begründen. Wenn die wallonische Regierung beschließt, die Lütticher Stahlwirtschaft nicht zu retten, dann muss man sich damit politisch auseinandersetzen. GABY: Dem stimme ich voll zu. Als Gewerkschaftsvertrauensmann habe ich mich stets weit weg von der Politik gehalten. Aber es ist schon so, wie Fred sagt: Unsere gesamte Arbeit als Gewerkschaftsvertrauensleute auf der Arbeitsstelle ist politisch ausgerichtet. Als Gewerkschaftsvertrauensleute müssen wir immer mehr an der Politik arbeiten, denn nur so können wir die Dinge verändern. Aber natürlich ist das Parlament nicht der einzige Weg. Die Geschichte hat bewiesen, dass wir von den Arbeitsstellen aus viele Dinge verändern können. Aber hinter den kampfstarken Gewerkschaften muss eine kampfstarke Partei stehen. die die Gewerkschaften schützt. UND DIESE PARTEI IST DIE PVDA/PTB… GABY: Wir haben jahrelang gesucht, um eine Partei zu finden, die hinter unseren Kampfzielen steht. In Charleroi setzt sich die CGTB deutlich von der Sozialistischen Partei ab und sagt dies auch ganz öffentlich: „Ihr seid nicht länger unsere bevorzugten Partner.“ Geht dies dort ab, dann muss das auch in Flandern so laufen. Warum müssen wir als Gewerkschaft immer am Heck der Sozialistischen Partei in Flandern oder in der Wallonie hängen? Für uns kommt nichts Wichtiges dabei raus, wenn wir diese Parteien weiterhin unterstützen. Kein einziger Programmpunkt bei denen kommt von den Gewerkschaften. Wir müssen ständig den Kampf aufnehmen, und zwar nicht allein gegen die kapitalistische Gesellschaft, sondern auch gegen die heutigen politischen Parteien. FRÉDÉRIC: Wir wollen die Stimme des arbeitenden Volkes in das Parlament bringen, aber auch die Lösungen, die die Menschen nach vorn bringen. Bei der PVDA/PTB haben wir es nicht mit Politik über die Köpfe der Menschen hinweg zu tun, sondern es wird Politik mit den Menschen gemeinsam entwickelt. Wir diskutieren gemeinsam über die gesellschaftlichen Probleme, suchen und finden gemeinsam Lösungen. Das ist für mich das Sitzen im Parlament. Eine Botschaft verkünden, die zustande gekommen ist, nachdem eine große Gruppe von Menschen darüber nachgedacht hat. Weißt Du, wenn wir gewählt werden, dann ist es nicht die Stimme von Gaby, die da im Parlament erklingen wird, oder meine Stimme, oder die von Raoul Hedebouw, oder von Peter Mertens … nein, wir werden dort die Stimme der arbeitenden Menschen erklingen lassen. Dies tun wir derzeit schon in den Gemeinderäten. Mit unserem Grundsatz „Strasse – Rat – Strasse“ machen wir die Menschen zum Gegenstand der Politik. WIRD DAS NUN DIREKT ZU „STRASSE – PARLAMENT – STRASSE“? FRÈDÈRIC: Sicherlich. Man will uns weismachen, dass Politik schwierig ist. Aber das klappt nicht. Die Menschen wissen sehr gut, was für sie gut ist! Sie sind keine Idioten. Und auch, wenn wir gewählt sein werden, dann werden wir weiterhin auf die Strasse kommen, werden uns alle weiterhin auf den Demonstrationen und an den Streikposten zu sehen bekommen. Wir machen genauso mit wie die arbeitenden Menschen. Wir haben dieselben Probleme. Und das wird alles so bleiben. Und wenn wir gewählt sein werden, dann wird uns dies keinen Cent reicher machen. Wir werden noch immer denselben Arbeiterlohn haben. Das wird uns enorm von den anderen Politikern unterscheiden. GABY: Es gibt außer der PVDA/PTB keine einzige weitere Partei, die noch für den einfachen Menschen aufkommt, die den Arbeiter, den Invaliden, den Arbeitslosen vertritt. Vom Tag 1 der Streiks und Streikposten an, die fast 6 Monate gedauert haben, hat es stets nur eine einzige Partei gegeben, die ständig bei uns gewesen ist und ständig unsere Botschaft verkündet hat. Sie unterstützte uns und gab uns die richtigen Informationen. Als Gewerkschaftsvertrauensmann kennt man nur die Zahlen für den jeweiligen Betrieb, womit man noch keine Argumentation hat. Die PVDA/PTB hat eine eigene Studienabteilung, die uns die konkreten Zahlen und die Argumentation lieferte, damit wir unseren Kampf verstärken konnten. Ich bin sehr glücklich, dass mein guter Freund Fred die Kandidatenliste unserer Partei für das wallonische Parlament in Lüttich anführt. Und ich denke, dass es auch auf der flämischen Seite sehr wichtig ist, die Stimme des Volkes in das Parlament zu bekommen. DENKT IHR, DASS SIE AUF EUCH IM PARLAMENT WARTEN? GABY: Ich denke, dass sie dort mit uns rechnen müssen. Wir befassen uns mit einer Gesetzesvorlage eines Ford-Gesetzes, oder eines Mittal-Gesetzes, oder eines Caterpillar-Gesetzes, oder eines Metallergesetzes, wie immer man das nennen will. So ein Gesetz umfasst vier Dinge: 1. Entlassungsverbot für multinationale Konzerne, die umstrukturieren oder verlegen, um mehr Profit zu machen: 2. Verschärfung der Entlassungsgesetzgebung, so dass beispielsweise jede Entlassung dem Gericht vorzulegen ist; 3. Pflicht aller großen Firmen zur Rückzahlung aller empfangenen Zuwendungen im Fall der Standortschließung; 4. Alle Kollegen in Zulieferbetrieben und bei Subunternehmen, die durch eine Umstrukturierung eines großen Konzern betroffen sind, müssen in den Sozialplan des Konzerns mit aufgenommen werden. Letztgenannten Punkt haben wir durch Kampf bei der Schließung von Ford erreicht. Das ist etwas, worauf wir sehr stolz sind. Bei Ford hatte die Putzfrau einer externen Vertragsfirma denselben Sozialplan wie die Fordwerker. Das ist einzigartig in Belgien. Aber das muss ein Gesetz werden. Darum sagen wir: Das Parlament wartet nicht auf uns. Aber sie werden durch die Wahlen mit uns zu rechnen haben. Noch vor dem 25. Mai werden wir denen klar machen, was auf sie zukommt, und was das Volk will. IM PARLAMENT WERDET IHR MIT EINER FREMDEN BIS FEINDLICHEN UMGEBUNG KONFRONTIERT SEIN FRÉDÉRIC: Höre mal, die Umgebung, in der wir jetzt leben, ist auch feindlich. Du musst nicht denken, dass Gaby bei Ford Geschenke in den Schoß geworfen bekommt. Du musst nicht denken, dass ich bei Arcelor Mittal Geschenke bekomme. Unser tägliches Leben ist jetzt der Kampf, der Klassenkampf. Denkst Du, dass ich mit den Knien zittere, wenn ein paar Bürschchen mit Krawatte sich feindselig mir gegenüber aufspielen? Ich bin rund 30 Jahre Gewerkschaftsaktivist. Ich habe schlimmere Sachen mitgemacht. WAS HEISST, IHR KOMMT ALS ARBEITER IN EINEM MILIEU DER RECHTSANWÄLTE UND DOKTOREN ZU RECHT… FRÉDÉRIC (unterbricht): Aber wir sind doch die Anwälte und die Doktoren von der Straße! Nicht wir, sondern sie müssen sich schämen. Wir stellen noch einen Teil des Volkes dar, sie nicht. GABY: Okay, das Parlament ist eine ganz andere Kultur. Aber wir werden uns nicht anpassen. Denn wir sind die Stimme des Volkes. Wir wissen, wie das Leben hier verläuft. Denn wir haben mehr als 41.000 Menschen befragt, was sie für wichtig halten. Und wir wissen nun, dass die Armut die größte Sorge ist. Wenn ich mir die Standpunkte aller politischen Parteien anschaue, dann sehe ich nirgendwo etwas davon. Müssen wir uns an diese Parteien anpassen? IN LÜTTICH HAT DIE SOZIALISTISCHE PARTEI AUCH EINEN ARBEITER AUF IHRE LISTE GESETZT – SCHRECKT EUCH DAS NICHT AB? FRÉDÉRIC: Nein. Irgendwie bin ich da selbst stolz drauf. Das zeigt, dass die PVDA/PTB links nicht nur ausfüllt, sondern auch noch erweitert und verstärkt. Die PVDA/PTB braucht nur einen einzigen Arbeiter auf ihre Liste zu setzen, und hoppla, schon drei Tage später macht die Sozialistische Partei dasselbe! Unglaublich, wie mächtig wir schon sind, – stimmt’s?! Aber schreckt das die PVDA/PTB ab? Keinesfalls. Wir spielen auf einem ganz anderen Terrain. Wir sind eine Kampfpartei. Die Sozialistische Partei ist eine Machtpartei. Das ist eine ganz andere Dynamik. Auf der Ebene der Ideen steht die PVDA/PTB der Sozialistischen Partei diametral gegenüber. Aber das heißt nicht, dass die Wahlen ein Kampf zwischen Robert Rouzeeuw, dem Hauptvertrauensmann der CGTB bei Arcelor Mittal und auf der Liste der Sozialistischen Partei und Frédéric Gillot werden. Das ist Show, woran wir uns nicht beteiligen. IHR HABT BEIDE SCHWERE UMSTRUKTURIERUNGEN DURCHGEMACHT UND STANDET TAG UND NACH AUF STREIKPOSTEN – WIE WAR DAS KÖRPERLICH UND SEELISCH AUSZUHALTEN? GABY: Während der Streiks stand ich ca. 56 Stunden am Stück auf Streikposten. Vier Stunden Schlaf, dann hopps, wieder auf Streikposten. Meine Frau kam manchmal und brachte mir frische Unterwäsche zum Streikposten. Und war ich zuhause, dann glühten die Telefonkabel. Viele dachten, dass ich ausruhen werde, sobald die Vereinbarung erreicht ist. Aber ich mache ständig weiter. Ich bin alle sieben Tage der Woche politisch aktiv mit der Kampagne, die noch beginnen muss. Ich klammere mich an die Unterstützung aus dem Volk. Das hält mich aufrecht. FRÈDÈRIC: Wir haben natürlich auch unsere schwachen Momente. Wir sind nicht Superman! Und ja, wie hält man das durch? Das weiß ich manchmal selbst nicht. An manchen Tagen schlafe ich nicht oder esse kaum etwas. Ich habe nur eine Aufgabe, den Kampf zu führen. Und demgegenüber muss alles weichen. Ich muss die Menschen motivieren, damit sie kämpferisch bleiben. Dadurch habe ich wenig Raum, um mich mit mir selbst und meinen eigenen Zipperlein zu beschäftigen. GABY: Mental macht mich das alles nur noch stärker. Inzwischen sitzen so viele Eisenplatten in meinem Rücken von all den Messerstichen, die unsereiner in all den Jahren abgekriegt hat, dass es wohl nicht mehr viel gibt, was mich noch unterkriegen kann. EINIGE MENSCHEN GINGEN WOHL UNTER BEI ALL DEM, SO WIE ALAIN VIGNERON, DER ARBEITER VON ARCELOR MITTAL, SOWIE DUTZENDE MENSCHEN BEI FORD, DIE SICH DAS LEBEN GENOMMEN HABEN… FRÉDÉRIC: Das ist normal, nicht wahr? Auch wir Gewerkschaftsvertrauensleute halten es manchmal nicht mehr aus. Auch wir weinen manchmal. Für viele Menschen ist ihre Arbeit ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens. Wenn du dann noch mit ansiehst, welche Aufopferungen die Kollegen aufbringen … sowohl bei Ford Genk als auch bei Arcelor Mittal wurden die Menschen wie die Zitronen ausgequetscht. Erst lässt die Betriebsleitung uns Entlassungen und Lohnsenkungen schlucken, alles um die Fabrik zu erhalten. Und wenn dann am Ende ganze Abteilungen reihenweise gefeuert werden, dann soll man davon nicht verrückt werden und nicht durchdrehen. Bei solchen Momenten sind die Gewerkschaftsvertrauensleute ein zuhörendes Ohr. Ich gehe da regelmäßig mit einem Arbeiter einen Kaffee trinken, damit sich der Mensch seine Nöte von der Seele reden kann. Die Niederlassung, wo ich arbeite, ist seit einem Jahr dicht. Die Kollegen kommen nicht mehr auf jenes Betriebsgelände. Sie sitzen ganztags zuhause. Aber jede Woche organisiere ich Gewerkschaftsversammlungen in einem Raum in einem Café. Ich will die Verbindung zu ihnen nicht verlieren. Es bleibt wichtig, dass wir uns weiterhin sehen, dass wir uns austauschen und gemeinsam kämpfen. Aber es ist nicht unnormal, dass einige Kollegen das nicht mehr durchhalten können. Diese Menschen, die bei Ford, bei Caterpillar, bei Arcelor Mittal usw. auf die Straße gesetzt worden sind, das sind keine Idioten. Sie kennen die wirtschaftliche Realität. Und sie wissen, dass es nicht einfach ist, Arbeit zu finden. Und ja, das jagt Angst ein. DU HAST ES MITERLEBT, GABY, BEI FORD GENK SIND SEIT 2003 INSGESAMT 40 SELBSTMORDE ZU BETRAUERN GABY: Bei der Umstrukturierung von 2003 stand der einstige Hauptvertrauensmann von Renault Vilvoorde bei uns am Werkstor. Er sagte mir: ‘Gaby, pass auf. Du wirst sehen, dass es hier mehr Selbstmorde geben wird.’ Seitdem bin ich mit der Zahl der Selbstmorde selbst beschäftigt. In diesem Moment liegt die Zahl bei 41 Selbsttötungen, die geschehen konnten. Eigentlich müsste bei jeder Umstrukturierung ein Psychologe zur Verfügung stehen. Durch die Ärzte für das Volk haben wir jetzt einen Psychologen im Dienst, der sich nur den Menschen von Ford und Zulieferern widmet. Diese Frau hat alle Hände voll zu tun. Die meisten ihrer Patienten werden durch uns Gewerkschafter zu ihr gebracht. Sie kommen und öffnen ihr Herz vor uns. Wir kennen ihr Privatleben. Wir wissen, wo es sie drückt. Wir können ihre finanzielle Lage einschätzen. Wir erleben auch ihre Beziehungsprobleme mit. Ich bin einige Male mit einem Arbeiter zur Psychologin mitgegangen. Bei der ersten Sprechstunde sitze ich mit dabei. Ich bekomme SMS von Arbeitern, die das alles nicht länger durchstehen können. Eine SMS bekam ich von einem Kollegen, der am Kanal stand und sich da hineinstürzen wollte … manchmal sind wir die letzten Strohhalme, an die sich unsere Kollegen klammern. PROFITMACHENDE UNTERNEHMEN, DIE EINE SCHLIESSUNG BESCHLIESSEN, TRAGEN EINE ENORME VERANTWORTUNG, SAGST DU GABY: Ja, sie organisieren soziale Katastrophen … und ja, dann kann ich Álain Vigneron folgen, der in seinem Abschiedsbrief Arcelor Mittal einen Mörder nennt. Weißt du, ich fühle mich mittlerweile auch betroffen, wenn andere Firmen umstrukturieren und schließen. Vor eineinhalb Wochen machte Delicatesse Catering in Genk die Ankündigung, den Betrieb zu schließen. 125 Menschen werden auf die Strasse gesetzt. Man merkt, dass sie unsere Erfahrung gebrauchen können. Fred und ich sind auch einige Male bei Tessenderlo Chemie gewesen. Ihr Kampf dort ist ein Beispiel für uns. Wir finden es dann auch selbstverständlich, dass wir dabei sind, und dass wir sie anleiten und begleiten. Ich fühle mich nicht mehr nur als Gewerkschaftsvertrauensmann der Kollegen von Ford. Ich fühle mich jetzt als Gewerkschaftsvertrauensmann von allen Betriebsangehörigen, die in Not sind. Sie brauchen kein mitleidiges Schulterklopfen, sondern eine Faust, die für sie kämpft. WER SICHERLICH NICHT FÜR SIE KÄMPFT, DAS IST DIE REGIERUNG. ANSTATT DIE ARBEITSLOSIGKEIT ANZUPACKEN, SETZT DIE REGIERUNG WEITER AUF DIE JAGD AUF DIE ARBEITSLOSEN. FRÉDÉRIC: Die Regierung lässt nicht nur dabei nach, die Arbeitslosigkeit anzupacken. Sie verursacht dieses Problem auch selbst mit. Die Regierung verursacht die Vernichtung des Arbeitsmarkts. Ein Unternehmer, der nach Belgien kommt, fragt erst mal bei Flandern und der Wallonie nach, von wem er wohl das größte Geschenk bekommt. Er lässt die Regierungen von Flandern und der Wallonie sich gegenseitig dabei überbieten und wartet deren Gebote eine ganze Zeit lang ab. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die arbeitslosen Menschen ein Teil des Produktionsprozesses ausmachen. Sie bilden, was Marx „die Reservearmee des Kapitalismus“ nannte. Für den Unternehmer ist das ganz angenehm, denn er braucht nur zu sagen „Arbeite mehr und jammere nicht, sondern schau mal raus und sieh, wie viele Menschen bereit stehen, um deinen Arbeitsplatz einzunehmen“. Die Regierung spielt Gebiete und Regionen gegeneinander aus. Belgien muss konkurrenzfähig gegenüber den Nachbarländern sein, Flandern und Wallonie werden gegeneinander ausgespielt. Aber bringt man es auf den Punkt, dann kommt die arbeitende Bevölkerung dadurch unter Druck. Die arbeitenden Menschen sehen ihre Lebensbedingungen immer weiter zurückgedrängt. Quelle: http://archief.pvda.be/nieuws/artikel/dubbelinterview-arbeiders-gaby-colebunders-en-frederic-gillot-doen-gooi-naar-parlement.html

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