Sonntag, 16. Februar 2014
Pussy Riot: "Wir haben zwei Freundinnen verloren"
Wir, die anonymen Mitglieder von Pussy Riot, möchten uns bei all den Leuten bedanken, die uns unterstützt haben. Jenen, die die Freilassung unserer Mitglieder gefordert haben, die mit uns mitgefühlt haben und unsere Überzeugung teilen. Wir sind euch allen sehr dankbar. Wir wissen den Beitrag jedes und jeder Einzelnen zur Pussy Riot Kampagne sehr zu schätzen und haben tiefen Respekt davor.
Unsere gemeinsamen Bemühungen waren nicht umsonst: Wladimir Putin musste sich dem Druck der internationalen Gemeinschaft beugen und Nadia und Masha freilassen. Deshalb war der 23. Dezember ein Freudentag für uns – der Tag der Befreiung der politischen Gefangenen und der Befreiung von Pussy Riot.
Aber der Straferlass bedeutet keinesfalls das Ende unserer Wünsche. Wir fordern wirkliche Gerechtigkeit: die vollständige Rücknahme des Urteils und das Eingeständnis, dass der gesamte Strafprozess gegen Pussy Riot nicht gerechtfertigt war. Wir hoffen, dass am 21. Februar die Gerechtigkeit wieder hergestellt wird – dem Jahrestag unserer provozierenden Performance in der Christ-Erlöser-Kathedrale mit dem Song „Mother of God, put Putin away!“
Wir sind sehr froh über die Freilassung von Masha und Nadia. Wir sind stolz auf ihren Widerstand gegen die Schauprozesse, denen sie sich aussetzen mussten, und auf ihre Entschlossenheit, unter allen Umständen den Kampf fortzusetzen, den sie während ihrer Zeit in den Straflagern begonnen haben.
Bedauerlicherweise für uns, waren sie dort so sehr mit den Problemen russischer Gefängnisse beschäftigt, dass sie darüber die Bestrebungen und Ideale unserer Gruppe vollkommen vergessen haben – Feminismus, unabhängigen Widerstand, den Kampf gegen autoritäre Systeme und Personenkult. All die Dinge, die ihnen ihre unrechtmäßigeBestrafung eingebracht haben.
Es ist kein Geheimnis, dass Masha und Nadia kein Teil unserer Gruppe mehr sind und an unseren radikalen Aktionen nicht weiter teilnehmen werden. Sie engagieren sich jetzt in einem neuen Projekt, als institutionalisierte Verteidigerinnen von Häftlingsrechten. Aber diese Art der Vertretung ist mit radikalen politischen Statements und provokanten Kunstwerken kaum vereinbar – ebenso wenig wie Gender-Konformismus mit radikalem Feminismus vereinbar ist.
Das institutionalisierte Eintreten für andere kann es sich kaum erlauben, die fundamentalen Normen und Regeln zu kritisieren, die der modernen patriarchalen Gesellschaft zugrunde liegen. Als institutioneller Teil der Gesellschaft kann eine solche Interessenvertretung nicht mit dem Regelsystem der Gesellschaft brechen.
Ja, wir haben zwei Freundinnen verloren, zwei ideologische Teammitglieder, aber die Welt hat zwei starke Menschenrechtskämpferinnen gewonnen, die sich für die Rechte russischer Häftlinge einsetzen. Leider können wir ihnen nicht persönlich gratulieren, da sie den Kontakt mit uns verweigern. Aber wir verstehen ihre Entscheidung und wünschen ihnen auf diesem neuen Weg von Herzen alles Gute.
Im Moment werden wir Zeugen eines unfassbaren Widerspruchs: Obwohl Nadia und Masha im Fokus der Medien und der internationalen Gemeinschaft stehen und Heerscharen von Journalisten an ihren Lippen hängen, hört bisher niemand wirklich zu.
In fast jedem Interview wiederholen sie, dass sie die Gruppe verlassen haben, dass sie nicht mehr zu Pussy Riot gehören, dass sie in ihrem eigenen Namen handeln, dass sie an radikalen künstlerischen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen. Trotzdem steht in den Schlagzeilen immer noch überall unser Gruppenname, alle öffentlichen Auftritte der beiden werden als Pussy Riot Performances dargestellt, und ihr persönlicher Rückzug aus der Gruppe wird als das Ende des gesamten Projekts behandelt. Damit wird die Tatsache ignoriert, dass vor der Kanzel der Christ-Erlöser-Kathedrale nicht zwei, sondern fünf Frauen in Balaklavas standen und dass an der Performance auf dem Roten Platz acht Frauen teilnahmen.
Der Höhepunkt dieses Missverständnisses war die Erklärung von Amnesty International, bei dem Erscheinen von Masha und Nadia im Barclays Center in New York handele es sich um den ersten legalen Auftritt von Pussy Riot. Hinzu kommt, dass das Poster von diesem Event nicht die Namen von Nadia und Masha zeigte, sondern ein Bild von einem Mann in Balaklava mit E-Gitarre unter dem Namen Pussy Riot, während die Organisatoren die Menschen geschickt zum Kauf teurer Tickets animierten.
All das steht in extremem Widerspruch zu den ureigensten Prinzipien des Pussy Riot Kollektivs: Wir sind ein komplett weibliches, autonomes Kollektiv – kein Mann kann uns repräsentieren. Weder auf einem Poster, noch in der Realität. Wir sind antikapitalistisch – wir fordern von niemandem Geld, um unsere Kunst zu sehen, alle unsere Videos werden im Netz kostenlos zur Verfügung gestellt, die Zuschauer unserer Performances sind spontane Spaziergänger und wir verkaufen nie Tickets für unsere „Shows“.
Unsere Performances sind immer illegal, werden nur an unvorhersehbaren Orten aufgeführt und nur an öffentlichen Orten, die nicht für traditionelle Unterhaltung vorgesehen sind. Die Verbreitung unserer Videos erfolgt immer über kostenlose und unzensierte Medienkanäle. Wir sind anonym, weil wir uns gegen jeden Personenkult wenden und gegen Hierarchien, die durch Erscheinung, Alter und andere sichtbare soziale Attribute entstehen. Wir bedecken unsere Köpfe, weil wir gegen die Idee sind, mit weiblichen Gesichtern als Markenzeichen für irgendwelche Waren oder Dienstleistungen zu werben.
Die Vermischung des rebellischen Feminismus-Punk-Images mit der institutionalisierten Unterstützung für Häftlingsrechte schadet uns als Kollektiv und schadet auch der neuen Rolle, die Nadia und Masha übernommen haben.
Hört endlich auf sie!
Da sich Nadia und Masha entschieden haben, nicht mehr bei uns zu sein, bitten wir darum, ihre Entscheidung zu respektieren. Merkt euch: wir sind nicht mehr Nadia und Masha, sie sind nicht mehr Pussy Riot. Die Kampagne „Free Pussy Riot“ ist vorbei. Wir als Kunstkollektiv haben das moralische Recht, unsere künstlerische Praxis, unseren Namen und unsere äußerliche Identität zu bewahren und uns von anderen Organisationen abzugrenzen.
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