Freitag, 8. Juni 2012
Unsere Religionskritik ist Gesellschaftskritik
Von Klaus von Raussendorff1
Religion ist eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, die weltweit in einer verwirrenden Vielfalt in Erscheinung tritt. Einerseits suchen Milliarden Gläubige in dieser verkehrten kapitalistischen Welt in religiösen Vorstellungen geistige Orientierung und moralischen Rückhalt. Andererseits ist Religion nicht nur Vertröstungsmittel. Sie motiviert auch fortschrittliche politische Kämpfe. Dies haben in neuerer Zeit Christen beider Konfessionen im Widerstand gegen den Faschismus gezeigt. Auch die christliche Befreiungstheologie wird als emanzipatorische Bewegung gewürdigt. Eine vergleichbare Legitimität wird dem politischen Islam im Westen vielfach verweigert.Die angeblich aufgeklärte, säkulare Welt des Westens sieht sich bedroht. Kritisiert wird angeblich „Fundamentalismus jeglicher Art“. Konkret gemeint ist meist der muslimische Widerstand gegen Invasion und Besatzung durch NATO-Mächte. Deutschland ist ein weitgehend säkulares Land. Ein Viertel der Bevölkerung bezeichnet sich als konfessionslos. Da taugt die früher übliche Verklärung des christlichen Abendlands nur noch wenig zur propagandistischen Überhöhung der „deutschen Verantwortung in der Welt“. Heute soll das Vormachtstreben der hochkapitalistischen Länder mit der weltweiten, auch militärischen, Durchsetzung von „Menschenrechten“ gerechtfertigt werden. Der außenpolitischen Aggressivität entspricht ein krasser Irrationalismus. Neben säkularen Formen der ideologischen Bearbeitung der Massen ist wie zu allen Zeiten Religion immer noch ein massenwirksames Mittel der Entmündigung und Gängelung breiter Bevölkerungsschichten. All diese Erscheinungen, die in den Medien berichtet und durch Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und Religionssoziologie wissenschaftlich erforscht werden, sind Gegenstand marxistischer Religionskritik.Religionskritik ist nicht mit Atheismus identisch. Sie gibt es auch innerhalb der religiösen Systeme, z.B. im Judentum, Christentum, Islam etc. Dort tritt sie als „Dissidenz“, „Reformation“, „Erneuerung“ etc. in Erscheinung. Ferner gibt es im Dialog zwischen den religiösen Systemen, der vorgeblich dem „Frieden in der Welt“ dient, ein unvermeidbares Element der kritischen Distanzierung von anderen und der Profilierung der eigenen Gruppenidentität, wie beispielhaft vom Papst in seiner skandalträchtigen Regensburger Rede vorgeführt.Gerade auch diese innerreligiösen Differenzierungen sind Gegenstand marxistischer Religionskritik. Ihre Methode ist konsequent materialistisch. Sie geht von der realen gesellschaftlichen Entwicklung aus und sieht diese als letztlich bestimmend dafür an, wie sich die Formen der Religion entwickeln. Die Herangehensweise an all diese Phänomene auf der Grundlage des Historischen soll in folgenden sieben Thesen beschrieben werden.
Marxistische Religionskritik ist wesentlich revolutionär und bildet wie marxistische Theorie überhaupt eine dialektische Einheit mit der Praxis des politischen Kampfes für Demokratie und Sozialismus.
In der 1843 – 44 entstandenen Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“ formuliert der junge Marx die oft zitierte Erkenntnis: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ (Hegels Rechtsphilosophie, Einleitung MEW 1/385) Religionskritik leitet für Marx also unmittelbar in ein Programm revolutionärer politischer Praxis über und bildet wie alle spätere marxistische Theorie mit der revolutionären Praxis eine dialektische Einheit. In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickeln Marx und Engels ihren philosophisch-materialistische Begriff der Praxis insbesondere in der Auseinandersetzung über die Kritik der Religion mit den Junghegelianern (David Friedrich Strauss, Bruno Bauer, Max Stirner u.a.), die „meinten, dass die christliche Religion und die mit ihr verbundenen Ideen die entscheidende Ursache für die damals in Deutschland herrschenden reaktionären gesellschaftlichen Zustände seien. Sie schlussfolgerten, dass allein oder doch in erster Linie eine Kritik dieser Ideen notwendig sei, um die gegebenen gesellschaftlich-politischen Verhältnisse verändern zu können. (…) Marx und Engels waren durch ihre persönliche Kenntnis des Volkskampfes gegen die feudale und kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung sowie besonders durch ihre Parteinahme für das Proletariat auf die tatsächlichen Ursachen der gesellschaftlichen Entwicklung gestoßen.“ (Dieter Wittich, Art. „Praxis“ in Georg Klaus/Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch , Leipzig, 1969, Bd. 2, 865-866)
Indem der Mensch sich als Schöpfer seiner Lebensverhältnisse erfährt, wird die Gottesfrage praktisch unmöglich.Atheismus hat keinen Sinn mehr.
Sozialismus ist positives, nicht mehr durch Negation der Gottesvorstellung vermitteltes Selbstbewusstsein des Menschen. Bahnbrechend für die Entwicklung des historischen Materialismus waren in jener Zeit Ludwig Feuerbachs Untersuchungen über das Wesen der Religion und das Wesen des Christentums. Feuerbach überwandt die Auffassung des bürgerlichen Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der in der Religion nichts als Unwissenheit, Irrtum oder betrügerische Vorspiegelung sah.Für Feuerbach ist Religion eine Projektion des Wesens des Menschen. „Gott, so meint Feuerbach, ist nichts weiter als eine Schöpfung des Menschen selbst, ist Ausdruck seiner Abhängigkeit und seiner Ohnmacht gegenüber den Geschehnissen in der Natur.In der Phantasiegestalt Gottes idealisiert der Mensch sein eigenes Wollen und eigenes Tun und erwartet dann von seiner eigenen Schöpfung Hilfe.“ So der marxistische Religionswissenschaftler Fritz Schiff. Damit habe, so Schiff weiter, Feuerbach „die Frage der Existenz Gottes zum ersten Male dem Streit zwischen gläubigen und ungläubigen Metaphysikern entzogen und ihr in seiner ‚Menschkunde‘, seiner ,Anthropologie‘ eine wissenschaftliche Grundlage gegeben…“ (Fritz Schiff: Die Wandlungen der Gottesvorstellung, Urania-Freidenker-Verlag, Jena, 1931, S. 71) (ebenda) An Feuerbach kritisch anschließend und dessen Erkenntnisse weiterführend, hebt dann Marx den Gedanken hervor, dass die Wirklichkeit nicht wie bei Feuerbach nur „subjektiv“, „unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt“ werden muss, sondern gesellschaftlich „als menschliche sinnliche Tätigkeit“, als gesellschaftliche „Praxis“. (Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW 3/533 ff. Dietz Verlag Berlin, 1969)
Schon in der Antike gibt es religionskritische Einsichten. Und Gottlosigkeit, also Atheismus, der mit Religionskritik begrifflich nicht identisch ist, ist vermutlich so alt wie Religion selbst. Aber erst mit dem industriellen Kapitalismus reift ein tieferes Verständnis des Wesens des Menschen und der Religion.Über die entscheidende Voraussetzung dafür macht Marx eine wichtige Bemerkung in einer Fußnote im „Kapital“: „Die Technologie“, so Marx, „enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den unmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen.“ (Kapital I MEW 23/ 393, Fußn. 89) Erst mit dem Aufkommen des modernen Proletariats, des Betreibers des gigantischen Maschinenwesen des Kapitalismus, reift die volle Erkenntnis, dass die „Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen.“ Durch seinen „Entstehungsprozess“ ist der Mensch sich selbst „als Dasein der Natur… (und)… die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden.“ Damit ist „die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen … praktisch unmöglich geworden.“Daraus folgt für Marx: „Der Atheismus… hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus … ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewusstsein des Menschen.“ (Philos.-ökonom. Manuskripte MEW 40/546) Später wird Friedrich Engels in einem Brief an Eduard Bernstein vom Juli 1884 schreiben: „….und daß Atheismus nur eine Negation ausdrückt, haben wir selbst schon vor 40 Jahren … gesagt, nur mit dem Zusatz, daß der Atheismus als bloße Negation der Religion und stets sich auf Religion beziehend, ohne sie selbst nichts, und daher selbst noch eine Religion ist.“Und im Jahre 1874 beschreibt Engels die religionslose Mentalität deutscher Arbeiter so:“Von der großen Mehrzahl der deutschen sozialdemokratischen Arbeiter kann man sogar sagen, daß der Atheismus bei ihnen sich schon überlebt hat; dies rein negative Wort hat auf sie keine Anwendung mehr, indem sie nicht mehr in einem theoretischen, sondern nur noch in einem praktischen Gegensatz zum Gottesglauben stehn: Sie sind mit Gott einfach fertig, sie leben und denken in der wirklichen Welt und sind daher Materialisten.“ (Hans Lutter, Warum es keinen „Wissenschaftlichen Atheismus“ geben kann; in: Freidenker 1-08 März 2008, S.17-18)
Die marxistische Kritik der Religion ist Element der allgemeinen Kritik aller Formen eines „verkehrten“ gesellschaftlichen Bewusstseins.
Wenn Marx feststellt: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ (Hegels Rechtsphilosophie Einleitung MEW 1/378)“, so fordert er damit, das methodische Vorgehen der Religionskritik auf alle Erscheinungen der Ideologie und des gesellschaftlichen Überbaus anzuwenden. Die anthropologische Projektionstheorie Feuerbachs versucht, wie Marx feststellt, „das religiöse Wesen in das menschliche Wesen aufzulösen“.Das Neue bei Marx ist, dass er fordert, die Verdopplung der Welt in eine weltliche und eine religiöse „aus der Selbstzerrissenheit und (dem) Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären“ (Vierte Feuerbach-These MEW 3/6). Für Marx gilt es: „Nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven. Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (Hegels Rechtsphilosophie Einleitung MEW 1/379) Von der Kritik der Religion ausgehend, gelangt Marx zur Wurzel des Entfremdungsprozesses in der bürgerlichen Ökonomie: „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber.“ (Philos.-ökonom. Manuskripte MEW 40/511) Staat und Gesellschaft „produzieren die Religion“ als „ein verkehrtes Weltbewusstsein“, und zwar weil sie selbst „eine verkehrte Welt sind“. (Hegels Rechtsphilosophie Einleitung MEW 1/378) „Die religiöse Entfremdung als solche geht nur in dem Gebiet des Bewußtseins des menschlichen Innern vor, aber die ökonomische Entfremdung ist die des wirklichen Lebens.“ Die reale Selbstentfremdung betrifft alle Formen der gesellschaftlichen Praxis: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc. sind nur besondere Weisen der Produktion und fallen alle unter ihr allgemeines Gesetz.“ (Philos.-ökonom. Manuskripte MEW 40/537) Religion ist für Marx überall, wo „die Anerkennung des Menschen auf einem Umweg, durch einen Mittler“ erfolgt. Selbst wenn der Mensch „durch die Vermittlung des Staates sich als Atheisten erklärt“, (Judenfrage, MEW 1/353) entgeht er nicht der „Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise“, der „ökonomischen Trinität“, bestehend aus den „entfremdeten und irrationalen Formen von Kapital-Zins, Boden-Rente, Arbeit-Arbeitslohn“. Er unterliegt der „Personifizierung der Sachen und der Versachlichung der Produktionsverhältnisse.“ Wo das Kapital herrscht, herrscht die kapitalistische „Religion des Alltagslebens“. (Kapital III MEW 25/838).
Religion: „Seufzer“ – „Protestation“ – „Opium“.
Was also ist Religion? Die Antwort, die die marxistische Religionskritik zu geben vermag, beruht, wie bisher ausgeführt, auf einer Partei ergreifenden, revolutionären Herangehensweise (Ziffer 1), auf der Überwindung des Atheismus als einer von der Leugnung Gottes abhängigen, quasi-religiösen Ideologie (Ziffer 2) und auf der Aufdeckung der Wurzeln religiöser Entfremdung des Menschen in der kapitalistischen Ökonomie (Ziffer 3). Nur auf dieser Grundlage und in diesem Zusammenhang erschließt sich die differenzierte Auffassung der Religion, die der junge Marx in den folgenden oft zitierten Sätzen skizziert hat: „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen… Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind…. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1/378)
Die klassische Methode der materialistischen Religionskritik besteht in der Erklärung der religiösen Erscheinungen aus den jeweils konkreten Lebensverhältnissen.
Dass in der Religionskritik eine konsequent materialistische Methode anzuwenden ist, wurde eingangs bereits erwähnt. Marx unterscheidet in der schon erwähnten Fußnote im „Kapital“ zwei Methoden materialistischer Religionsanalyse, von denen er nur die eine als wirklich wissenschaftlich anerkennt. Als „unkritisch“ charakterisiert er eine „Religionsgeschichte“, die von der „materiellen Basis“ vom „unmittelbaren Produktionsprozess“ des menschlichen Lebens abstrahiert. Marx wendet sich gegen die „abstrakten und ideologischen Vorstellungen“ eines ungeschichtlichen „naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozess ausschließt“. Statt der Methode, die „durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen“ aufspürt, besteht für Marx „die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode“ darin, „umgekehrt, aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln.“ (Kapital I MEW 23/ 393, Fußn. 89) Bei der Anwendung dieser Methode auf die heutige Welt muss berücksichtigt werden, dass sich der Kapitalismus vollständig zu einem Weltsystem entwickelt hat, wie Marx und Engels bereits im Manifest der kommunistischen Partei von 1848 mit den Worten prognostizierten: „Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt. (…) An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander.“ (MEW 4/ 463, 466). Daher ist heute die Entwicklung der internationalen Politik, die Stellung der Nationen im internationalen Staatensystem und in der Weltwirtschaft in Betracht zu ziehen, wenn man die Kritik der religiösen Erscheinungen nach der Methode von Marx aus den heutigen „wirklichen Lebensverhältnissen“ entwickeln will. Dann erscheinen religiöse Strömungen unter dem Aspekt ihrer politischen Funktion im kapitalistischen Weltsystem: Der evangelikale Fundamentalismus der USA als Ideologie imperialistischer Weltherrschaft, die Politik des Vatikans als ideologische Dienstleistung für die kapitalistische „Globalisierung“, die Klerikalisierung des – aus Sicht des Judaismus als unjüdisch kritisierten – Zionismus als Ideologie des zionistischen Siedlerkolonialismus, der Wahabismus- Salafismus als Ideologie des Vormachtstrebens Saudi Arabiens in der muslimischen Welt, das staatshörige Kirchenwesen Deutschlands als ideologischer Stützpfeiler der „deutschen Verantwortung in der Welt.“In demselben weltpolitischen Zusam-menhang wird auch der ideologische Atheismus zum Gegenstand marxistischer Religionskritik, wenn er „säkularer“ Vorherrschaft des Westens das Wort redet oder gar im „Krieg gegen den Terror“ die anti-islamische Hetze durch „religionskritische“ Beiträge bereichert.
Die Religion hat Wurzeln im Denken und Wollen des Menschen. Sie „verschwindet“ nicht, sondern wird in anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins „aufgehoben“.
Religion hat, wie erwähnt (Ziffer 3) ökonomische Wurzeln in der kapitalistischen Entfremdung der Arbeit. Sie legitimiert Politik der herrschenden Klassen (Ziffer 5). Ist daraus nun zu schließen, dass Religion in dem Maße „verschwindet“, wie das Maschinensystem in Gemeineigentum überführt und die Produktion gesamtwirtschaftlich unter demokratischer Kontrolle geplant wird, d.h. Ausbeutung und Klassenherrschaft überwunden werden? Hier ist zu bedenken, dass Religion nicht ausschließlich auf materiell gesellschaftlichen Ursachen beruht.Die Religion hat, ähnlich dem philosophischen Idealismus, auch erkenntnistheoretische (gnoseologische) Wurzeln, wie der marxistische Philosoph R.O. Gropp anschaulich darstellt: „Da alles, was den Menschen in seinem Verhalten zur Umwelt bestimmt, in irgendeiner Form durch seinen Kopf hindurchgeht und hier als Gefühl, Gedanke und Wille bewusst wird, so liegt schon darin die Möglichkeit, dass er sein Denken und Wollen als den eigentlichen Ausgangspunkt seines Handelns ansieht, und es liegt nahe, dass er dementsprechend auch die Vorgänge in der Natur als Handlungen bzw. Wirkungen irgendwelcher geistiger Wesen oder eines allgemeinen ‚Weltwillens‘ und dergleichen betrachtet.“ (R.O. Gropp, Grundlagen des dialektischen Materialismus, Berlin, 1970, S. 19-20) Insbesondere Lenin hat diese gnoseologischen Wurzeln des philosophischen Idealismus und der Religion betont. Er bemerkt in seinem philosophischen Werk „Empiriokritizismus und Materialismus“: „…Zeichen oder Symbole sind auch in bezug auf eingebildete Gegenstände durchaus möglich, und jeder kennt Beispiele solcher Zeichen und Symbole.“ (LW 14/233) Das bedeutet, dass auch unter ausbeutungsfreien Gesellschaftsverhältnissen die Fähigkeit des Menschen nicht aufhören wird, Zeichen und Symbole im Bezug auf Gegenstände zu schaffen, die mit wirklichen Dingen nur eine eingebildete, fantastische Ähnlichkeit haben. Wie Lenin hervorhebt, sind auch religiöse Vorstellungen von der Erkenntnis der wirklichen Welt nicht völlig losgelöst: „….das Pfaffentum (= philosophischer Idealismus),“ so Lenin, „besitzt natürlich erkenntnistheoretische Wurzeln, ist nicht ohne Boden, es ist zwar unstreitig eine taube Blüte, aber eine taube Blüte, die wächst am lebendigen Baum der lebendigen, fruchtbaren, wahren, machtvollen, allgewaltigen, objektiven, absoluten menschlichen Erkenntnis.“ (LW 38/344)
Auch die sozialistische Arbeiterbewegung und die Befreiungsbewegungen haben sich Symbole kollektiven Bewusstseins geschaffen: „Rote Fahne“, „Roter Stern“, „Hammer und Sichel“, „Personenkult“ (Che Guevara) etc. Niemand würde auf den Gedanken kommen, diese Symbole und den Glauben an eine schon auf Erden befreite Menschheit für außermenschlichen Ursprungs zu halten. Dennoch wird dem Kommunismus von seinen Gegnern gelegentlich vorgeworfen, nicht nur gottlos, soll heißen, unmoralisch zu sein.Wo es auf irrationale Widersprüche nicht ankommt, ist auch der gegenteilige Vorwurf recht: Der Kommunismus sei eine neue Religion, ja sogar eine Kirche. Dem hat der italienische Arbeiterführer Palmiro Togliatti (1893-1964) schon vor Jahrzehnten entgegengehalten:“Das ist wahr in dem Sinne, dass wir einen Glauben haben, das heißt die Gewissheit, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, für die wir kämpfen, nicht nur eine Notwendigkeit ist, sondern eine Aufgabe, für die sich – mit der Gewissheit des Erfolges – der beste Teil der Menschheit einsetzt. Wir glauben, dass der Mensch Herr der Natur werden muss, was eine biblische Aufgabe ist, die von Gott selbst in der Schöpfungsgeschichte gestellt wurde. …Wir behaupten aber, dass der Mensch auch Herr der Gesellschaft und ihrer Entwicklung werden muss, indem er sie der Herrschaft des Egoismus, der Willkür, der Gewalttätigkeit, der Ausbeutung entzieht. Er muss eine Gesellschaft in der Dimension seiner eigenen Freiheit schaffen. Nur so kann man, glaube ich, zu jener vollen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit kommen, die das Ziel der gesamten Menschheitsgeschichte ist. Man kann daher sagen, dass unsere Überzeugung, wenn man so will, eine vollständige Religion vom Menschen ist. Für den Gläubigen muss außer der Natur und dem Menschen das Übernatürliche eingreifen, ohne das jedes menschliche Gebäude auf Sand gebaut ist… Aber hier fängt die philosophische Diskussion an, die wir nicht beginnen wollen.“ (Palmiro Togliatti, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1977, S. 683-684)
Eine andere Frage ist, welche Zukunft die Religion hat. Laut philosophischem Wörterbuch bedeutet Religion im Wortsinne: „Verehrung, heiliges Versprechen, Kult“. Religion ist, so das Lexikon: „Form des gesellschaftlichen Bewusstseins mit Weltanschauungscharakter, deren Besonderheit in einer verzerrten, verkehrten Widerspiegelung der Natur und Gesellschaft im Bewusstsein der Menschen besteht, dergestalt, dass die Erscheinungen der Natur und Gesellschaft auf übernatürliche Ursachen und Zwecke zurückgeführt bzw. als übernatürliche Vorgänge und Mächte vorgestellt werden, zu denen die Menschen in einem unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnis stehen und denen gegenüber sie sich zu ihrem Wohle zum Vollzug bestimmter Handlungen (wie Gebete, Opfer, Kult, Ritus usw.) verpflichtet fühlen,“ (Werner Schuffenhauer, Art. „Religion“ In: Georg Klaus, Manfred Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 939) Wie wir oben aber gesehen haben, betrachtet Marx alle Formen der gesellschaftlichen Praxis, „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst etc.“, als „nur besondere Weisen der Produktion“. Und er betont: sie „fallen alle unter ihr allgemeines Gesetz.“ Dieses Gesetz ist die „selbstzerrissene“ Wirklichkeit, die mit Notwendigkeit „verzerrtes“, „verkehrtes“ Bewusstsein hervorbringt. Insofern ist im Vergleich mit anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins die in der Lexikon-Definition hervorgehobene „Besonderheit“ des religiösen Bewusstseins nur eine relative. Das eigentlich Besondere des religiösen Bewusstseins besteht darin, dass es sich selbst ausdrücklich als durch übernatürliche Vorgänge und Mächte bewirkt und von diesen abhängig begreift. Dies ist in der Regel bei anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins nicht der Fall.Hinter die einmal errungene Erkenntnis, dass Gottesvorstellungen Erfindungen der menschlichen Fantasie sind, führt kein Weg zurück, jedenfalls nicht auf der Basis vernünftigen Denkens. Das bedeutet nicht, dass die Formen und Inhalte des religiösen Bewusstseins spurlos „verschwinden“. Dazu sind sie zu sehr mit Jahrtausenden menschlicher Geschichte verbunden. Sie sind Teil der allgemeinen kulturellen Traditionen der Menschheit und haben nationale Eigentümlichkeiten in je besonderer Weise geprägt. Als symbolische Schöpfungen der Fantasie bleiben sie in anderen Formen des gesellschaftlichen Bewusstseins „aufgehoben“. Sie werden zu „Stoffen“ künstlerischer und gedanklicher Bearbeitung in einem nichtreligiösen, humanen, freigeistigen Sinne.
Der politische Kampf für Frieden und Demokratie erfordert das politische Zusammengehen von Materialisten und Glaubenden.
Gegenwärtig hat Religion in vielen Ländern einen Einfluss auf die Politik, der noch vor wenigen Jahrzehnten unvorstellbar schien. Entgegen früheren Annahmen führte das westliche Modell der Modernisierung nicht zu einem angeblich unausweichlichen, gradlinigen Säkularisierungsprozess. Als zu kurzsichtig erwiesen sich Erwartungen, allein schon Kapitalismus, Wissenschaft und Technologie werde eine fortschreitende „Entzauberung“ und „Verdinglichung“ der Welt bewirken, den religiösen Glauben zur Privatsache machen und die Religion aus dem öffentlichen Leben verschwinden lassen.Gleichwohl handelt es bei dem viel diskutierten „Wiederaufleben der Religion“ nicht um eine Umkehr der langfristigen Tendenz der Verweltlichung des öffentlichen und privaten Lebens. Eher haben wir es wohl mit markanten Ausnahmen von den Säkularisierungstendenzen der Moderne zu tun, und zwar vor allem in USA und Israel sowie in der muslimischen Welt. In den USA mutierte seit den 70er Jahren der protestantische Fundamentalismus von einer theologischen Strömung zu einer Massenbewegung der äußersten Rechten. In Israel setzte nach dem Sieg von 1967, der theologisch als Wunder und „zweite Geburt“ gedeutet wurde, eine deutliche Klerikalisierung von Staat und Gesellschaft ein. Die islamische Revolution im Iran erfolgte zwölf Jahre später 1979, teilweise als Reaktion auf die israelische Eroberung der heiligen Stätten des Islam in Jerusalem. Hamas trat als Widerstandsbewegung gegen die israelische Besatzung erst mit der Intifada Ende 1988 als einflussreiche politische Kraft in Erscheinung. Der Aufstieg der Hezbollah im Libanon erfolgte im Zuge eines 18jährigen Befreiungskampfes bis zur Vertreibung der israelischen Besatzung aus Südlibanon im Mai 2000.
Internationale Konflikte erwiesen sich in den letzten Jahrzehnten wieder als eine wichtige Ursache für den Faktor Religion in der Politik. Samuel Huntington spricht von „Zusammenprall der Kulturen“ und liefert damit ein viel zitiertes Stichwort zur oberflächlichen Interpretation imperialistischer Gewaltpolitik. Es verdeckt die Klassengegensätze, die in religiöser Form zum Ausdruck kommen. Es verharmlost die säkularen Ideologien, mit denen heute Krieg und Interventionen westlicher Mächte bemäntelt werden. Es negiert die Ideale der französischen Revolution von Gleichheit und Brüderlichkeit. Es bagatellisiert die Botschaft von der Gleichheit aller Menschen, die auch den großen Religionen gemeinsam ist. Materialisten und Glaubende sind gefordert, sich über gemeinsame Ziele des Kampfes für Frieden und Demokratie zu verständigen. Dazu beizutragen ist heute eine der wichtigsten Aufgaben marxistischer Religionskritik. Dabei gilt es einen wichtigen Erfahrungsschatz kritisch aufzuarbeiten.
Nach der Niederlage der faschistischen Regimes und dem Zerfall der Kolonialreiche ergaben sich in vielen Ländern neue „Möglichkeiten für ein Bündnis der revolutionären Arbeitermassen mit breiten Massen von Gläubigen“, wie die Weltkonferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien 1969 erklärte. Man ging davon aus, dass im Rahmen „breit angelegter Kontakte und gemeinsamer Aktionen die große Masse der Gläubigen zur aktiven Kraft im antiimperialistischen Kampf und bei tiefgreifenden sozialen Umgestaltungen wird.“ (Internationale Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien Moskau 1969, Berlin 1969, S. 31) Warum es dennoch nicht im Weltmaßstab zu einem solchen Bündnis kam, muss hier unerörtert bleiben. Halten wir im Rahmen unseres Themas lediglich fest, dass Palmiro Togliatti, der im Hinblick auf die organisierte katholische Welt eine besondere Sensibilität für dieses Thema entwickelte, kurz vor seinem Tode 1964 gewarnt hatte: „Zu diesem Zweck dient uns die alte atheistische Propaganda überhaupt nicht.“Schon Lenin hatte „die Unterordnung des Kampfes gegen die Religion unter den Kampf für den Sozialismus“ gefordert und darauf aufmerksam gemacht, dass sowohl im Kulturkampf in Deutschland als auch im Kampf der bürgerlichen Republikaner Frankreichs gegen den Klerikalismus „die bürgerlichen Regierungen bewusst versuchten, durch einen quasiliberalen ‚Feldzug‘ gegen den Klerikalismus die Aufmerksamkeit der Massen vom Sozialismus abzulenken.“ (W.I. Lenin, Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion (26. Mai 1909) LW 15/412-14) Die damalige deutsche Sozialdemokratie hatte ganz in diesem Sinne reagiert, indem sie einen Redakteur entließ, der auf die antisemitische Propaganda des Hofpredigers Adolph Stoecker, mit der dieser die Arbeiter wieder für Monarchie und Christentum zurückgewinnen wollte, mit der Initiierung einer Kirchenaustrittskampagne antwortete.
(Johann Most – 1846-1906 – war Buchbinder, Redakteur der sozialdemokratischen Zeitung „Die Freiheit“, vor 1878 Reichstagsabgeordneter der SPD, Freidenker; 1883 veröffentlichte er ,Die Gottespest und die Religionsseuche‘; er emigrierte später in die USA; nach Ulrich Nanko, Nationalliberale, sozialistische und völkische Freidenker zwischen 1848 und 1881 – Zur Frühgeschichte des organisierten Atheismus in deutschsprachigen Raum, in: Faber Richard und Susanne Lanwerd (Hrsg.), Atheismus: Ideologie, Philsophie oder Mentalität? Würzburg, Königshausen und Neumann, 2006, S. 183-194)
Im Kalten Krieg stand beim Dialog zwischen Marxisten und Christen nicht zuletzt die Verhinderung des Atomkrieges auf der Tagesordnung, heute stellt der „Krieg gegen den (islamischen) Terror“ und die Hetze gegen den Islam eine besondere Herausforderung für die Friedenskräfte dar.
Quelle: freidenker.org («Freidenker» 2/2009)
1 Klaus von Raussendorff ist Vorsitzender des Deutschen Freidenkerverbandes (DFV) Bonn/Rhein-Siegund Referent des Verbandsvorstandes für Internationale Arbeit und Solidarität
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