Montag, 12. Juni 2017

Neoliberaler Antihumanismus (Hanns-Werner Heister)

Seine zweite Oper, »Lulu« – eine Verbindung von Frank Wedekinds Dramen »Der Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora«, komponierte Alban Berg mit Unterbrechungen von 1928 bis zu seinem frühen Tod 1935. Das Werk ist, wie Bergs Gesamtwerk, ein herausragender Versuch, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und des sich ausbreitenden Faschismus etwas von der klassischen Schönheit und Humanität zu retten. In den Dissonanzen wie im Wohllaut seiner avancierten Musiksprache sind der Schrecken über die Barbarei, die Angst vor dem Verlust sogar des sowieso noch nicht Verwirklichten und der Protest im Namen von Sinnlichkeit und Vernunft mitkomponiert.

Das Werk ist also sehr geeignet, das alles heute gemäß neoliberalem Zeitgeist im Zeitalter eines neuen Vorkriegs nicht nur zu »dekonstruieren«, sondern gleich zu destruieren.

Das Regie-Konzept Christoph Marthalers in Hamburg rechtfertigt sich mit einem Wedekind-Zitat. »Im Jahr 1912 schrieb Frank Wedekind folgenden Satz über seine Tragödie Lulu (›Erdgeist‹): ›Es kam mir bei der Darstellung um [sic] Ausschaltung all der Begriffe an, die logisch unhaltbar sind wie: Liebe, Treue, Dankbarkeit.‹« Erstens schrieb Wedekind das wohl schon 1893/1894, zweitens ist das eine tendenziöse Auswahl aus Wedekinds Selbstkommentaren, denn nach einem weiteren Satz betont er die Bedeutung der Sprache: »Bei der Schilderung der Lulu kam es mir darauf an, den Körper eines Weibes durch die Worte, die es spricht, zu zeichnen.«

Die Regie, der die Kostümbildnerin beipflichtet, mag Menschen nicht. Die Männer treten entwürdigend in langen Unterhosen oder mit Sockenhaltern und ähnlichem auf, die Frauen in Retro-Fähnchen. Besonders bösartig und dumm ist die Veräppelung des Komponisten Alwa Schön als Punk mit orangeroter Pumuckl-Perücke – keine Ahnung oder keine Rücksicht darauf, dass Alban Berg darin auch ein Selbstporträt komponierte, nicht ohne eine gewisse selbstironische Distanz. Auch da ist gegen die Musik inszeniert: Einem solchen Clown kann man die Musik, die Alban Berg für seinen Alwa komponiert hat, nicht abnehmen. Die Bühnenausstattung ist betont hässlich. Stapel-Stühle werden hingestellt, ein glitternd-schäbiger Bühnenvorhang samt Bühnchen auf der Bühne, die selbstzweckhaft da sind, und so weiter. Der Leitlinie des unterstellten Sprachlogik- und Kommunikationsverlusts folgend, gibt es statt Gesten und sprechenden Körperbewegungen Rumgehampel.

TänzerInnen firmieren laut Programmzettel als »Darsteller«. Diese Rollenbezeichnung schließt »geschlechtsneutral« weibliche Tänzer ein. Sie hüpfen immer wieder auf der Bühne herum und stellen allenfalls Doppel-Double Lulus dar. Dennoch ist Marthaler hier nun zwiefach auf der Höhe der Zeit. Denn Bewegung muss sein für einen gesunden Volkskörper; dafür wird die Schaubühne als moralische Anstalt reaktiviert. Und unter Mimesis-Aspekten ist das eine zeitkonforme Darstellung des Tourette-Syndroms oder der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Wie unbekümmert unwissend die Regie mit der szenischen Aktion, dem Wort und beider Zusammenhang mit der Musik umgeht, zeigt die Szene, in der Lulu ihren Gatten Dr. Schön erschießt. Dr. Schön versucht, Lulu zum Selbstmord zu zwingen. Daraufhin singt Lulu als Verteidigung, Rechtfertigung und Verweigerung das eigens so bezeichnete »Lied der Lulu«. Berg hebt es durch die Quasi-Gattungsbezeichnung »Lied« und das Innehalten der Handlung hervor, fast so, als folgte er dem Brechtschen »Songprinzip«. Danach nochmals eine kurze Intervention Dr. Schöns, dann erschießt Lulu ihn, und gleichzeitig erklingen im Orchester die Schüsse im Leitrhythmus des Todesmotivs.

In Hamburg dagegen passiert anderes. Kurze Auseinandersetzung, dann nimmt Lulu den Revolver und erschießt Dr. Schön. Dieser sinkt hernieder, umnachtet, aber ohne die tristaneske »Nacht der Liebe«, liegt ihr zu Füßen und leckt diese. Währenddessen singt sie besagtes Lied. Die Schüsse danach gehen, wie die Inszenierung, ins Leere. Denn da in dieser Fehlinszenierung Lulu Dr. Schön schon umgenietet hat, bleibt nichts anderes als wieder Gehampel; sie zuckt rhythmisch fünfmal zusammen, als hätten die Schüsse sie getroffen. Letzteres wäre immerhin eine Interpretation, hielte sich die Regie an den kohärenten und logischen dramatisch-musikalischen Ablauf. Das Füßelecken ließe sich, wenn es denn sein muss, auch dabei unterbringen.

Ein charakteristisches Detail widerlegt einmal mehr die Unterstellung, es gehe beim »Regietheater« um die Verbindung zwischen historischem Werk und Gegenwart, was der Hochkunst helfe, unten, beim Publikum, anzukommen. Im Paris-Bild des III. Akts (III/1) zeichnen Wedekind wie Berg kritisch bis fast karikaturistisch gehobenes Gesellschaftsleben. In diesem mischen sich Ober- und Unterklassengesindel, Bankier und Zuhälter, problemlos miteinander. Dabei gibt es zwei große aufeinander bezogene Szenen. Es geht um Börsenspekulation, eine Blase mit »Jungfrau-Aktien« – so Wedekinds kalauernde Bezeichnung. Ein erstes Sextett singt von der Hausse »Alle Welt gewinnt«, ein zweites von der Baisse »Alle Welt verliert«. Da wäre nun nicht einmal eine regieliche Aktualisierung vonnöten gewesen. Die deutliche Sprache des Werks wäre freilich gerade für ein hanseatisches »wohlgesittetes« (so ein spöttisch-kritisches Adjektiv im Prolog) Publikum und überhaupt in einer »marktkonformen Demokratie« eine zu kritische Zumutung. Stattdessen pickt sich die Regie nur die Szenen um den Mädchenhändler Casti-Piani heraus, der Lulu erpresst. Das ist, um gerecht zu sein, dadurch gerechtfertigt, dass diesem Händler die Violine als eine Art Leitinstrument zugeordnet ist. Die tiefere Wahrheit liegt hier in der Analogie zwischen dem Verhältnis dieses Spezialbedarf-Händlers zu Lulu und dem Verhältnis der Regie zu »Lulu«.


Hamburgische Staatsoper. Christoph Marthalers Lulu nach Alban Bergs gleichnamiger Oper. Musikalische Leitung: Kent Nagano, Inszenierung: Christoph Marthaler, Bühnenbild und Kostüme: Anna Viebrock; Lulu Barbara Hannigan, Gräfin Geschwitz Anne Sofie von Otter, Dr. Schön/Jack the Ripper Jochen Schmeckenbecher, Alwa Matthias Klink, Schigolch Sergei Leiferkus und andere.

Hanns-Werner Heister, *1946, Prof. i. R., Wissenschaftler mit Schwerpunkt Musik; jüngste Veröff.: (Hg.) »Schichten, Geschichte, System. Geologische Metaphern und Denkformen in den Kunstwissenschaften« (ZWISCHEN/TÖNE. Neue Folge – Bd. 6), Weidler Buchverlag, Berlin 2016. Weiteres unter www.Hanns-Werner-Heister.de und https://musikkunstscience.wordpress.com/.

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