Von Hazel Zamora Mendieta
(Mexiko-Stadt, 17. Februar 2017, cimacnoticias).-
Vor einem Jahr haben Familienangehörige von Feminizid-Opfern und
zivile Organisationen im Bundesstaat Mexiko (Estado de México) die
erste Bürgerliche Beobachtungsstelle gegen geschlechtsspezifische
Gewalt, Verschwindenlassen und Feminizid im Bundesstaat Mexiko
(Observatorio Ciudadano en contra de la Violencia de Género,
Desaparición y Feminicidio), kurz: Mexfem, gegründet. Hintergrund
ist die institutionelle Leere und Ineffizienz des Justizsystems
und Rechtsstaates, die den Bundesstaat Mexiko zum gefährlichsten
Bundesstaat für Frauen machen.
Mexfem wurde am 28. Januar 2016 gegründet und ist die erste
Initiative dieser Art im Bundesstaat Mexiko, wo zwischen 2005
und 2010 laut offiziellen Zahlen 922 Frauen ermordet wurden. Ein
Problem, dessen Ausmass sogar den Feminizid in Ciudad Juárez in
den 90er Jahren übertrifft.
Familienangehörige und Feministinnen schliessen sich
zusammen
Mexfem gründet sich auf Erfahrungen von Familien, in denen ein
Feminizid stattgefunden hat – der Verlust einer Schwester,
Tochter, einer Freundin, Nachbarin oder Bekannten – , die bei
den bundesstaatlichen Einrichtungen keine Hilfe fanden oder
keinen Ort wussten, an den sie sich hätten wenden können. “Als
wir die Familien sahen, die unermüdlich Gerechtigkeit fordern
und die sich an andere Orte und Instanzen wenden müssen, um
Unterstützung zu erhalten, haben sich viele von uns
Feministinnen zusammengeschlossen, unter ihnen auch
Familienangehörige von Feminizid-Opfern”, schilderte Yuritzi
Hernández, institutionelle Koordinatorin der Beobachtungsstelle,
im Interview mit Cimacnoticias.
Anlässlich seines einjährigen Bestehens präsentierte Mexfem
seinen ersten vorläufigen Bericht. Im Jahr 2016 wurden demnach
die folgenden Feminizidfälle verzeichnet: 39 Fälle in Ecatepec,
17 in Naucalpan, 15 in Chilmahuacán, 13 in Chalco, zwölf in
Nezahualcóyotl und elf in Tultitlán. In den Gemeinden Nicolás
Romero und Tlalnepantla wurden neun Fälle gezählt, in Cuatitlán
Izcalli sieben.
Zudem hat sich Mexfem um 200 Frauen gekümmert, die verschiedene
Formen von Gewalt erfahren haben, darunter 130 Fälle von
körperlicher und sexueller Gewalt. “Ich hätte nicht gedacht,
dass es so viele Frauen waren. 200 behandelte Fälle in einem
Jahr, darunter alle Formen von Gewalt, das ist furchtbar und es
ist nicht zu glauben, dass es niemanden gibt, der den Frauen
helfen will”, so Yuritzi Hernández. Ausserdem hat Mexfem in 50
Fällen rechtliche Unterstützung geleistet, indem es die Opfer
zur Staatsanwaltschaft (Ministerio Público) begleitet hat und
heute bei der Aufklärung von 13 Fällen von gewaltsamen
Verschwindenlassen beteiligt ist.
Untätigkeit der Behörden drängt zum zivilen Handeln
Das Leben von Viviana Muciño, heute Mitglied von Mexfem, nahm
2004 eine radikale Wendung, als ihre Schwester von deren Partner
in Cuautitlán Izcalli umgebracht wurde. Der Fall ist ein
typisches Beispiel für die Korruption, die im Bundesstaat
herrscht. Viviana kennt sehr gut die Hindernisse und
Straflosigkeit, auf welche die Familien treffen. Der 13 Jahre
lange Kampf hat ihr die nötige Erfahrung gegeben und sie
beschloss daher, etwas zu tun, damit sich solch ein Fall nicht
in anderen Familien wiederholt. “Wir haben gemerkt, dass es
nötig war, etwas im Bundesstaat Mexiko zu tun, denn die Fälle
wurden von den Behörden nicht verfolgt und es herrschte
weiterhin Straflosigkeit”, schilderte Muciño.
Muciño gab ihre Leidenschaft für die Gastronomie auf und begann
sich um die Kinder ihrer Schwester zu kümmern. Heute ist sie
Mitglied bei Mexfem und koordiniert den Bereich der
Opferbetreuung. Von dort aus führt sie den Kampf um
Gerechtigkeit für ihre Schwester weiter und denkt über eine
Spezialisierung als Gutachterin nach.
Die Beobachtungsstelle besteht aus einer interdisziplinären
Gruppe von zehn Personen; dazu gehören Familienangehörige von
Opfern, Feministinnen, Menschenrechtsverteidiger*innen und
Fachleute aus den Sozialwissenschaften mit Erfahrung im Bereich
der Verteidigung, rechtlichen Unterstützung, Prävention und
psychosozialem Eingreifen bei geschlechtsspezifischer Gewalt.
Alle haben dabei eine persönliche Geschichte, die sie hin zum
Aktivismus und der Verteidigung der Rechte von Frauen führte.
Warum eine Beobachtungsstelle?
Vor der Gründung von Mexfem gab es im Bundesstaat Mexiko nur
verstreut Organisationen, die gegen geschlechtsspezifische
Gewalt vorgingen; sie schafften es jedoch nicht, eine gemeinsame
Bewegung zu bilden, erklärte Viviana Muciño gegenüber
Cimacnoticias. Dabei war es die Nationale [Bürgerliche]
Beobachtungsstelle für Feminizid OCNF (Observatorio Ciudadano
Nacional de Feminicidios (s. weiter unten, Anm. d. Red.), welche
die dortigen Fälle erfasste. Allerdings sei es nötig gewesen,
sich im Bundesstaat zu organisieren, die Verbrechen anzuzeigen
und die Gewalt sichtbar zu machen, die dort täglich geschieht.
Daher, glaubt Yuritzi Hernández, “war es wichtig, eine
Beobachtungsstelle und nicht nur einer Organisation
einzurichten”, um sich dem Problem im Bundesstaat mit seinen 125
Gemeinden, dem Ballungsgebiet um Toluca und als Teil der
Metropolregion von Mexiko-Stadt” tatsächlich annehmen und darauf
einwirken zu können.
Die heutigen Mitglieder von Mexfem lernten sich während der
Antragsphase und Genehmigung des Schutzmechanismus für
geschlechtsspezifische Gewalt AVG (Alerta de Violencia de
Género) im Bundesstaat Mexiko kennen; ein Prozess, der 2010
begann. Damals lehnte das staatliche System für Prävention,
Versorgung, Bestrafung und Auslöschen von Gewalt gegen Frauen
SNAPASEVM (Sistema Nacional para Prevenir, Atender, Sancionar y
Erradicar la Violencia contra las mujeres) den Einsatz des
Schutzmechanismus ab.
Nach jahrelangem sozialen Druck gab der Gouverneur Eruviel
Ávila Villegas im Jahr 2015 schliesslich das Inkrafttreten des
AVG bekannt. Zu diesem Zeitpunkt sei dann auch beschlossen
worden, das Observatorium zu gründen, berichtet Viviana.
Allerdings mussten sie bald feststellen, “dass trotz des
Schutzmechanismus die gleichen Dinge passieren. Noch immer
herrscht Straflosigkeit; es wurden keine Fortschritte gemacht.”
Wenn Mexfem im Bundesstaat unterwegs ist, “sagt man uns, wir
seien wie ein Licht im Dunkel”, berichtet Yuritzi. Denn trotz
aller Unterschiede hätten die Gemeinden eines gemeinsam: die
Gewalt gegen Frauen.
Mexfem zieht Bilanz: Zahlen steigen weiter
Als Ciudad Juárez zum Bezugspunkt für Feminizide wurde,
forderte diese Art der Gewalt im Bundesstaat Mexiko bereits
zehnmal mehr Todesopfer. Jedoch wurden die Verbrechen von
niemandem dokumentiert, wie die journalistische Recherche von
Humberto Padgett, “Las muertas del Estado” (“Die Toten des
Staates”), zeigt.
Im Jahr 2000 erstellte die Mexikanische Kommission zur
Verteidigung und Förderung von Menschenrechten CMDPDH (Comisión
Mexicana de Defensa y Promoción de los Derechos Humanos) den
Bericht “Violencia contra las mujeres en el Estado de México”
(“Gewalt gegen Frauen im Bundesstaat Mexiko”) und begann
daraufhin mit der systematischem Erfassung von
geschlechtsspezifischer Gewalt im dortigen Gebiet.
Etwa zur gleichen Zeit gelang es einer Studie der
Abgeordnetenkammer, einen wichtigen Meilenstein bei der
gesellschaftlichen Relevanz dieser Problematik zu setzen. Die
Studie “Violencia Feminicida en 10 Entidades de la República
Mexicana” (“Gewalt durch Feminizid in zehn Regierungsgebieten
der Republik Mexiko”) gelangte zu dem Ergebnis, dass zwischen
2000 und 2003 insgesamt 1288 Frauen im Bundesstaat Mexiko
ermordet wurden, womit das Gebiet die höchsten Zahlen auf
nationaler Ebene aufweist.
Die Nationale Bürgerliche Beobachtungsstelle für Feminizid OCNF begann 2007 die Fälle zu erfassen: zwischen 2007 und 2009 wurden 542 Morde an Mädchen und Frauen in Mexiko gezählt. In den folgenden Jahren wichen die Zahlen der zivilen Organisationen von den offiziellen Zahlen ab. Nach Meinung der Aktivist*innen wolle die Regierung so die Situation verharmlosen.
Die Nationale Bürgerliche Beobachtungsstelle für Feminizid OCNF begann 2007 die Fälle zu erfassen: zwischen 2007 und 2009 wurden 542 Morde an Mädchen und Frauen in Mexiko gezählt. In den folgenden Jahren wichen die Zahlen der zivilen Organisationen von den offiziellen Zahlen ab. Nach Meinung der Aktivist*innen wolle die Regierung so die Situation verharmlosen.
Im Jahr 2015 gab es laut Mexfem 79 Feminizidfälle im
Bundesstaat, im Folgejahr erhöhte sich die Zahl auf 269
registrierte Fälle. Die Bilanz der Verbrechen steigt weiter: Als
Ende Januar der vorläufige Bericht bekanntgegeben wurde, zählte
die Beobachtungsstelle bereits 17 Fälle.
Ein
Jahr Mexfem: Ziviler Einsatz gegen Feminizid im Bundesstaat
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