Dienstag, 22. Dezember 2015

Mord vor laufender Kamera


Mitte Oktober wurde die linke Aktivistin Dilek Dogan in ihrer Wohnung in Istanbul bei einer Polizeirazzia erschossen. Ein geleaktes Video dokumentiert nun die Tat

Von Peter Schaber
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Polizeivideo von der Razzia und den Todesschüssen auf Dilek Dogan Mitte Oktober in Istanbul
Geleaktes Polizeivideo: kurzlink.de/dilek
Am 18. Oktober starb im mehrheitlich von Aleviten bewohnten Istanbuler Stadtteil Kücük Armutlu eine 25 Jahre junge Sozialistin. Dilek Dogan wurde während einer Razzia, die sich gegen die vom türkischen Staat verfolgte Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP-C) richtete, von Polizeikugeln getroffen, sie erlag ihren schweren Verletzungen. Unmittelbar nach der Tat sprach ihr älterer Bruder, Emrah Dogan, von einer gezielten Hinrichtung. Polizeisprecher und regierungsnahe Medien dagegen stilisierten die junge Aktivistin zu einer gefährlichen potentiellen »Selbstmordattentäterin«, einige sprachen von einer »Schießerei«. Der Schütze, Yüksel M., behauptete, es sei zu »Auseinandersetzungen« gekommen, in deren Verlauf er aus Notwehr geschossen habe. Diese Versionen können nun als widerlegt gelten. Ein aus einer Gerichtsakte geleaktes Video, das am Wochenende im Internet publik gemacht wurde, dokumentiert die kritischen Minuten der Hausdurchsuchung. Schwerbewaffnete Polizisten einer Sondereinsatzeinheit dringen in das kleine Haus der Familie Dogan ein. Zu sehen ist, wie ein Beamter in einem der Räume Möbel und Betten durchsucht, während andere im Flur mit Dilek, ihrer Mutter und ihrem Bruder reden. Den Schuss selbst sieht man nicht. Aber: Die Lage ist nicht angespannt. Man hört, wie der Polizist Yüksel M. die 25jährige anherrscht: »Was habe ich dir gesagt?« Sie fragt: »Was machst du da?« Dann fällt ein Schuss. Die Kamera schwenkt zum Geschehen, Dilek Dogans Mutter und Bruder schreien, Dogan liegt getroffen am Boden. Irgendeine »Auseinandersetzung« oder gar »Schießerei« war der Tat nicht vorhergegangen.
Das Video legt nahe, dass es sich bei der Erschießung Dilek Dogans um einen kaltblütigen Mord gehandelt hat. Dass der türkische Staat vor außergerichtlichen Hinrichtungen nicht zurückschreckt, stellt er derzeit täglich in den kurdischen Regionen des Landes unter Beweis. Auf offener Straße werden protestierende Jugendliche von Heckenschützen getötet und posthum einfach zu »PKK-Kämpfern« erklärt. Über einhundert dieser angeblichen Kombattanten habe man in den letzten Tagen erschossen, ließ Ankara diese Woche stolz verlautbaren.
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Beisetzung von Dilek Dogan in Istanbul (26. Oktober 2015)
Parallelen weist der Mord an Dilek Dogan zu der Erschießung von Günay Özarslan im Juli 2015 auf. Özarslan, wie Dogan Alevitin mit kurdischen Wurzeln, war bei einer der zahlreichen Operationen gegen vermeintliche DHKP-C-Aktivisten in ihrer Wohnung erschossen worden. Die Polizei behauptete ebenfalls, sie habe bewaffneten Widerstand geleistet. Und auch hier äußerten Anwalts- und Menschenrechtsorganisationen bald Zweifel an der offiziellen Version des Tathergangs.
Internationaler Protest war und ist nicht zu vernehmen. Einen Tag nach der Ermordung Dogans war Angela Merkel bei Recep Tayyip Erdogan. Die Kanzlerin hatte dem Autokraten ein Angebot zu machen: Drei Milliarden Euro soll Erdogan bekommen, wenn er die Grenzen für Flüchtlinge schließt. Angela Merkel schüttelte seine Hand, lächelte freundlich, über Dilek Dogan kein Wort. Unter Partnern macht man das so.

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