Dienstag, 22. Dezember 2015

"Die Geschichte Venezuelas ist nicht zu Ende"


Der Historiker, Autor und Dramaturg aus Venezuela gibt im Interview mit "Cubadebate" seine erste Einschätzung des Wahlergebnisses vom 6. Dezember
Volksversammlung vor dem Präsidentenpalast mit Nicolás Maduro drei Tage nach der Wahlniederlage der Chavisten
Volksversammlung vor dem Präsidentenpalast mit Nicolás Maduro drei Tage nach der Wahlniederlage der Chavisten

Welche symbolische Bedeutung könnte es haben, dass genau auf den Tag 17 Jahre nach dem ersten Wahlsieg von Hugo Chávez, die venezolanische Opposition die Parlamentswahlen gewann? Welche Gründe haben Ihrer Einschätzung nach zu diesem Ergebnis geführt?

Was die symbolische Bedeutung betrifft, glaube ich nicht, dass sie besonders groß ist - ich habe mich gar nicht an diesen Jahrestag erinnert. Die Gründe für dieses Wahlergebnis sind vermutlich die Unwirksamkeit des Kampfes der Regierung gegen Korruption, Spekulation und das Horten von Waren. Mehr als zwei Jahre wurde das venezolanische Volk einem Wirtschaftskrieg unterworfen, wie er schon Salvador Allende erklärt wurde.
Die Kapitalisten haben Dollar zu Vorzugspreisen von der Regierung erhalten, um Versorgungsgüter zu importieren und sie haben schließlich gar nichts importiert, oder sind untergetaucht in Briefkastenfirmen. Die Regierung hat keine Maßnahmen getroffen, um diese Handlungsweisen drastisch zu bestrafen.
Vielleicht hat sich ein Teil der Bevölkerung im Stich gelassen gefühlt und entschied sich, nicht für jene zu stimmen, die sie da vermeintlich alleine gelassen haben. Es ist angebracht darauf hinzuweisen, das die Wahlergebnisse kein großes Wachstum der Rechten wiederspiegeln. Wenn wir die Präsidentschaftswahlen von 2013 mit der jetzigen Wahl vergleichen, erreichten die Rechten gerade mal einen Zuwachs von 4,22 Prozent, von 7.363.980 auf 7.707.322 Stimmen. Es handelt sich um eine Enthaltung der bolivarischen Stimmen, die durch die Untätigkeit der Regierung gegen Korruption, Wucher und Horten hervorgerufen wurde.

Präsident Nicolás Maduro sagte, dass, obwohl eine Schlacht verloren wurde, der Aufbau des Sozialismus weitergehe. Welchen Spielraum hat die Bolivarische Revolution noch? Vor welchen Herausforderungen steht sie?

Die Volksbewegung wurde aus viel schlimmeren Niederlagen geboren. Am 27. Februar 1989 hat sich die venezolanische Bevölkerung gegen ein neoliberales Paket des IWF erhoben und bei der Niederschlagung kamen Tausende um. Am 4. Februar 1992 gab es gegen dieses Paket und die damalige Regierung einen Militäraufstand, der zwar strategisch scheiterte, aber aus ihm ging die siegreiche Persönlichkeit des Hugo Chávez hervor. Die Geschichte Venezuelas hört auch heute nicht auf.
Sie hat Herausforderungen vor sich.
Zuallererst die Schwierigkeiten zu meistern, die durch die Straflosigkeit der Korrupten, Wucherer, Hamsterkäufer und Schmuggler ins Ausland losgebrochen wurden.
Zweitens, jene Verantwortlichen unerbittlich zu bestrafen, damit für die Wähler, die sich enthalten haben, klar ersichtlich wird, dass keine Komplizenschaft zwischen der Regierung und diesen Verbrechern besteht.
Drittens: Die Medienpolitik zu reformieren, da in ihr die Macht liegt, auf effizientem Wege den wirklichen Sinn und die Vorzüge des Sozialismus zu erklären und aufzudecken, was der Neoliberalismus dem Volk entreißen würde.
Viertens: Die sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und anderen Organisationen in Kampfbereitschaft gegen die zukünftigen Angriffe des Neoliberalismus zu bringen, die Massenentlassungen, Einschränkung im Arbeitsrecht und Rentenkürzungen umfassen werden.
Fünftens: Der verfassungsrechtlichen Bestimmung zur Geltung zu verhelfen, dass die sozialen Errungenschaften unumkehrbar sind.
Sechstens: Die Polizei- und Sicherheitsmaßnahmen gegenüber dem Paramilitarismus auszubauen, der sich schon als bewaffneter Arm des Neoliberalismus abzeichnet.
Siebtens: Eine tiefgreifende Umstrukturierung der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas vorzunehmen, sowie anderer Organisationen des Großen Patriotischen Pols, um Fehler zu berichtigen und Ineffizienz, Bürokratismus und Vorteilsnahme zu zügeln.
Achtens: Radikal die Idee zu verwerfen, das mit der "pragmatischen" Unternehmerschaft und den Rechten ein Pakt möglich sei – gerade in Hinsicht auf die katastrophalen Ergebnisse eben dieser bisherigen Zusammenarbeit.
Neuntens: Die ideologische Schulung der Aktivisten und des Volkes insgesamt zu verstärken.
Zehntens: Mit gutem Beispiel voranzugehen, das überzeugendste Argument von allen.

Laut der Nationalen Jugendumfrage von 2013 glaubten 60 Prozent der Venezolaner zwischen 15 und 29 Jahren, dass der Sozialismus das bessere ökonomische System sei, gegenüber 21 Prozent, die den Kapitalismus vorzogen. Hat sich diese Haltung des venezolanischen Volkes, der Jugend geändert? Welche Kräfte herrschen noch vor?

Diese Umfragen wurden gestartet als der ökonomische Krieg gerade erst begann, die Bevölkerung hart zu treffen. Mit deiner Erlaubnis werde ich ein paar Worte von Fidel zitieren, die Chávez in seiner Autobiografie "Cuentos del Arañero" erwähnt.
So erzählt Hugo Chávez wie Fidel ihm sagte:
"'Schau mal, ich habe da eine Schlussfolgerung aus deiner Rede gezogen'. Und er blätterte in seinen Aufzeichnungen, er hatte die ganze Rede da und eine Zusammenfassung in seiner eigenen Schrift, Notizen von Zahlen. Er sagte mir: 'Du sagtest in deiner Rede einen Satz, eine Zahl, dass es vor zehn Jahren 600.000 Studierende in Venezuela gab und es heute 2.400.000 sind'. Das ist wahr, es gab einen Zuwachs von 400 Prozent. Er [Fidel] hatte eine lange Liste mit Verbesserungen in der Bildung, im Gesundheitswesen, all das was wir an Fortschritten diese Jahre über erreicht haben. Und er sagte mir: 'Ich habe eine Schlussfolgerung gezogen, Chávez, keine Revolution von der ich weiß, nicht mal die kubanische, hat im Sozialen soviel in so kurzer Zeit für ihr Volk erreicht, wie die bolivarische Revolution.' Und weißt du was die Zweite ist? So fragte er mich. 'Ich kam zur Schlussfolgerung das ihr keine politischen Vorteile aus diesen sozialen Fortschritten ziehen wollt.'"
So wie in vielen anderen Dingen hatte Fidel recht. In Venezuela macht uns ein schwerer Mangel an ideologischer Bildung zu schaffen. Es gab keine nachhaltigen Erfahrungen mit Schulungen von politischen Aktivisten. Alles wurde dem Volk gegeben: kostenlose medizinische Versorgung, Nahrungsmittel, Medikamente, subventioniertes Benzin und 900.000 Wohnungen in den letzten Jahren, tausende neue Taxis, Laptops für Grundschüler und Tablets für Studierende an den Hochschulen (die auch kostenlos sind).
Durch eine fehlende Bildungskampagne denkt das Volk nun, das fällt alles vom Himmel, und als würde es nicht eine harte Arbeit voraussetzen oder nicht verteidigt werden müssen.

"Der Wandel hat begonnen in Venezuela", sagte der MUD. Auf welchen Wandel genau beziehen sie sich, was könnte die venezolanische Opposition nun nach ihrem Parlamentssieg unternehmen?

In einem Jahr kann die Rechte alle Stimmen, die sie durch falsche Versprechen dazugewonnen hat, wieder verscheuchen, indem sie von Neuem neoliberale Maßnahmen anwendet. Die selben Maßnahmen, die sie schon mal die Macht gekostet haben und die sie nicht aufhören können anzuwenden. Sie werden weiter die Preise hoch setzen bis sie unerträglich werden, Waren horten und verschwinden lassen, spekulieren. Geeignete Gesetzte hebeln dann die Sozialleistungen der Arbeiterschaft aus und sie führen die variable Verzinsung mit Zinseszins wieder ein.
Andere Normen würden die Preise befreien, sowie die Mieten und Zinssätze. Sie würden stückweise die kostenlose Bildung zerstören, Subventionen abschaffen, den Sozialmissionen ein Ende setzen und so den Etat, von dem momentan 61% für Sozialausgaben bestimmt sind, drastisch um die Hälfte kürzen.

Ist ein ein Zusammenleben zwischen einer oppositionellen Legislative und einer sozialistischen Exekutive möglich? Welche Varianten könnten sich daraus zukünftig ergeben?

Was das Zusammenleben zwischen Sozialismus und Kapitalismus betrifft, würde ich gern die Parabel vom gemischten Hühnerstall erzählen. Ein Landwirt baut einen gemischten Hühnerstall, die Hälfte sind Hennen, die andere Hälfte Füchse. Nach einer Woche haben die Füchse die Hühner verspeist und verschlingen dann den Landwirt.
Die falsche Idee, dass man die Unternehmer nur mit Dollars für Scheinimporte überschwemmen muss, um mit ihnen zusammenleben zu können, ist einer der Gründe für die Versorgungsengpässe, die zu diesem negativen Wahlausgang geführt haben.
Die Rechte wird ihre seit nunmehr 17 Jahren ununterbrochenen Aktionen fortführen, um die bolivarische Macht zunichte zu machen. Sie wird dabei vorbringen, dass die Niederlage bei der Parlamentswahl ein Plebiszit sei, welcher Maduro zum Rücktritt zwänge; sie wird ein Abwahlreferendum einberufen; Vizepräsidenten und Minister mittels Vetos absetzen; die Genehmigung des Haushaltsplans und zusätzlicher Kredite verhindern; das Bevollmächtigungsgesetz (Ley Habilitante) aufheben und alle Gesetze, die soziale Fortschritte errungen haben; den Abschluss landeswichtiger Verträge nicht autorisieren; die Erlaubnis verweigern, die Zuständigen für die diplomatischen Vertretungen zu ernennen.

Es scheint, dass Lateinamerika schlechte Zeiten bevorstehen: Mauricio Macri ist Präsident von Argentinien und jetzt dieser Sieg der Opposition bei den Parlamentswahlen in Venezuela. Wie sollten diese Ereignisse interpretiert werden?

Die progressiven Regierungen sehen sich auch betroffen von den niedrigen Preisen ihrer Exportgüter, die ihnen durch die Weltwirtschaftskrise aufgezwungen werden. Das schränkt die Sozialausgaben ein und ruft den Unmut der Wähler hervor. Hoffentlich verleitet die Unzufriedenheit sie nicht dazu, für ihre neoliberalen Feinde zu stimmen, und sich schließlich Situationen ausgesetzt zu sehen, wie sie die Argentinier erlebten, als sie beraubt und ihre Bankkonten eingefroren wurden oder wie die Venezolaner, die 1989 bei einem Aufstand gegen ein Kürzungspaket des Internationalen Währungsfond massakriert wurden.

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