Bewusst haben wir im Jahr 2015 unseren politischen Schwerpunkt auf den 100. Jahrestag des Völkermordes gelegt. Ziel ist die osmanisch-türkische und deutsche Verantwortung für diesen Genozid ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und Konsequenzen für unseren revolutionären politischen Kampf heute zu ziehen.
Januar 2015 haben wir in der TA 68 die gemeinsame Erklärung
mit Bolşevik Partizan: „Pein und Leid des armenischen Volkes – 100 Jahre Leugnung des Völkermordes durch den
türkischen Staat“ abgedruckt. Die Grundsatzartikel „100 Jahre Meds Yeghern – 2015 Zeit sich der Geschichte zu stellen“
und „Verschwiegene Wahrheit: Deutschlands Verantwortung im Völkermord an den
Armeniern!“ waren Hauptthema der TA 69 im April. In dieser Ausgabe 70 weisen
wir in nachfolgendem Artikel anhand der Politik der Türkischen Republik Kemal
„Atatürks“ nach, wie der Völkermord an den ArmenierInnen nicht nur geleugnet,
sondern vom türkischen Staat seit seiner Gründung, in gewisser Weise bis heute
„fortgesetzt“ wurde und wird. Eine politische Auseinandersetzung über die
Berechtigung einiger demokratischer Forderungen in der armenischen Frage
zwischen TA-LeserInnen, der IA.RKP Österreich (Initiative für den Aufbau einer
Revolutionär-Kommunistischen Partei) und uns schließt sich an. Wir
veröffentlichen weiter einen Reisebericht aus Jerewan sowie Eindrücke von Aktionen
aus Istanbul und Deutschland. In der nächsten Ausgabe, Januar 2016, werden wir
einen Überblick zur Theorie und Praxis der revolutionären Linken in
Türkei/Nordkurdistan zur armenischen Frage geben.
1923 bis 2015: Türkische Republik gegen das armenische Volk
Pogrom – Repression – Verfolgung – Vertreibung
Für die 1923 gegründete kemalistische Republik Türkei
existierte keine „armenische Frage“. Von Anfang an bis heute beruht die Politik
der türkischen herrschenden Klassen gegenüber dem armenischen Volk auf der
Leugnung des Völkermords an den Armeniern 1915 während des Osmanischen Reiches.
Bis Mitte der 1965er Jahre war der Völkermord ignoriert und totgeschwiegen.
Damit wurde auch der Eindruck erweckt in den offiziellen Grenzen der Republik
Türkei habe niemals eine armenische Nation existiert. Die wenigen überlebenden
ArmenierInnen wurden ebenso wie Pontusgriechen, Juden und Assyrer als „Fremde
Völker“ stigmatisiert, die vom türkischen Staat lediglich „geduldet“ waren.
Falls die armenische Bevölkerung in Politik oder Medien thematisiert wurde,
historisch oder auch in der Gegenwart, wurde und wird von ihr nur als „Feind“,
„Verräter“, „Kollaborateur“ etc. gesprochen. Das Wort „Armenier“ wurde und wird
immer noch als Schimpfwort benutzt.
Die erste Herausforderung für die Leugner des Völkermords
und ihre Politik des Verschweigens war 1965 – das Jahr des ersten öffentlichen
Gedenkens der ArmenierInnen an die Opfer des Völkermords. [1]
Die Äußerungen der Vertreter der türkischen Regierung, die
Nachrichten und Kommentare der türkischen Presse waren von Feindschaft, Hetze
und Drohungen gegen die armenische Community geprägt. Durchgehend wird die
Formulierung vom „so genannter Völkermord“ verwendet. Das öffentliche Gedenken
war der Anfang vom Ende der Politik des Verschweigens.
Als in den 1970er und 1980er Jahren bewaffnete
Aktionen/Attentate armenischer Diaspora-Organisationen wie ASALA (Armenische
Geheime Armee für die Befreiung Armeniens) auf türkische Diplomaten im Ausland
durchgeführt wurden, fand das anhaltende Schweigen der Republik Türkei über den
Völkermord sein Ende. Die türkische Regierung wurde durch die Attentate
gezwungen, sich zu verhalten und politisch Stellung zu nehmen.
Die Leugnungspolitik tischte im Laufe der Jahrzehnte,
entsprechend der politischen Konjunktur verschiedene Legenden und
Lügengeschichten auf. In Kurzform: „Es war nichts. Alles was erzählt wird, ist
eine Lüge“, „Es gab eine gegenseitige menschliche Tragödie“, „Die Armenier
haben die Türken massakriert“, „Unerwünschte Ereignisse sind geschehen“, „Die
Bewertung der historischen Fakten muss den Historikern überlassen werden.“,
„Wir sind nicht für das Osmanische Reich verantwortlich“.
Ausgangssituation
Der Erste Weltkrieg ging für das Osmanische Reich mit der
Unterzeichnung der Kriegskapitulation am 30. Oktober 1918 in Mudros zu Ende. Am
4. November 1918 wurde das „Deportationsgesetz“ (offiziell
„Umsiedelungsgesetz“) aufgehoben. Innerhalb von vier bis fünf Monaten kamen
Zehntausende überlebende Deportierte in ihre Heimatorte zurück. Übereinstimmend
wird von historischen Quellen angegeben, dass in dieser Zeit noch ca. 280 000 Angehörige des armenischen Volks in der
Türkei lebten: Davon 150 000 in
Konstantinopel (Istanbul) und Smyrna (Izmir) und 130 000 in anderen Orten und Landesteilen. Während des „Nationalen
Befreiungskriegs“ [2] unter der Führung von Mustafa Kemal
(Atatürk) wurden ca. 100 000 Armenier
ermordet und Zehntausende mussten wieder fliehen.
Nach offiziellen Angaben der Volkszählung 1927 lebten in der
Türkei 67 745 ArmenierInnen. Die Armenische
Gemeinde spricht von 80 286. 1965 lebten
nur noch 33 094 ArmenierInnen in der
Türkei. Die Zahl der ArmenierInnen, die ihre ethnische Herkunft und
Muttersprache verheimlichten mussten, ist nicht genau bekannt. Ebenso die
Anzahl der als „Kryptoarmenier“ bezeichneten, zwangsislamisierten
ArmenierInnen. Vertrauenswürde HistorikerInnen sprechen bei den angegebenen
Zahlen nur von „groben, vorsichtigen Schätzungen“. Selbst diese beweisen eine
zwischen 1927 und 1965 mehr als 50%ige Dezimierung des armenischen Volkes. Fakt
ist: Die armenische Nation wurde fast vollständig ausgelöscht und zu einer
kleinen nationalen Minderheit gemacht.
Die türkischen Herrschenden zogen ihren Profit nicht nur aus
der Vernichtung der armenischen Nation in Westarmenien und im Osmanischen
Reich, sondern auch aus der massenhaften Enteignung der ArmenierInnen – zum
größten Teil während des Völkermords 1915 und danach während des Kriegs
zwischen 1919-1922. Das konfiszierte Eigentum der nicht muslimischen Nationen
und Nationalitäten war eine der wirtschaftlichen Grundlagen der Türkischen
Republik (bzw. der türkischen Bourgeoisie).
Von der Politik der nationalen Unterdrückung der Türkischen
Republik waren alle nicht türkischen Nationen und Nationalitäten und
insbesondere die ArmenierInnen betroffen. Elemente dieser rassistischen,
chauvinistischen Politik waren Verfolgung, Diskriminierung und
Türkisierungspolitik. Obwohl alle Nationalitäten – innerhalb der türkischen
Grenzen – als „Türken“ deklariert wurden, wurden trotzdem Unterschiede gemacht.
Die muslimischen, ethnisch nicht türkischen Teile der
Bevölkerung sollten türkisiert, bzw. zwangsassimiliert werden, aber die
nicht-muslimischen Nationalitäten sollten mit allen Mitteln dezimiert werden.
Diese kontinuierliche Politik übernahm die Türkische Republik von dem „Komitee
für Einheit und Fortschritt“ (İttihat ve Terakki Cemiyeti – Regierungspartei
der Jungtürken seit 1908 im Osmanischen Reich) und praktizierte sie
entsprechend der neuen politischen Lage.
Um den Kern dieser Politik gegenüber dem armenischen Volk
aufzuzeigen, müssen wir die Politik der kemalistischen Bewegung in den
Kriegsjahren nach dem Ersten Weltkrieg und die im Lausanner Vertrag
festgelegten Rechte zum „Schutz der Minderheiten“ bewusst machen.
„Nationaler Befreiungskrieg“ und die „armenische Frage“ –
1919-1922
Nach offizieller Lesart türkischer Geschichtsschreibung,
beginnt die Geschichte der Republik Türkei mit der Ankunft von Mustafa Kemal am
19. Mai 1919 in Samsun an der
Schwarzmeerküste. Die von Kemal initiierten „Nationalen Organisationen“ bzw.
die „Nationale Bewegung“ hätten keinerlei politische und organisatorische
Verbindungen mit dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ gehabt. Sie hätten einen
eigenständigen „anti-imperialistischen Unabhängigkeitskrieg“ geführt und sich
von der alten politischen Macht, verkörpert durch das „Komitee für Einheit und
Fortschritt“ und seiner Führer völlig distanziert.
In Wirklichkeit aber hat sich die Geschichte anders
zugetragen: Die nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs an
unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Namen entstandenen „Nationalen
Organisationen“ standen faktisch zum größten Teil unter Führung der ehemaligen
Mitglieder des „Komitees für Einheit und Fortschritt“. Sie wurden in erster
Linie nicht gegen die englische, französische oder italienische Besatzung
gebildet, sondern gegen die armenischen und die griechischen
Bevölkerungsgruppen. Eine der wichtigsten hieß „Vereinigung für die Verteidigung
der nationalen Rechte der östlichen Provinzen“. Zur Entstehung dieser
Organisationen führte Kemal Atatürk in seiner Rede im Oktober 1927 in Ankara
vor den Abgeordneten und Delegierten der Republikanischen Volkspartei aus:
„Aus den vorstehenden Auseinandersetzungen geht, wie mir
scheint, deutlich hervor, dass die etwaige Abtretung der östlichen Provinzen an
Armenien das wichtigste Motiv für die Bildung dieser Vereinigung gewesen ist.
Man nahm an, dass diese Möglichkeit zur Wirklichkeit werden würde, wenn es
denjenigen, die daran arbeiteten, die Armenier als eine Mehrheit in diesen
Provinzen mit den ältesten geschichtlichen Rechten hinzustellen, gelingen
würde, die öffentliche Meinung der Welt durch angebliche wissenschaftliche und
historische Dokumente irrezuführen und alsdann die Verleumdung glaubwürdig zu
machen, dass die mohammedanische Bevölkerung aus Wilden bestehe, die sich damit
beschäftigten, die Armenier zu massakrieren. Infolgedessen setzte sich die
Vereinigung das Ziel, die nationalen und geschichtlichen Rechte durch
entsprechende Mittel und Argumente zu verteidigen.
Man fürchtete auch die Bildung eines griechischen pontischen
Staates an der Küste des Schwarzen Meeres. Einige Personen hatten in Trapezunt
einen weiteren Ausschuss mit dem Ziel gegründet, die Rechte der
mohammedanischen Bevölkerung auf ihre Existenz zu wahren und zu verhindern,
dass sie unter das Joch der Griechen fielen.“ [3], [4]
Auch andere Quellen und Dokumente beweisen die personelle
und politische Kontinuität zwischen dem 1918 aufgelösten „Komitee für Einheit
und Fortschritt“ und den insbesondere von Enver und Talat Pascha neu
gegründeten nationalen Organisationen.
Die kemalistische Bewegung sah in der kurdischen Nation auch
eine Gefahr bei der Konstitution der türkischen Nation, allerdings wurde mit
den feudalen Kurdenvertretern eine Allianz geschlossen, die unter dem Namen
„Vereinigung für die Verteidigung des Rechts Anatoliens und der Rumeli
(westliche Provinzen)“ firmierte.
Dazu stellte Atatürk in seiner Rede fest:
„Die Bevölkerung Anatoliens ist von einem Ende bis zum
andern zu einer Einheit zusammengeschlossen. Die Entscheidungen sind in
Übereinstimmung mit allen Kommandeuren und unseren Kameraden gefasst. Fast alle
Walis und Gouverneure sind auf unserer Seite. Die nationale Organisation in
Anatolien reicht bis zu den Bezirken und Gemeinden. Der auf die Bildung eines
unabhängigen Kurdistans abzielenden Propaganda ist mit Erfolg entgegengewirkt
und die Anhänger dieser Bewegung sind zerstreut worden. Die Kurden haben sich
den Türken angeschlossen.“ [5]
Somit waren Armenier und Griechen die Hauptfeinde, die
bekämpft werden sollten. Die Kongresse in Erzurum und Sivas im Jahr 1919 waren
die wichtigsten Entscheidungsgremien der kemalistischen Bewegung. Der Kongress
von Erzurum begann am 23. Juli 1919 und
Atatürk führt die Beschlüsse über die „christlichen Elementen“ auf:
„5. Den christlichen Elementen können keine Privilegien
gewährt werden, die unsere politische Souveränität und unser soziales
Gleichgewicht beeinträchtigen könnten.“ (ebenda, S. 56)
Der Kongress von Sivas fand im September 1919 statt.
Zur griechischen und armenischen „Frage“ wurde laut Atatürk
beschlossen: ‚Der Grundsatz einer einmütigen Verteidigung und eines einmütigen
Widerstandes wird angenommen zu dem Zweck, jeder Okkupation oder Intervention
Widerstand zu leisten, insbesondere jeder Bewegung, die einen griechischen oder
armenischen Separatismus zu schaffen bestrebt ist.“ (ebenda, S. 77)
Kemal warf auch die Frage auf, zu welchen Zugeständnissen
die kemalistische Bewegung bereit wäre und gab folgende Antwort:
„Nun ist es aber nicht nur heute praktisch unmöglich, den
Armeniern auch nur einen Zoll dieses Gebiets abzutreten, wo die erdrückende
Mehrheit türkisch und kurdisch ist, sondern es ist sogar wegen der gewalttätigen
Gereiztheit und wegen der Rachsucht, die unter diesen Elementen herrschen,
gefährlich, die Armenier in Massen anzusiedeln, selbst wenn diese kommen
würden, ihre Wohnsitze wieder einzunehmen. Das weitestgehende Zugeständnis, das
man den nichtschuldigen osmanischen Armeniern machen könnte, könnte folglich
nicht anderes sein, als unter billigen und gleichen Bedingungen ihre Rückkehr
zu dulden.“ (Hervorh. TA) (ebenda, S. 90)
Dieses mögliche „Zugeständnis“ wurde nicht verwirklicht. Die
ArmenierInnen erhielten kein Rückkehrrecht. Das Fundament der bis heute
andauernden Leugnungspolitik des Völkermords an den ArmenierInnen durch den
türkischen Staat wurde bereits von Atatürk gelegt:
„Ohne Zweifel entsprachen die Behauptungen über die
Armeniergemetzel nicht dem wirklichen Sachverhalt. Im Gegenteil belästigten die
Armenier im Süden, von den fremden Truppen bewaffnet und durch den Schutz, den
sie genossen, ermutigt, die Mohammedaner in ihrem Bereich. Von einem Geist der
Rache beseelt, trieben sie allenthalben zu einer unversöhnlichen Politik des
Mordes und der Ausrottung. Auf diese Weise war das tragische Ereignis von
Marasch zustande gekommen. Die Armenier hatten, indem sie mit den fremden
Truppen gemeinsame Sache machten, durch Geschütz- und Maschinengewehrfeuer eine
alte mohammedanische Stadt wie Marasch von Grund auf zerstört. Sie hatten
Tausende von unschuldigen und wehrlosen Müttern und Kindern getötet. Die
Armenier waren die Urheber dieser in der Geschichte einzig dastehenden
Brutalität. Die Mohammedaner hatten nur Widerstand geleistet und sich
verteidigt, um ihr Leben und ihre Ehre zu retten. (...) Die Wahrheit war, dass
unsere Nation nirgends ohne Grund eine aggressive Haltung gegen irgendein
fremdes Element eingenommen hatte.“ (ebenda, S. 356-357)
Hier bewertet Atatürk nicht Ereignisse aus den Jahren des
Völkermordes 1914-1918, sondern aus dem Zeitraum von 1919-1920. Die Existenz
eines armenischen Bataillons in der französischen Armee während des
Befreiungskriegs wurde gegen die ArmenierInnen benutzt. Sie wurden alle der
„Kollaboration mit dem Imperialismus“ beschuldigt sowie als „fremdes Element“
abgestempelt.
Am Anfang des „Nationalen Befreiungskriegs“ war es für die
kemalistische Bewegung notwendig sich vom „Komitee für Einheit und Fortschritt“
zu distanzieren. So berichtete Atatürk über den Kongress von Sivas: „Die ersten
drei Tage, d.h. der 4. September, der
Tag der Eröffnung, der 5. und 6.
September, wurden mit Diskussionen über die Notwendigkeit ausgefüllt, einen
Schwur zu leisten, um zu bestätigen, dass wir keine ‚Unionisten’ waren, ferner
mit der Redaktion der Formel dieses Eides, einer Adresse an den Sultan, der
Antworten auf die zu der Eröffnung des Kongresses eingegangenen Telegramme, und
besonders mit der Erörterung der Frage, ob der Kongreß sich mit Politik
befassen soll oder nicht.“ (ebenda, S. 76)
Über die politischen Motive dieser Distanzierung stellt
Taner Akçam fest: „Die Distanzierungsbekundungen erfolgten gezwungenermaßen und
erklären sich aus der politischen Stimmung, in der die Partei für den Krieg und
den Völkermord verantwortlich gemacht wurde, insbesondere vom Ausland. Halil
Pascha beschrieb dieses Doppelspiel in seinen Memoiren folgendermaßen: ‚Führend
unter denen, die in Erzurum die Aktivitäten leiteten, die in Aydın und der
Ägäis-Region das Volk organisierten, waren İttihadisten. Nur den ausländischen
Mächten gegenüber mußte verheimlicht werden, daß die Bewegung eine Bewegung der
İttihadisten war.’“ 6
Offiziell hatten die Kemalisten sich vom „Komitee für
Einheit und Fortschritt“ distanziert, aber zugleich dessen Politik
weitergeführt. Der deutsche Historiker Kurt Ziemke hat in seinem Buch „Die Neue
Türkei“, folgende zutreffende Einschätzung vorgenommen:[6]
„Das heutige kemalistische Regime hat die Anhänger des
früheren jungtürkischen Komitees geradezu geächtet, so dass es den Anschein hat,
als ob der jetzige Kurs in schroffem Gegensatz zu der jungtürkischen Linie
eingeschlagen wurde. Das ist bei weitem nicht der Fall. Das kemalistische
Programm ist im Grunde genommen eine Fortführung des jungtürkischen unter
Anpassung an die veränderten Verhältnisse (...)“ [7]
Letztendlich stellte Atatürk brutal offen, chauvinistisch
klar und deutlich am 16. März 1923 in
Adana in einer Ansprache an Kleinhändler fest: „In diesem fruchtbaren Land
haben die Armenier kein Recht. Das Land gehört euch, gehört den Türken. Dieses
Land war in der Geschichte türkisch, ist also türkisch und wird ewig als
türkisch leben.“ [8]
In den Jahren 1919-1922 wurde nicht nur gegen die
imperialistische Entente, sondern auch gegen die im Land lebende armenische und
griechische Bevölkerung Krieg geführt. Hunderttausende wurden ermordet und die
Mehrheit der Pontusgriechen wurde deportiert. Auch die türkische „Nationale
Bewegung“ wollte auf keinen Fall ein Armenien zwischen der Türkei und
Aserbaidschan. Hätten die damaligen Kräfteverhältnisse es erlaubt, hätten sie
die damalige Armenische Republik unter Führung der Daschnaken besetzt und das
armenische Volk vernichtet. Der Roten Armee der jungen Sowjetmacht ist es zu
verdanken, dass es dazu nicht gekommen ist. Sie hat die armenischen KommunistInnen
unterstützt und verhindert, dass die türkische Armee weitere Massaker verübte.
Lausanner Konferenz und Armenische Frage
Laut Atatürks Darstellung wurde diese Frage „In Lausanne:
(...) ausgeschaltet.“ [9]
Kurt Ziemke berichtet darüber wie folgt: „Auf dem ersten
Teil der Lausanner Konferenz, zu der armenische Delegationen überhaupt nicht
zugelassen wurden, haben die Alliierten wiederholt versucht, die Frage des
Nationalheims [gemeint ist ein armenischer Staat in Westarmenien, Anmerkung TA]
anzuschneiden. Ismet weigerte sich, sie überhaupt zu diskutieren. Es blieb
nichts anderes übrig, als diese Weigerung zu registrieren. Der erste
Vertragsentwurf vom 31. Januar 1923
enthielt mithin keine Sonderbestimmungen mehr für die Armenier. Die Alliierten
hatten sie aufgegeben. Nach Wiederaufnahme der Lausanner Konferenz sind die
Alliierten auf das Nationalheim nicht wieder zurückgekommen. Es war allerdings
noch ziemlich viel von Armeniern die Rede, aber nur im Zusammenhang mit den
Wirkungen der zu vereinbarenden Deklaration über die Amnestie. In den Sitzungen
… verlangte Sir Horace Rumbold wiederholt von der türkischen Delegation die
Abgabe einer bündigen Zusicherung, dass der Erlaß dieser Amnestie den
geflüchteten Armeniern die freie und ungestörte Rückkehr gestatte. Ismet
antwortete mit einem klaren Nein; er erklärte ausdrücklich, dass die Amnestie
den Armeniern nicht die Rückkehr erlaube und das überhaupt eine ‚rentrèe en
masse’ [Massenrückkehr, Anmerkung TA] aus Gründen der Staatssicherheit
ausgeschlossen sei.
Die Alliierten haben sich auch mit dieser Ablehnung
zufrieden geben müssen. Die Aussprache vom 19. Mai
hat die Lage der armenischen Flüchtlinge wenigstens geklärt. Die Rückkehr in
die Türkei bleibt ihnen verschlossen; nach türkischer Auffassung haben sie
ferner ihre türkische Staatsangehörigkeit verloren, sie gehören also nicht zu
den durch den Lausanner Vertrag geschützten Minderheiten, sondern sind heimatlos
geworden. Sie müssen sich ein anderes Vaterland suchen. Der Lausanner Vertrag
begrub die letzten Hoffnungen der Armenier.“ [10]
Die deportierten ArmenierInnen, die den Völkermord
überlebten, erhielten kein Rückkehrrecht. Die Türen und Tore der „Jungen
Türkei“ blieben ihnen für immer verschlossen. Mit dem Lausanner Vertrag wurde
die Einverleibung Westarmeniens in das Staatsgebiet der Türkei international
legitimiert und festgeschrieben.
Lausanner Vertrag und Schutz der Minderheiten
Der Lausanner Vertrag war ein von den imperialistischen
Siegermächten, allen voran England und Frankreich, diktierter Vertrag. Aber für
die türkische „Nationale Bewegung“ war er ein enormer Erfolg. Denn er
revidierte den Vertrag von Sèvres, indem die internationale Anerkennung des
türkischen Staats deklariert wurde. Er trat am 6. Juni
1924 in Kraft.
In den Artikeln 37 bis 45 wurde der „Schutz der
Minderheiten“ festgelegt. Für die Anerkennung als Minderheit war das einzige
Kriterium die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und nicht zu einer
Nation bzw. Nationalität. Daraus folgte die Benennung „nicht-mohammedanische
Minderheiten“. Unter diesem Begriff „nicht-mohammedanische Minderheiten“ wurden
später offiziell nur Armenier, Griechen und Juden gefasst, Assyrer
beispielsweise wurden nicht einmal als „nicht-mohammedanische Minderheit“
anerkannt.
Artikel 37 des Lausanner Vertrags legte fest: „Die Türkei
verpflichtet sich zur Anerkennung der in Artikel 38 bis 48 festgelegten
Bedingungen als Grundgesetze, kein Gesetz, keine Verordnung oder offizielle
Handlung darf diese Bedingungen beeinträchtigen oder verletzen.“ [11]
Laut Artikel 38-43 haben die „nicht-mohammedanischen
Minderheiten“ gleiche bürgerliche und politische Rechte: Zulassung zu
öffentlichen Ämtern; Recht auf völlige Freizügigkeit; keine Beschränkung
irgendeiner Sprache im persönlichen Verkehr, im Handel, bezüglich der Religion,
in Presse oder Veröffentlichungen; Gleichberechtigung durch die Errichtung,
Verwaltung und Kontrolle religiöser und sozialer Institutionen aus eigenen
Finanzmitteln, wie Schulen und andere Erziehungsinstitutionen sowie das Recht
in diesen, ihre eigene Sprache zu gebrauchen und ihre eigene Religion frei
ausüben zu können. Diese Festlegungen entsprachen international anerkannten
Minderheitenrechten. Das war ein „gutwilliger“ Wunschzettel, der aber in der
Türkei das Papier nicht wert, auf dem es stand. Der letzten Absatz des Artikel 42 des Lausanner Vertrags lautete: „Die
türkische Regierung verpflichtet sich, den Kirchen, Synagogen, Friedhöfen und
anderen religiösen Einrichtungen der oben erwähnten Minderheiten, völligen
Schutz zu garantieren. Die gesamte Vollmacht wird den religiösen Stiftungen
garantiert, sowie den religiösen und gemeinnützigen Institutionen der genannten
Minderheiten, die gegenwärtig in der Türkei existieren, und die türkische Regierung
wird die Bildung neuer religiöser und gemeinnütziger Institutionen sowie aller
notwendigen Schritte, die anderen privaten Institutionen dieser Art garantiert
sind, nicht ablehnen.“ (ebenda)
Die mit dem Lausanner Vertrag festgeschriebenen Rechte
hätten die christlichen und jüdischen Minderheiten vor dem „Untergang“
geschützt, wären sie eingehalten worden. Wie die kemalistischen Machthaber mit
dem „Schutz der Minderheiten“ umgegangen sind, sehen wir an den Beispielen, aus
91 Jahren Geschichte der Republik Türkei.
Republik Türkei und rassistische, faschistische
Unterdrückung
Die Republik Türkei wurde am 29. Oktober 1923 gegründet. Nachdem die kemalistische Herrschaft
sich sicher fühlte, dass sie die Staatsmacht in Händen hatte, ging sie zu einem
faschistischen Herrschaftssystem über. Jegliche oppositionelle Tätigkeit wurde
verboten. Eine Türkisierungs- und Zwangsassimilationspolitik wurde brutal
umgesetzt. Davon waren alle nicht türkischen Nationen und Nationalitäten
betroffen. Nach wie vor waren für den türkischen Staat die Minderheiten „fremde
Völker“ und „innere Feinde“, die nicht türkisiert werden konnten. Die logische
Konsequenz für die Herrscher war, eine Türkei „frei von Minderheiten“ zu
schaffen. Diese rassistische Politik beinhaltete auch die mörderische Haltung
des Staates. Es war dies die Kontinuität der rassistischen Politik des
Pantürkismus/Panturanismus, die unter der kemalistischen faschistischen
Diktatur in anderer Form fortgeführt wurde. Alle „nicht-mohammedanischen
Minderheiten“ waren von dieser Politik unterworfen.
Wir beschränken uns hier auf das spezifische Vorgehen der
türkischen Herrschenden gegenüber dem armenischen Volk, das darauf ausgerichtet
war, seine Existenz im türkischen Staatsgebiet möglichst zu vernichten: Im
wirtschaftlichen Bereich durch Enteignung, bezüglich der Kultur durch
willkürliche Unterdrückung und Türkisierung praktiziert durch Verbot und
Zerstörung von Schulen, Sprache, Kirchen, Geschichte... Da nicht alles, was dem
armenischen Volk in den Jahren 1923-2015 angetan wurde, in einem Artikel
ausführlich dargestellt werden kann, führen wir zentrale Ereignisse an, die
beispielhaft für die ungeheure Repression des türkischen Staats gegen das
armenische Volk stehen.
Eckpfeiler der Enteignung
Die größte Enteignungsmaßnahme wurde während des Völkermords
verwirklicht. Das gesamte Hab und Gut der Deportierten, Ermordeten wurde
beschlagnahmt. Die Herrschenden, Bürokraten, Befehlshaber und auch Teile der
Bevölkerung der türkischen, kurdischen und anderen islamischen Nationen und Nationalitäten
haben sich daran maßlos bereichert. Damit war der Enteignungsprozess aber noch
nicht abgeschlossen. In den Jahren 1919-1923 wurde dieser Prozess als die
kemalistische Bewegung sich für das Ausland angeblich von den Ittihadisten
distanzierte, vorübergehend gestoppt.
Die offizielle Grundlage der Türkisierungspolitik auf
wirtschaftlicher Ebene wurde dann mit dem „Wirtschaftskongress von Izmir“ im
Frühjahr 1923 gelegt. Unter den 1 135
Delegierten war kein einziger Vertreter der nicht islamischen Minderheiten. Der
Kongress setzte sich das Ziel, die noch nicht erstarkte türkische Bourgeoisie
zu unterstützen und zu fördern. Am 15. April
1923 wurde das „Gesetz der aufgegebenen Eigentümer“ erlassen, das die
Beschlagnahmung der Besitztümer der während Völkermord und „türkischem
Befreiungskrieg“ ums Leben gekommenen oder nicht mehr in der Türkei lebenden
ArmenierInnen „regelte“.
In der Diskussion über dieses Gesetz in der „Türkischen
Großen Nationalversammlung“ brachte als einziger der Abgeordnete Ahmed Rıza
einen grundlegenden Einwand vor: „Es ist gesetzeswidrig, das armenische
Vermögen für die Armenier als ‚aufgegebene Güter’ zu klassifizieren, die
Eigentümer gaben ihr Eigentum nicht freiwillig auf; sie wurden gewaltsam und
erzwungenermaßen von ihren Wohnorten verschleppt und vertrieben. Nun unternimmt
die Regierung Anstrengungen deren Güter zu verkaufen... Falls wir ein
verfassungsmäßiges Regime wären, das im Einklang mit dem Verfassungsrecht
arbeitet, können wir dies nicht machen. Das ist grauenhaft. Nimm mich am Arm,
wirf mich aus meinem Dorf, verkaufe dann meine Waren und mein Eigentum, so
etwas ist nie zulässig. Dies erlaubt weder das Gewissen der Osmanen noch das
Gesetz.“ [12]
Er legte den Finger in die Wunde. Die ArmenierInnen hatten
ihre Wohnorte und ihren Besitz nicht freiwillig „aufgegeben“, sondern wurden
deportiert, vertrieben und zahlreiche ermordet.
Dieses Gesetz war gleichzeitig Instrument der
Leugnungspolitik der kemalistischen Bewegung gegenüber dem Völkermord an den
Armeniern.
Diese Türkisierungspolitik und das Konfiszieren armenischen
Eigentums war wichtiger Hintergrund dafür, warum im Lausanner Vertrag den
deportierten und überlebenden Armeniern auf keinen Fall ein Rückkehrrecht
eingeräumt werden sollte. Das war den türkischen Herrschenden aber noch nicht
genug. Um sicher zu sein, dass kein Armenier nach Westarmenien zurückkehren
konnte, wurden weitere Maßnahmen getroffen: Ausbürgerung! Am 31. Mai 1927 wurde das Gesetz Nummer 1041
verabschiedet, womit alle „Osmanischen Bürger“, die zwischen dem 24. Juli 1923 und dem 31. Mai 1927 nicht in der Türkei wohnten, ausgebürgert wurden. Davon
waren vor allem ArmenierInnen aber auch andere christliche Minderheiten
betroffen. So sicherten sich die türkischen Herrschenden die enteigneten
Besitztümer der armenischen Bevölkerung.
Der wichtigste Eckpfeiler der Enteignung auch für spätere
Jahre, war das November 1942 in Kraft getretene „Vermögenssteuer-Gesetz“. Im
Text wird kein Unterschied zwischen mohammedanischen und nicht-mohammedanischen
BürgerInnen gemacht. Es zielte aber hauptsächlich darauf ab, die nicht
islamischen Minderheiten zu enteignen. Die konkreten Angaben zeigen es
deutlich: Vermögenssteuer mussten nach diesem Gesetz 87% der nicht muslimischen
Minderheiten leisten. Die Höhe der Vermögenssteuer wurde willkürlich
festgelegt: Die armenische Bevölkerung wurde, verglichen mit ihrem Vermögen,
mit 232%, die jüdische mit 179% und die griechische mit 156% besteuert! Dagegen
sollten die islamischen, türkischen Händler und Kapitalisten nur 4,94% Steuer
zahlen. Der Besitz derjenigen, die die Steuer nicht aufbringen konnten, wurde
gepfändet und zu niedrigsten Preisen an die türkische Bevölkerung versteigert.
Die Menschen, die die vorgeschriebene Wuchersteuer nicht
aufbringen konnten, wurden zu Zwangsarbeit, vor allem nach Aşkale, in
„Arbeitslager“ verbannt. Alle Verbannten waren keine Muslime. Die türkische
Regierung ahmte Hitler-Deutschland nach: „Arbeitslager“ wurden offiziell auch
„Konzentrationszentrum“ genannt! Bis dieses Gesetz im März 1944 abgeschafft
wurde, hatten viele Betroffene ihr gesamtes Vermögen verloren. Allein in
Istanbul wurden Tausende Immobilien und Eigentum der Minderheiten
beschlagnahmt. Der türkische Staat hatte einen weiteren
Schritt in der totalen Enteignung der Minderheiten verwirklicht und die türkische Bourgeoisie weiter ökonomisch gestärkt.
Schritt in der totalen Enteignung der Minderheiten verwirklicht und die türkische Bourgeoisie weiter ökonomisch gestärkt.
Für die Enteignung per Gesetz war ein weiterer wichtiger
Eckpfeiler der Beschluss des Kassationsgerichtshofs vom 8. Mai 1974 gegen Stiftungen der nicht
islamischen Minderheiten. Im Jahr 1936 hatte die türkische Regierung von diesen
Institutionen eine Auflistung ihres gesamten Immobilienbesitzes verlangt. 1974,
während der Zypernkrise wurden alle Vermögenswerte, die nicht in den
Besitzunterlagen von 1936 aufgelistet waren, alle Immobilien, die den
Gemeinnützigen Stiftungen nach 1936 übereignet wurden, als illegal erworbene
deklariert und etwa 1 410 Immobilien –
Kirchen, Schulen, Wohnbauten, Krankenhäuser, Sommercamps, Friedhöfe,
Waisenhäuser – vom Staat konfisziert.
Wie mit der Enteignung weiterhin umgegangen wurde, zeigt uns
die Haltung des türkischen „Nationalen Sicherheitsrates“ 2005. Zur Debatte
standen die Digitalisierung und Offenlegung der osmanischen Landregistrierung,
der Schriftgüter und Urkunden. Der Nationale Sicherheitsrat „warnte“: „Die
osmanischen Aufzeichnungen, die in den Generaldirektionsbüros der Grundbuch-
und Katastererhebung aufbewahrt werden, müssen verschlossen und der Öffentlichkeit
nicht zugänglich gemacht werden, da sie das Potential haben, von den
Behauptungen zum angeblichen Völkermord und Eigentumsansprüchen gegen die
Vermögen der Staatlichen Wohltätigkeitsstiftung ausgenutzt zu werden. Die
Öffnung derer zum allgemeinen öffentlichen Gebrauch ist gegen die Interessen
des Staates.“ (ebd)
Entsprechend dieser „Warnung“ wurde das Projekt fallen
gelassen und die „Aufzeichnungen“ sind weiterhin in den Schränken verschlossen
und unzugänglich, bis heute.
Kurze Chronologie staatlicher Repression und Restriktion
Die kemalistische Bewegung begann mit der
Türkisierungspolitik in allen Lebensbereichen schon vor dem Lausanner Vertrag.
Mustafa Kemal beschwerte sich bereits November 1919: „Eine so wichtige
Direktion wie die der Personalabteilung ist einem Armenier anvertraut.“ [13] ist. Im Juni 1923 wurden Beamte, die
keine Türken bzw. Muslime waren, entlassen.
In den ersten Jahren der Republik Türkei wurde das Recht auf
Freizügigkeit der nicht muslimischen Minderheiten stark beschränkt. Januar 1924
wurde per Gesetz als Voraussetzung für die Ausübung des Apothekerberufes „Türke
sein“ festgelegt. Mit dem März 1924 beschlossenen Gesetz „Tevhid-i Tedrisat“
wurde unter anderem die Restaurierung, Erweiterung oder Errichtung neuer
Schulen eingeschränkt. Im April 1924 folgte das Berufsverbot per Gesetz für 75%
der armenischen (auch jüdische und griechische Anwälte waren betroffen)
Anwälte. März 1926 wurde „Türke sein“ gesetzliche Voraussetzung um den
Beamtenstatus zu erhalten. Im Jahr 1925 wurden die Gemeinden, die Institutionen
und die Stiftungen der jüdischen, armenischen, griechischen Minderheiten unter
Druck gesetzt und gezwungen, auf den Artikel 42
des Lausanner Abkommens zu verzichten. Obwohl der erzwungene Verzicht der
Minderheiten sich nur auf diesen einen Artikel bezog, wurde dieser Vorgang vom
türkischen Staat als Verzicht auf den kompletten „Schutz der Minderheiten“
propagiert.
April 1926 wurde per Erlass das Türkische vorgeschriebene
Staatssprache bei wirtschaftlichem Schriftverkehr. Wer an den entsprechenden
Stellen der türkischen Schrift nicht mächtig war, verlor seinen Arbeitsplatz.
Januar 1928 wurden die nationalen Minderheiten mit der Kampagne „Sprich
Türkisch“ gezwungen, nur noch türkisch zu sprechen. Menschen, die der
türkischen Sprache nicht mächtig waren, wurden bedroht, geschlagen und auf
andere Weise gequält. April 1928 wurde, wie vier Jahre zuvor für Anwälte, per
Gesetz vorgeschrieben, dass nur „Türken“ den Arztberuf ausüben dürfen. Das kam
einem Berufsverbot für armenische Ärzte gleich!
Alle diese Repressalien sowie sozialen, ökonomischen,
nationalen, religiösen Ausgrenzungen waren begründet in der rassistischen,
türkisch-chauvinistischen, kemalistischen Ideologie. Diese brachte
Justizminister M. E. Bozkurt beispielhaft zynisch-faschistisch auf den Punkt: „Die
die keine echten Türken sind, haben im Vaterland der Türken ein Recht und das
ist, Diener zu sein, Sklave zu sein.“ [14] Und diese
Politik wurde immer weiter ausgebaut: Per Gesetz mussten Juni 1932 Menschen,
die als „Fremde” bezeichnet wurden, innerhalb von sechs Monaten ihren
Arbeitsplatz verlassen. Juni 1932 folgte das gesetzliche Verbot für „Fremde”,
bestimmte Berufe auszuführen. (Dies traf in erster Linie griechische Menschen,
aber auch andere Minderheiten).
Am 14. Juni 1934
wurde ein „Ansiedelungsgesetz” (İskan Kanunu) verabschiedet. Dieses war vor
allem gegen KurdInnen, aber auch ArmenierInnen und GriechInnen gerichtet.
Zehntausende Menschen wurden Opfer der nun folgenden Zwangsumsiedlung. Die
Zwangsumsiedlung wurde 1938 und 1939 verstärkt gegen nicht muslimische
Minderheiten angeordnet, mit der Begründung sie würden „im kommenden Krieg die
Nationale Sicherheit bedrohen”. Tausende ArmenierInnen wurden in die
Großstädte, hauptsächlich nach Istanbul deportiert.
Ab Januar 1935 wurde die armenische Bevölkerung mit dem
„Nachnamensänderungs-Gesetz” gezwungen ihre Namen zu ändern und zu
„türkisieren“. Damit wurden die in armenischen Nachnamen häufigen Endungen wie
„ian, yan” verboten.
Im Jahr 1955 wurde in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 in Istanbul, ein von
Staatskräften geheim organisierter Pogrom mit Plünderung und Angriffen
gestartet. In der staatlich gleichgeschalteten Presse wurde die Nachricht
lanciert, gegen das Geburtshaus Atatürks in Thessaloniki sei ein Bombenattentat
verübt worden. Eine Stunde später begann zeitgleich an vielen Orten in Istanbul
die systematische Plünderung vor allem griechischer, aber auch armenischer und
jüdischer Geschäftshäuser. In Einrichtungen wie Kirchen, Schulen und in
Privathäuser wurde eingebrochen. Hunderte Menschen wurden krankenhausreif
geprügelt und 200 Frauen vergewaltigt.
Die Zahl der Ermordeten wird zwischen zwei und 17 angegeben. Ein staatlicher
Pogrom! An diesen beiden Tagen wurden 4 340
Geschäfte sowie 38 Kirchen vollständig
zerstört. 35 Kirchen geplündert und
beschädigt. Vier armenische und sämtliche griechischen Friedhöfe geschändet. 44 Schulen – darunter acht armenische – und 2 640 griechische Häuser überfallen und
verwüstet.
Diese Barbarei wurde vom damaligen Innenminister und den
Militärkommandeuren als „Nationale Aufregung und eine hervorragende
Organisierung“ bezeichnet. Die Täter versuchten die „Kommunisten“ als
Verantwortliche für die Pogrome hinzustellen und verhafteten als ersten Aziz
Nesin (Autor, Satiriker, Kommunist) und 44 seiner Genossen. Eine Folge der
grausamen Übergriffe war, dass Zehntausende Griechen und Armenier die Flucht
ergriffen und auswanderten. Diese Fluchtwelle hielt mehrere Jahre an.
Allein diese stark gekürzte Chronologie ist Beweis dafür,
welche Politik in der Republik Türkei gegenüber dem armenischen Volk betrieben
wurde. Die rassistische Türkisierungspolitik begnügte sich nicht damit, dass
die armenische Nation in Westarmenien vernichtet worden war, sondern versuchte
auch alle Spuren und das Leben der armenischen Nation in der Türkei
auszulöschen. Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhundert
wurden sämtliche Namen von Städten, Dörfern und Siedlungen im historischen
Westarmenien fast vollständig geändert und türkisiert. Laut Angaben von 1914,
gab es im Osmanischen Reich 2 538
Kirchen, 451 Kloster und 2 000
armenische Schulen. Im Schuljahr 1924/1925 existierten noch 138 Schulen von Minderheiten, in 2011/2012 nur
noch 22. Davon sind 16 armenische
Schulen. Der größte Teil der Kirchen, Klöster, Kapellen, Gedenksteine
(Kreuzsteine) und andere Kulturdenkmäler wurden gezielt zerstört. Einigermaßen
intakte Gebäude wurden in Moscheen, Ställe, Lagerräume, Koranschulen u.ä.
umgewandelt und so von den Zerstörern für ihre eigenen Zwecke benutzt.
Diese Repressionen und Restriktionen führten zur
Auswanderung der wenigen noch überlebenden ArmenierInnen. Laut Angaben des
Armenischen Patriarchats leben aktuell 2015 ca. 70 000 ArmenierInnen in der Türkei. Davon sind ca. 30 000 ArmenierInnen aus der armenischen
Republik und haben keine türkische Staatsbürgerschaft. Fazit: Vor hundert
Jahren umfasste die armenische Nation im Osmanischen Reich mehr als zwei
Millionen Menschen. 1919 lebten in den Grenzen der Türkei ca. 280 000 und 2015 sind es nur noch ca. 40 000 ArmenierInnen, die über die türkische
Staatsbürgerschaft verfügen.
Kemalistische Republik und Völkermordtäter von 1915
Während die Herrschenden der Republik Türkei ihre
Vernichtungspolitik gegenüber dem armenischen Volk in verschiedener Weise
weiterführten, wurden die Völkermordtäter geehrt und belohnt. Von der
„Türkischen Nationalen Großversammlung” wurde am 14. Oktober 1922 Kemal Bey zum „Nationalen Gefallenen” erklärt.
Seiner Familie wurde gleichzeitig eine Rente zugesprochen. Während des
Völkermordes war Kemal Bey Landrat von Boğazlıyan. Er wurde in den „Istanbuler
Prozessen” aufgrund seiner Mordtaten zum Tode verurteilt und hingerichtet.
April 1924 wurde ein Gesetz erlassen, nach dem viele
Angehörige von Verantwortlichen für den Völkermord eine Rente erhielten. Durch
Regierungsbeschluss wurden im Mai 1926 den Familien der Hauptverantwortlichen
des Völkermords Besitzurkunden für von Armeniern geraubte Immobilien, damals im
Wert von 20 000 türkischen Lira,
ausgehändigt.
„Der Staat nahm sich der Täter auch nach ihrem Tode an.
Sowohl jene, die von armenischen Rächern getötet, als auch diejenigen, die in
Istanbul hingerichtet worden waren, galten als ‚Gefallene’. Ihre Familien
erhielten durch Gesetz vom 31. Mai 1926 Besitzurkunden für Immobilien, die ‚von
Armeniern zurückgelassen’ worden waren.“ [15]
Am 25. Februar 1943
wurde der Leichnam von Talat Pascha, organisiert vom Hitlerregime unter
militärischen Ehrenbezeugungen von Berlin nach Istanbul überführt und am
„Freiheits-Denkmal” (Abide-i Hürriyet) der jungtürkischen Revolution von 1908
beigesetzt. Am 4. August 1996 wurde auch
der Leichnam von Enver Pascha, mit einem Staatsakt von Tadschikistan nach
Istanbul überführt und ebenfalls am „Freiheits-Denkmal” beigesetzt. Enver wurde
als „Held der Freiheit und des Sieges” gefeiert.
Während die verstorbenen Mörder so geehrt und belohnt
wurden, wurden die noch lebenden Täter mit hohen, lukrativen Posten im
Staatsapparat ausgestattet. Şükrü Kaya, der offiziell für die Deportationen
zuständig war, hatte ab 1924 als Minister verschiedene Ressorts inne. Von 1927
bis 1938 amtierte er ununterbrochen als Innenminister. Gleichzeitig war er
Generalsekretär der Republikanischen Volkspartei Atatürks – die damals einzig
zugelassene Partei. Mustafa Abdülhalik (Renda) Gouverneur von Bitlis und
Aleppo, er ließ unter anderem im Gebiet um Muş Tausende ArmenierInnen bei
lebendigem Leib verbrennen. Er erhielt nacheinander den Posten als Finanz-,
Erziehungs- und Verteidigungsminister und war auch Parlamentspräsident.
Der nach dem Ersten Weltkrieg wegen Beteiligung an den
Deportationen gesuchte Celal Bayar, brachte es später bis zum Amt des dritten
Staatspräsidenten der Republik Türkei … um nur einige zu nennen.
Auch die Haltung der Herrschenden der Republik Türkei
gegenüber den Völkermordtätern beweist eindringlich, die Kontinuität zwischen
der kemalistischen Türkei und dem „Komitee für Einheit und Fortschritt“ in der
„armenischen Frage“. Was das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ mit dem
Völkermord erreichen wollte, die vollständige Vernichtung der armenischen
Nation, aber durch die Niederlage beim Ersten Weltkrieg nicht zu Ende führen
konnte, versuchten die „neuen“ Machthaber der Republik Türkei mit anderen
Mitteln und Wegen umzusetzen.
Diese Tatsache kann nicht aus der Welt geschafft werden:
weder durch die Entscheidungen türkischer Gerichte, einige der beschlagnahmten
Liegenschaften an ArmenierInnen zurück zu geben, noch durch das vom damaligen
Ministerpräsidenten, heutigen Staatspräsidenten Erdoğan im April 2014 zum
ersten Mal ausgesprochene „Beileid”. An der rassistisch-faschistischen
Grundhaltung der Republik Türkei gegenüber dem armenischen Volk änderte sich
dadurch nichts Wesentliches. Wie wir in unserer gemeinsamen Erklärung mit
Bolşevik Partizan festgehalten haben:
„Ein ganz kleiner, positiver Schritt, der aber angesichts
zum Beispiel der aktuellen Bildungspolitik, nur auf der Ebene von
Lippenbekenntnissen bleibt.
Die neuen Schulbücher 2014/2015 tischen wieder alle
bisherigen Verleumdungen, Lügen und Geschichtsfälschungen über den Völkermord
auf. Die SchülerInnen ‚lernen’, dass das Wort ‚Armenier’ ein Synonym für
‚Feind’ und ‚Verräter’ ist. Was fühlen armenische SchülerInnen, deren Vorfahren
hingemetzelt wurden, bei dieser Geschichtsfälschung? Welchen Anfeindungen sind
sie ausgesetzt? Und das angesichts des 100-jährigen Gedenktages an den
Völkermord!
Bis auf den heutigen Tag ist die armenische
Gemeinschaft/Nationalität in Nordkurdistan-Türkei Rassismus, türkischem Chauvinismus,
Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt.“ (TA, Nr. 68, S. 71)
August 2015
Anmerkung eines TA-Lesers sowie Kritiken der IA.RKP, Mai
2015
Antwort von Bolşevik Partizan und Trotz alledem
Eine Anmerkung zum Flugblatt
„100 Jahre Völkermord – Pein und Leid des armenischen
Volkes“
– Ich schicke voraus, dass das Flugblatt der BP / TA
m.E. in der Darstellung der Geschichte und in der politischen Stoßrichtung
völlig richtig ist. Insbesondere für jeden Armenier und Angehörigen jeder
anderen nationalen Minderheit in der Türkei, aber auch für jeden Demokraten und
Antichauvinisten auf der Welt ist es ein erhebendes und befreiendes Erlebnis,
einen solchen Text von türkischer Seite in die Hand zu kriegen.
Ich selbst, als Kommunist, bin davon natürlich nicht
überrascht, sondern setze eine solche Haltung bei einem türkischen Kommunisten
als selbstverständlich voraus - aber ich bin mit einem halben Dutzend
Armeniern/Armenierinnen (aus der Türkei stammend, einige noch in Istanbul
lebend) befreundet, lauter mehr oder weniger fortschrittliche Menschen,
zumindest eine davon mit der Sache des revolutionären Kommunismus
sympathisierend.
Bei einem Treffen haben wir unlängst auch das Flugblatt
diskutiert - und jetzt glauben mir alle wieder ein bisschen mehr, dass der
weitere Gang der Geschichte wohl doch der Marx‘schen Bemerkung (damals zur
Unterdrückung Irlands durch England) folgen wird, dass „ein Volk, das andere
unterdrückt, selbst nicht frei sein kann“, also dass sich früher oder später in
der Türkei eine mächtige revolutionär-demokratische antichauvinistische
Strömung entwickeln wird - und muss, wenn sich die türkische Arbeiterklasse
befreien will.
Aus dieser Diskussion nehme ich aber auch folgende
Schwachpunkte bei drei der acht „Forderungen an den Staat der Türkischen
Republik“ mit, Punkte, die von „meinen“ Armeniern/Armenierinnen durchwegs
bestätigt wurden:
„Recht auf Selbstbestimmung und auf Lostrennung für
Westarmenien“: Meine Freunde (einige stammen in der Großelterngeneration aus
Istanbul, einige aus Kayseri) bestätigten mir, es gäbe im Ostteil der Türkei
keine halbwegs geschlossenen armenischen Siedlungsgebiete mehr, sondern die
früher dort lebenden Armenier lebten entweder (mehrheitlich) im Ausland oder in
Istanbul und anderen Städten in Westanatolien. Ein Recht auf territoriale
Lostrennung eines armenischen Siedlungsgebietes entbehrt unter solchen
Umständen der Grundlage und das Recht auf Selbstbestimmung bezieht sich unter
diesen Bedingungen „nur“ auf die armenische Identität (siehe dazu einige der
anderen Forderungen). Mir fällt dazu auch das Beispiel der sowjetischen Politik
gegenüber den Roma ein („Nation ohne Territorium“).
Antwort Bolşevik Partizan und Trotz Alledem:
Die Forderung des „Rechts auf Selbstbestimmung und
Lostrennung für Westarmenien“ ist verbunden mit dem Recht auf Rückkehr nach
Westarmenien. Wir sind uns bewusst, dass heute „kein halbwegs geschlossenes
armenisches Siedlungsgebiet“ in Westarmenien (für Kurden ist Westarmenien ein
Teil Nordkurdistans; für den türkischen Staat Ostanatolien) existiert.
Die Frage ist: Warum? Weil die ursprüngliche armenische
Bevölkerung durch den Völkermord aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben und
vernichtet wurde. Es ist eine demokratische Forderung, die die KommunistInnen
aufstellen müssen, damit die Nachfahren der ermordeten, vertriebenen und
überlebenden ArmenierInnen das Recht haben in ihr Land zurückzukehren. Würden
die ArmenierInnen aus der Diaspora und der armenischen Republik dieses Recht in
Anspruch nehmen, wäre es durchaus möglich, dass in Westarmenien ein
geschlossenes armenisches Siedlungsgebiet wieder entsteht.
Das bedeutet keineswegs, dass damit die Vertreibung der
aktuell dort lebenden kurdischen bzw. türkischen Bevölkerung verbunden wäre.
Dieses Gebiet, bzw. die armenische Nation hätte dann das Recht auf
Selbstbestimmung, einschließlich Lostrennung vom türkischen Staat. Wenn von
Völkermord geredet wird, ohne das Rückkehr- und Selbstbestimmungsrecht zu
fordern, ist es unserer Meinung nach eine halbherzige Anerkennung des
Völkermords. Viele ArmenierInnen in der Diaspora, in unzählige Länder der Welt
verstreut, wollen das Recht haben, die türkische Staatsbürgerschaft anzunehmen
und zurückzukehren.
Wir sind auf Veranstaltungen und Aktionen zum 100. Gedenkjahr in Armenien, Türkei und
Deutschland vielen armenischen Menschen begegnet und haben zusammen diskutiert.
Sie waren bewegt und hoffnungsfroh, dass eine politische Organisation aus
Nordkurdistan/Türkei das Rückkehrrecht und Entschädigungen einfordert. Das sei
„der wirklich konkrete, menschliche, demokratische Schritt zur Aussöhnung der
Völker“.
Die marxistisch-leninistische Lösung der nationalen Frage
erfordert, ausgehend von den grundlegenden Prinzipien immer auch eine ganz konkrete
Herangehensweise. Dafür existieren in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung
zahlreiche historische Beispiele. Eines davon ist die Errichtung des nationalen
„Jüdischen Autonomen Gebiet“ (JAG), bekannt unter dem Namen seiner Hauptstadt
„Briobidshan“, 1934 in der Sowjetunion an der chinesisch-sowjetischen Grenze.
Z.B. die praktische Umsetzung des Rechts auf Lostrennung für die finnische
Nation durch den jungen Sowjetstaat.
Die konkreten historischen Entwicklungen in der armenischen
Frage, wie die 100 jährige Leugnung des Genozids und die
kemalistisch-faschistische Staatsdoktrin, sowie der vorherrschende türkische
Chauvinismus erfordern die aufgeführten demokratischen Forderungen in
Nordkurdistan/Türkei (wie auch in gewisser Weise in Deutschland) aufzustellen.
Nur dadurch wird konkret ein demokratisches Bewusstsein in der Konfrontation
mit der Völkermordgeschichte des osmanischen Staates innerhalb der Werktätigen
geschaffen.
Leserbrief:
– „Rückgabe geraubter
Häuser, Grund und Bodens usw.“ – Restitution an wen? Wenn keiner mehr dort
lebt, läuft das eventuell auf etwas Ähnliches (auf etwas Ähnliches, nicht auf
dasselbe!) hinaus wie deutsche und österreichische Umtriebe seit 1990 bezüglich
früheren Eigentums in Tschechien etc. Statt Restitution an Menschen, die
tatsächlich zurücksiedeln möchten, dreht es sich hier um pure niederträchtige
Geldgier und Spekulation von „Jungvertriebenen“, vermischt mit revanchistischem
Unrat. So etwas bekämpft nicht den Chauvinismus, sondern heizt ihn sogar an.
Antwort:
Wir meinen, die „deutschen und österreichischen Umtriebe“
(wenn du damit die Forderungen der „vertriebenen“ Sudetendeutschen etc. meinst)
können nicht mit der Frage der Entschädigung der armenischen Nachfahren des
Völkermordes gleichgesetzt werden. (Und schon gleich gar nicht mit
„niederträchtiger Geldgier“.) Alle Umsiedlungen im Rahmen des Potsdamer
Abkommens waren gerecht und Ausdruck der antifaschistischen Politik der
sozialistischen Sowjetunion.
Die Frage stellt sich für die Nachfahren der ArmenierInnen
ganz anders. Wenn vor allem türkische und kurdische KommunistInnen die Rückgabe
geraubter Häuser, Grund und Bodens, Restitutionen fordern, so hat das nur damit
zu tun, dass dieses historische Unrecht, das zu Beginn der Entwicklung des
Imperialismus und der Nationenbildung begangen wurde, noch immer ein Hindernis
in der Entwicklung des Klassenbewusstseins der Völker ist. Darum ist es unsere
Aufgabe den barbarischen Genozid ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und
praktische Schritte zu einer Versöhnung der Völker zu gehen.
Die Frage an wen Restitutionen, Entschädigungen zu geben
sind, ist ziemlich eindeutig zu beantworten: An die Nachfahren der beraubten
ArmenierInnen und wenn keine mehr ausfindig zu machen sind, dann entweder an
armenische Stiftungen/Organisationen in der Türkei, in Armenien oder in der
Diaspora. Ein Großteil der „ursprünglichen Akkumulation“ der heutigen
türkischen Bourgeoisie (im Übrigen auch der kurdischen) beruht auf dem Raub
armenischer Güter und Kapitals. Sogar der Grund und Boden auf dem das
monumentale Atatürk Mausoleum sowie der Präsidenten-Herrschaftspalast Erdoğans
gebaut wurden, sind armenisches Eigentum! Es ist eine unbedingte Notwendigkeit,
diese geschichtliche Tatsache ins Bewusstsein der Werktätigen zu rufen und
bereit zu sein diese Konsequenzen zu tragen.
Leserbrief:
– „Entschädigungen an die Republik Armenien“ – an den
heutigen Staat Armenien? Das russische Armenien war von dem Völkermord
überhaupt nicht betroffen und spielte andererseits nach dem Zusammenbruch des
Zarismus und des Osmanischen Reichs und vor der Erkämpfung einer armenischen
Sowjetrepublik eine üble Rolle auf heutigem türkischem Territorium, d.h. die
armenische Bourgeoisie frönte ihren expansionistischen Ambitionen. Die heute in
Armenien an der Macht befindliche Bourgeoisklasse ist aber zweifellos der
ideelle Nachfolger des damaligen reaktionären Armenien.
Antwort:
Zunächst, zu sagen dass das „russische“ Armenien vom
Völkermord überhaupt nicht betroffen war, ist falsch. Nach Ostarmenien sind
während und direkt nach dem Völkermord ca. 300 000
überlebende ArmenierInnen aus Westarmenien und dem osmanischen Reich geflohen.
Das war eine große ‚Herausforderung‘ an den damaligen armenischen Staat. Nach
dem 2. Weltkrieg migrierten nochmals 120 000
ArmenierInnen, zum größten Teil aus der Diaspora, aber auch aus der Türkei in
die Republik Armenien. Wir meinen, dass der heutige armenische Staat, die
einzige staatliche Vertretung der armenischen Nation ist und als solche die
Adresse der Restitutionen, wenn es keine Nachkommen von ermordeten Armeniern gibt.
Auch wenn die armenische Bourgeoisie und der armenische Staat reaktionär sind,
ist die Forderung nach Entschädigungen etc. richtig, demokratisch, da es sich
um eine nationale Frage handelt.
Leserbrief:
– Aber – wie gesagt – das sind m.E. in concreto
unzutreffende Forderungen, sie ändern aber nichts an der politischen Substanz
des Flugblatts.
Schlußbemerkung BP und TA: Wir danken Dir für die konstruktive Kritik und hoffen einige Fragen von unserer Sichtweise aus konkreter und klarer dargestellt zu haben, als es im Rahmen eines Flugblattes möglich ist.
Kritikschrift von IA.RKP Österreich
Liebe Genoss/innen! Wir haben euer Flugblatt, das wir
insgesamt gut finden – mit einer kleinen Ergänzung zu Österreich –
weiterverbreitet, unter anderem auf der Armenien-Demo am 24.04.2015 in Wien.
Auf dieser Demo haben wir auch eine Rede gehalten, die sich in einigen
Schwerpunkten von eurem Flugblatt unterscheidet. (vgl. auch:
iarkp.wordpress.com)
Jetzt möchten wir euch aber einige Überlegungen und direkte
Kritiken an eurem Flugblatt mitteilen und würden gern dazu eure Meinung bzw.
Erklärungen erfahren. Ihr habt euch sicher ausführlicher als wir mit der sog.
„Armenier-Frage“ beschäftigt, aber uns kommen einige Punkte seltsam oder
unlogisch vor.
1. Es wird die Tatsache ausgeklammert, dass die
Armenier/innen schon vor den Verfolgungen Anfang des 20. Jahrhunderts, also etwa um 1900, kein geschlossenes
Siedlungsgebiet hatten, sondern in bestimmten Städten konzentriert waren – die
weitgehend von kurdischen Dörfern und Landgebieten umschlossen waren. Unseres
Wissens ist erst in der Sowjetunion ein Land entstanden/gebildet worden, wo
Armenier/innen dann durch Ansiedlungen die Mehrheitsnation gebildet haben.
Soweit wir wissen, war das sogenannte „russische Armenien“ bis nach der
Oktoberrevolution mehrheitlich von anderen Nationalitäten besiedelt. Die
Armenische Republik 1918 war hauptsächlich eine proimperialistische,
national-chauvinistische Staatengründung, die zu Recht von den Rotgardisten
zerschlagen wurde.
Antwort Bolşevik Partizan und Trotz Alledem:
Die armenische Bevölkerung bildete in vielen Städten
Westarmeniens entweder die Mehrheit oder aber sie war eine zahlenmäßig
bedeutende Minderheit. Im osmanischen Staat existierte ein Gouvernement
Armenistan, „Ermenistan Eyaleti“. Dieses umfasste u.a. die heutigen Städte
Bitlis mit 196 000 armenischer
EinwohnerInnen; Van 192 200; Erzurum 203 400, und Diyarbakır 81 700. (Raymond H. Kevorkian, „Die Armenier im Osmanischen Reich
vor 1915“, türkisch). Die bürgerlich-konterrevolutionäre, armenische Republik
wurde zwar 1920 im Bürgerkrieg zwischen der jungen Sowjetrepublik und der
imperialistischen Entente zerschlagen. Aber 1922 gründeten die Bolschewiki die
Transkaukasische Föderative Sozialistische Sowjetrepublik (SSR), wobei Armenien
ein Teilstaat dieser föderativen SSR war. Diese Transkaukasische Föderative SSR
war einer der vier Gründerstaaten der Union der Sozialistischen Sowjet
Republiken (UdSSR) 1922. 1936 wurde die Transkaukasische Föderative SSR
aufgelöst und drei neue sowjetische Unionsrepubliken gebildet, die Grusinische,
die Armenische und die Aserbeidschanische. [16]
Kritikschrift:
2. Weder historisch noch aktuell hat ein „Recht auf
Lostrennung für Westarmenien“ eine fortschrittliche Stoßrichtung. Welche Teile des
heutigen türkischen Staats habt ihr im Sinn, wenn ihr dieses Recht fordert?
Wollt ihr damit ausdrücken, dass die Armenier/innen z.B. aus
Istanbul (und Frankreich usw.) das Recht haben sollen, irgendwo im Osten des
heutigen Staats Türkei (nahe der Grenze zu Armenien oder Iran) eine neues
Heimatland zu gründen?
Antwort:
Wir sind der Meinung über die Geschicke der Nationen, haben
nur die Nationen selbst das Recht zu entscheiden. Wir können und müssen als
KommunistInnen natürlich unsere politische Meinung darüber bekunden, wie dieses
Selbstbestimmungsrecht im Interesse des Proletariats verwendet werden sollte.
Wir können aber nicht an Stelle der unterdrückten Nation entscheiden. Ein/e
Kommunist/in der einer herrschenden Nation angehört und der das Selbstbestimmungsrecht,
als Recht auf staatliche Lostrennung, nicht anerkennt und verteidigt ist in
diesem Punkt kein/e Kommunist/in.
Wer in Nordkurdistan/Türkei den Völkermord an der
unterdrückten Nation, den Armeniern leugnet und der das Rückkehr- und Selbstbestimmungsrecht
der Armenier nicht verteidigt, gehört zur Kategorie der Chauvinisten.
KommunistInnen vor allem in Nordkurdistan/Türkei, aber auch
international sollten anerkennen, dass im Genozid an den Armeniern eine
ungeheuerliche „geschichtliche Ungerechtigkeit“ verübt wurde, die auch heute im
Klassenkampf in Nordkurdistan/Türkei eine große Rolle spielt. Armenische
Überlebende des Genozids, bzw. heute vor allem ihre Nachkommen überall auf der
Welt verstreut, fordern zu Recht Anerkennung des Völkermordes und
Gerechtigkeit, die das Rückkehrrecht einschließt. Am 100. Gedenktag war einer der Hauptslogan: „Ich
erinnere und ich fordere“. Dies sollte von allen KommunistInnen unterstützt
werden, vor allem aber von den türkischen und kurdischen KommunistInnen.
Ja, wir sind der Meinung, es ist das Recht der Armenierinnen
in ihr „Heimat“land zurückzukehren. Dieses ist Westarmenien, das
Verwaltungsgebiet in den Grenzen des osmanischen Reiches.
Kritikschrift:
3. Wir halten es für falsch, dass „Entschädigungen an die
Republik Armenien“ bezahlt werden sollen. Wieso eigentlich? Auch dazu fällt uns
als „Vorbild“ und Parallele nur die reaktionäre Forderung ein, dass für die
Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in Europa der Staat Israel Geld
erhalten soll.
Antwort:
Die Frage, die ihr stellt ist komplex.
• Der Vergleich Israel und Armenien trifft in einer Hinsicht
nicht zu. Sehr verkürzt: Israel wurde als Staat gegründet auf der Vertreibung
und Enteignung der palästinensischen EinwohnerInnen des Staatsgebietes, das
Israel sich einverleibte. Aufgrund der besonderen Situation durch die Shoah und
der Einwanderung vieler jüdischer Flüchtlinge entwickelte sich in Palästina die
jüdische Nation, deren Existenz in diesem Gebiet die sozialistische
Sowjetunion und die kommunistische Weltbewegung 1947 anerkannten. Sie waren
für einen demokratischen Staat Palästina in dem die arabische und jüdische
Nation zusammenleben sollten. Als klar wurde, dass diese Lösung nicht
durchsetzbar war, unterstützte die sozialistische Sowjetunion in der UN die
Zweistaaten-Lösung und den Teilungsplan für Palästina 1948. Diese Situation
kann mit der des armenischen Staates überhaupt nicht verglichen werden.
• Die Frage der „Entschädigungen/Wiedergutmachung“ an den
Staat Israel durch Deutschland. Wir meinen, dass wenn ein imperialistischer
Staat wie Deutschland einen Völkermord/Genozid/Shoah begeht und die deutschen
Werktätigen in ihrer Mehrheit diesen Staat dabei aktiv unterstützt haben und
mitschuldig sind, ist es eine Frage der Demokratie, dass „Entschädigungsleistungen“
gefordert und gegeben werden.
Das betrifft zum Beispiel auch Forderungen der indigenen
Völker gegen den US- und kanadischen Imperialismus etc.
Die deutschen Entschädigungen an den israelischen Staat und
die Jewish Claims Conference wurden im Londoner Abkommen 1956 festgelegt. Sie
waren bestimmt – und begründet mit dem Leid der jüdischen Flüchtlinge und
Überlebenden – „für Unterstützung, Eingliederung und Ansiedlung jüdischer
Opfer“, sowie als Ausgleich für die geraubten Vermögenswerte der europäischen
Juden durch die Nazis. Nur 11% der deutschen Bevölkerung waren für dieses
Abkommen, alle deutsch nationalen Parteien, weite Teile der CDS/CSU, Strauß
etc. lehnten es ab.
Die Entschädigungen des deutschen Staates haben natürlich
einen Staat unterstützt, der die palästinensische Bevölkerung vertrieb, gegen
sie Pogrome und Kriege führte. Die Entschädigungen wurden nicht nur in Geld
sondern auch in kostenlosen Waffenlieferungen gewährt.
Was wäre die Aufgabe der KommunistInnen in Deutschland gewesen?
Sollten sie die Losung aufstellen keine Entschädigungen an einen reaktionären
jüdischen Staat, der das palästinensische Volk aus seinem Land vertreibt? Das
wäre unserer Meinung nach Wasser auf die Mühlen aller Antisemiten. Leider
kennen wir die Position der KPD nicht. Wir denken, KommunistInnen hätten
unbedingt für individuelle finanzielle Unterstützung aller jüdischen Opfer und
ihrer Nachkommen eintreten müssen. Die Rolle des Staates Israel gegenüber dem
palästinensischen Volk, die Deutschland auch unterstützte, hätte gleichzeitig
angeklagt und verurteilt werden müssen.
• Nun zur Armenischen Republik, die natürlich ein
reaktionärer kapitalistischer Staat ist. Wir halten es für die Entwicklung des
sozialistischen und demokratischen Bewusstseins der Werktätigen in
Nordkurdistan/Türkei und in der BRD absolut für notwendig, dass an beide
Staaten Entschädigungsforderungen für die Nachkommen des Genozids bzw. für den
armenischen Staat gestellt werden. Die 100 jährige Leugnung des Völkermordes an
den Armeniern, die konstituierend für die türkische Republik ist, kann nur so
überwunden werden, dass die Herrschenden zur Rechenschaft gezogen werden, auch
auf diesem Gebiet der finanziellen Entschädigung, ihre Schuld eingestehen
müssen und die Völker ihre Mitschuld praktisch erkennen und dementsprechend
politisch handeln.
Kritikschrift:
4. Uns ist klar, dass verschiedene Restitutionsforderungen
und Entschädigungen nur in demokratischen und gleichberechtigten Verhandlungen
geklärt werden können – z.B. eine Forderung, dass der türkische Staat in Van
und anderen Städten neugebaute Siedlungen für „rückkehrwillige“ Armenier/innen
zur Verfügung stellen soll usw. Insgesamt sind aber einige eurer
diesbezüglichen Forderungen, wie z.B. „Reparationszahlungen für alle beschlagnahmten
Vermögenswerte“ so abstrakt, dass da jeder Reaktionär seine demagogische, zum
Nationenhass aufstachelnde Forderung davon ableiten kann. Was denkt ihr, an wen
und wofür eine Volksrepublik Türkei/Nordkurdistan „Entschädigungen“ zahlen soll
– mehr als 4 Generationen danach!? Doch wohl nicht an eine reaktionäre Republik
Armenien oder an armenische Kapitalisten, die Ersatz für den Verlust der
Betriebe ihrer Urgroßväter einfordern!?
Antwort:
Konkret können die Forderungen nur dann umfassend erhoben
und geklärt werden, wenn erstmals prinzipiell der Völkermord als Völkermord
anerkannt wird. Das gibt jedem Nachkommen der überlebenden ArmenierInnen die
Möglichkeit persönliche Forderungen ihrer Familien vorzubringen und anzuklagen.
Es existieren hinreichende Dokumente des osmanischen Staates, in den Händen der
Überlebenden, in den Archiven der armenischen Republik, (in den noch nicht
geöffneten Archiven in Jerusalem, in Boston und in der Türkei) in russischen,
sowjetischen Archiven. Daraus können ziemlich genaue Entschädigungsforderungen
herauskristallisiert werden, vorausgesetzt der türkische Staat ist dazu bereit.
In 2011 hat die AKP-Regierung ein Gesetz erlassen, in dem
die von der türkischen Republik in den 1920er und 1980er Jahren beschlagnahmten
Vermögenswerte von Stiftungen, an diese zurückgegeben werden müssen. Das betraf
sehr stark die armenischen Kirchengemeinden und Stiftungen, wie auch
griechisch-orthodoxe etc. Der türkische Staat hat seitdem einige Besitztümer
wie Grundstücke, Immobilien, Kirchen etc. tatsächlich rückübertragen.
Wir KommunistInnen sind weder Anhänger der armenischen
Kirchen/Gemeinden noch des armenischen Staates. Aber wir sind für das
demokratische Recht, der Gleichberechtigung aller Religionen und Nationen,
Nationalitäten. Wir stellen uns gegen jeglichen Großmachtchauvinismus der
herrschenden Nation und unterstützten in dieser Hinsicht, und nur in dieser die
berechtigten Forderungen nach Entschädigungen.
Eine Volksrepublik Türkei, die nicht bereit dazu ist, das zu
machen, was die KommunistInnen von der Bourgeoisie fordern, wäre keine
Volksrepublik Türkei. Eine Volksrepublik wird nicht erkämpft werden, wenn die
Völker Nordkurdistan/Türkei sich nicht auf Grundlage der Anerkennung der
Barbarei an den unterdrückten Nationen versöhnen. Unsere Forderungen sind in
diesem Sinne vor allem ein Versuch die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und die
Völker an ihre Mitschuld zu erinnern, ein Aufruf sich der Geschichte und der
Verantwortung zu stellen.
Uns der Geschichte stellen – Reise nach Jerewan
Lange haben wir diese Reise vorbereitet – GenossInnen von
Yeni Dünya için Çağrı und wir, GenossInnen von Trotz alledem, Flugblätter und
Transparent geschrieben, gestaltet und für die Übersetzung gesorgt. Jetzt kurz
vor der Abreise macht sich Aufregung breit. Bald werden wir uns in Jerewan
treffen und aktiv am 100. Jahrestag des
Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern teilnehmen.
Den Flughafen verlassen wir um ungefähr ein Uhr dreißig in
Jerewan. Beinahe erstaunt bemerken wir, wie klar die Luft ist. Mit dem Taxi
durch die nächtliche Stadt. Die Hauptstadt und mit ungefähr 1,2 Millionen Einwohnern größte Stadt Armeniens
begrüßt uns in Ruhe mit leeren Straßen. Ein wenig Erleichterung darüber, dass
viele Schilder ihre Hinweise auch auf Englisch geben.
Vorbei an verschiedenen Werkstätten und den unumgänglichen
Spuren der imperialistischen Weltordnung: Verkaufscenter und Filialen z.B.
deutscher und amerikanischer Konzerne. Wir passieren die Destillerie Ararat, wo
der berühmte gleichnamige armenische Cognac, eines der bekanntesten armenischen
Exportgüter, hergestellt wird.
Unser Hostel liegt am Rand der Innenstadt im fünften Stock
eines typischen Stadthauses. Die „24-Stunden Rezeption“ ist ein junger Mann,
Mitglied der kleinen und überaus sympathischen Belegschaft unserer, wie sich
während unseres Aufenthalts jeden Tag mehr herausstellt,
Glücks-Wahl-Unterkunft.
Aufgeregt, gespannt auf die kommenden Tage und müde von
einer Reise von „West“ nach „Ost“ fallen wir ins Bett.
Der erste Morgen in Jerewan ist sonnig, der Blick aus
unserem Fenster geht über eine Hinterhoflandschaft und landet auf einem der
schneebedeckten Gipfel des Ararat.
Die Stadt
Viele Gebäude sind schön: Jugendstil, alte armenische
Holzhäuser mit filigraner Holzschnitzerei an Fenstern und Balkonen. Groß
angelegte Wohnsiedlungen – sozialistische Architektur, kaum Hochhäuser – aber
auch Armenviertel mit Wellblechhütten, Slums. Der Zugang zu den Hinterhöfen ist
fast immer bunt bemalt. Es gibt offensichtliche Armut und Wohnungslosigkeit.
Ein Paar lebt auf einer Bank, sie liest unter ihrem zum Sonnenschutz
aufgespannten Regenschirm – er döst neben der gemeinsamen Habe aus ein paar
Pappkartons und einigen gefüllten Plastiktüten.
Um die Innenstadt herum ist ein grüner Gürtel angelegt. Ein
breiter Park zieht sich von Süden nach Norden. Immer wieder Denkmäler
armenischer Berühmtheiten aus Kultur oder Wissenschaft und Brunnen: Eine
Vielzahl verschiedener Wasserspielanlagen. Doch kaum eine ist in Betrieb: Im
südlichen Teil verfällt das meiste. Bröselt der Anstrich. Holzbänke rotten und
Springbrunnen rosten vor sich hin. Die Bauart, die Anlage des Parks weist
deutlich auf die sozialistische Zeit Armeniens. Der sichtbare (absichtliche?)
Verfall wirkt symbolisch und macht ein wenig traurig. Vor allem, als wir feststellen,
dass im nördlichen Teil des Parks, ganze Bereiche privatisiert werden: Cafés
und Restaurants nehmen Raum, wo bisher das konsumfreie Platznehmen unter Bäumen
oder Sonnendächern jederzeit möglich war. In einem schlichten Pavillon spielen
ältere Männer Tavla und Karten.
In der gesamten Innenstadt gibt es immer wieder großflächige
Wasseranlagen – An Trinkwasserbrunnen löschen Passanten ihren Durst.
Ein besonderer Ort ist das Bauwerk, das „Die Kaskaden“
genannt wird: Aus dem Park heraus, zieht sich eine kleine Anlage mit
geometrischer Bepflanzung und modernen Skulpturen hin zu einem imposanten Bau,
der hauptsächlich aus einer breiten Treppenanlage besteht.
Wir bewundern in der Parkanlage unter anderem eine
überdimensionale Teekanne aus dickem Schnörkeldraht und bestaunen eine bronzene
runde Schönheit, bis wir vor den 572 Treppenstufen aus hellem Kalktuff stehen.
Rechts und links gehen immer wieder Wege in kleine von Strauchhecken gesäumte
Terrassen ab. In der Mitte der breiten Treppe pausieren wir auf großen
Plattformen. Wieder Skulpturen und Reliefs: Eiserne Eidechsen laufen die Wände
entlang, Chromglänzende Athleten sind in Sportübungen auf dem obersten Plateau
festgehalten.
Am Ende der Treppe oben angekommen, genießen wir den Blick
über Jerewan und in der Ferne: Ararat – wunderschön! Erst beim Abstieg bemerken
wir, dass es noch ein Innenleben dieses seltsamen Baus gibt. Rolltreppen! Eine
Reihe führt hinauf, die andere abwärts und seitlich davon Werke moderner Kunst.
Wir sind im „Cafesjian“, Zentrum für moderne Kunst. Kostenfrei und
überraschend.
Das ehemalige Hotel Armenia am Platz der Republik ist Teil
einer Hotelkette geworden. Nach wie vor treffen sich in den Apriltagen dort
tagsüber die aus der Diaspora anreisenden Armenier. Auch uns zieht es täglich
in das Café auf der Terrasse. Wir beobachten die Menschen und tatsächlich
treffen wir einen Freund aus Deutschland, der uns wertvolle Hinweise auf den
Ablauf der kommenden Tage geben konnte. Mit der Belegschaft der Café-Bar
diskutieren wir und werden, wegen unserer politischen Meinung, ab da sehr
herzlich begrüßt. Nebenbei scheint der armenische Mokka, „haigagan surtsch“ in
diesem Café von Tag zu Tag besser zu schmecken.
Der Platz der Republik ist dieser Tage auch Zentrum vieler
Aktivitäten für das Gedenken. Hunderte Jugendliche führen einen szenischen Tanz
auf, in den Abendstunden kann ein Wasser-Licht-Klang-Spiel bewundert werden. Am
23. April tritt „System of a down“ „umsonst und draußen“ auf. Diese, offenbar
sehr bekannte Rockband aus Kalifornien, deren Mitglieder allesamt armenischer
Herkunft sind, fordert in harten Songs Anerkennung des Völkermords.
Hunderttausende strömen auf den Platz, nachdem die Sicherheitskontrollen
endlich die stundenlangen Sperrungen der Innenstadt nach und nach geöffnet
hatten. Das Konzert wird von einer begeisterten Menge trotz strömenden Regens
miterlebt.
Anmoruk
Anmoruk bedeutet „Vergissmeinnicht“. Das Anmoruk ist das
Symbol der Kampagne zum Gedenken an den hundertsten Jahrestag des Völkermords.
Das dunkle Zentrum der Blüte erinnert an die Schrecken des Völkermords. Ein
helles Violett steht, so wurde uns gesagt, für die Idee der Ewigkeit, „die
Seelen“ der Ermordeten. Zwölf gelbe Blütenstempel zeigen die zwölf Säulen des
Mahnmals, die zwölf verlorenen Provinzen in Westarmenien – gleichzeitig gelb
für das Sonnenlicht, das für alles Leben Hoffnung gibt. Die fünf Blütenblätter
symbolisieren die fünf Kontinente, auf denen ArmenierInnen in der Diaspora
leben. Ihr Violett steht für die Farbe der armenischen Kirche, die zugleich
armenisches Selbstbewusstsein ausdrücken soll.
Das Anmoruk findet sich in Jerewan als Anstecker, Aufkleber,
Plakat, auf Regenschirmen. Jeder Laden, jedes Lokal hat ein Anmoruk am Fenster.
Kein Auto und kein LKW fahren ohne, und immer wieder hängen Fahnen und
Transparente an Balkonen, Häusern oder quer über die Straße gespannt. Als wir
ein Anmoruk – geknüpft in einen Teppich – in der Auslage eines Teppichladens
fotografieren, werden wir von zwei älteren Damen angesprochen. Die
Verständigung geht nur über Hände und Füße und zwei Brocken armenisch, bzw.
fünf Brocken russisch. Zum Glück haben wir schon unsere Flugblätter in
armenischer Sprache bei uns. Suzanna weint, als sie versteht, dass wir aus
Anlass des hundertjährigen Gedenkens in Jerewan sind. Wir gehen fast zwanzig
Minuten zusammen. Auch die beiden schimpfen auf die Sprachgrenzen. Nach dem
herzlichen Abschied drehen wir uns immer wieder um. Sie winken noch, als wir
sie schon fast nicht mehr sehen...
In ganz Armenien haben Schul- und Kindergartenkinder
Anmoruks aus Papier oder Stoff gemalt, geschnitten, gefaltet, geklebt. Auf der
Rückseite stehen Schule und Alter der Kinder sowie poetische Gedenkzeilen. Millionen dieser Vergissmeinnichts werden von
Jugendlichen an Passanten verteilt, an den Gedenkstätten den Menschen an die
Kleidung geheftet. Mit zum Teil leuchtend lila Blüten am Kragen wirken die
traurigen und ernsten Menschen als feierten sie im Erinnern an die Ermordeten
das Leben!
Memorial
Mahnmal und Museum für den Völkermord befinden sich auf der
Anhöhe „Zizernakaberd“, deutsch „Schwalbenfestung“. Zu Fuß gehen wir durch den
Wald der Erinnerung auch Gedächtnisallee genannt. Hier pflanzen Jahr für Jahr
Menschen unterschiedlichster Herkunft nach und nach Bäume gegen das Vergessen.
Vor uns liegt nun ein großer Platz, der rechts durch eine niedere Mauer als
Absturzschutz begrenzt wird. Dort weit im Westen bleibt der Blick auf dem
mächtigen Bergmassiv des Ararat liegen.
Die Bedeutung dieser Gipfel für das armenische Volk ist
allgegenwärtig. Sehnsucht, Verlust, Abschied, Trauer. Die schneebedeckten
Gipfel scheinen zum Greifen nah. Der Fluss Arax trennt Armenien von der Türkei.
Weit dahinter beginnt der Aufstieg zum Ararat. Auch im Gedenken spielt er immer
wieder eine Rolle: „Solange die Wahrheit nicht anerkannt ist, wird der Gipfel
des Ararat mit Blut gefärbt sein.“
Unter dem Pflaster dieses Teil des Platzes ist das Museum
eingerichtet. Weil es bis zum 25. April
für „einfache“ Menschen geschlossen ist, werden wir erst nach dem Gedenktag die
Ausstellung besuchen können. Doch bereits jetzt können wir an der Tür einer
Museumsmitarbeiterin überreichen, was wir aus der Türkei und Deutschland
mitgebracht hatten: Artikel und Erklärungen zum 100. Jahrestag des Völkermords und unsere Flugblätter in Armenisch,
Deutsch, Englisch und Türkisch, die wir eigens für unsere Fahrt nach Jerewan
vorbereitet hatten.
Wieder oben angekommen richten wir uns nach Westen, wo sich
etwa zweihundert Meter entfernt das Mahnmal erhebt. Auf der linken Seite
begrenzt den Platz eine etwa drei Meter hohe Mauer, die Namen der Städte und
Dörfer, aus denen Armenierinnen und Armenier vertrieben und ermordet wurden
eingemeißelt. Nach alten traditionellen Mustern gestaltete armenische
Kreuzsteine und Grabplatten auf dem Rasen davor.
Das Mahnmal: Zwölf Säulen, Symbol für die zwölf Provinzen in
Westarmenien, bilden ein Rund. Keine geraden aufgerichteten Säulen, eher
schützend oder wie Stein gewordene Blütenblätter einer halb geschlossenen Blüte
neigen sie sich als offene Kuppel über die Mitte, in der immerzu ein Feuer
brennt.
Über schmale Treppen mit wenigen Stufen zwischen den Säulen
kommen wir in den im Durchmesser ungefähr dreißig Meter großen Innenraum. Rund
um das Feuer herum liegen im Abstand von ca. zwei Metern Blumen und werden
immer wieder neue abgelegt. In den Tagen des Gedenkens wird dort ein
kreisrunder rund zwei Meter hoher Wall aus Blumen entstehen. An der Außenseite
der Säulen sind auf der Rückseite des Runds Gedenktafeln angebracht. An
Menschen, die sich besonders für die Anerkennung des Völkermords bemüht hatten,
z.B. Franz Werfel, Armin T. Wegener u.a.
Wenige Meter westlich des Säulenrunds ragt wie ein
gespaltener Zahn ein 44 Meter hoher spitzer Obelisk auf. Von weitem ist die
Spalte nicht bei jedem Licht zu erkennen. Doch von nahem zeigt sich, dass West
und Ost durch nichts verbunden scheinen außer der Form, strebt doch jeder Teil
zusammen mit dem anderen in den Himmel: Bild für den durch den Völkermord
gezogenen tiefen Graben zwischen Ost- und Westarmenien, der dennoch die Einheit
des armenischen Volks nicht auslöschen konnte.
Gespräche, Austausch, Gedanken
Viele junge ArmenierInnen sehen sich als Überlebende des
Völkermords. Seht her, wir leben: „1915 – failed genocide – I live!“
(1915 – ein
verfehlter Völkermord – ich lebe!) ist ein T-Shirt-Aufdruck, den wir oft sehen.
Auch in der Plakatserie (siehe nächste Seite) kommt diese selbstbewusste
trotzige Haltung zum Ausdruck.
1915 wurden über 1,5 Millionen
Menschen ermordet. 2015 sind wir, trotz alledem 10 Millionen.
Auf unsere Frage, was der Völkermord für die Jugendlichen
heute bedeutet, was sie für die Zukunft wollen, fällt vor allem eine Antwort
immer wieder auf: „Wir wollen mit Jugendlichen aus der Türkei, aus Deutschland
zusammen kommen – auf einer Art Konferenz wollen wir ohne Regierungsbeteiligung
die Vergangenheit bearbeiten und uns für die Zukunft verständigen.“
Unsere jugendlichen Gastgeber im Hostel diskutieren jeden
Tag unseres Aufenthalts mit uns, wir schließen einander ins Herz. Nur einige
Gedanken und Meinungen, die wir austauschen konnten, finden hier Platz.
Im Gespräch wird klar, dass der Völkermord immer noch
konkrete Auswirkungen hat: Armenien ist, vor allem nach Zusammenbruch des sozialimperialistischen
„Ostblocks“, politisch sehr isoliert. Zwischen der Türkei und Aserbaidschan,
Georgien und Iran gelegen, sind die ökonomischen Bedingungen katastrophal. Die
Grenze zu Armenien ist von Seiten des türkischen Staates geschlossen. Armeniens
Industrie wurde nach dem Niedergang des Sozialimperialismus immer schwächer,
Arbeitsplätze gibt es in diesem Wirtschaftszweig nur wenige. Genaue Zahlen über
Erwerbslosigkeit konnten wir nicht in Erfahrung bringen. Das höchste Gut
armenischer Jugendlicher scheint die Bildung zu sein. Viele studieren, die
meisten sprechen ein nahezu perfektes Englisch und nehmen in Kauf, für einen
guten Job auch auszuwandern. In Armenien leben nur knapp drei Millionen Armenierinnen und Armenier.
Karina ist überzeugt davon, dass die Bildung, konkret, was
z. B. türkische Kinder in den Schulen lernen, dafür verantwortlich ist, wie sie
über Armenien und den Völkermord denken. Wir diskutieren staatliche
Manipulation über die Medien und Schulbücher und dass die Herrschenden so dafür
sorgen, dass die Werktätigen in Unwissenheit bleiben – Feinde der Aufklärung,
Feinde des Fortschritts, Feinde der Völkerverständigung. Karina und Nazeli
bringen ihre Achtung vor der Arbeit unserer GenossInnen zum Ausdruck, als sie
erfahren, dass wir zum Teil schon mehr als zwanzig Jahre zu diesem Thema
politisch arbeiten und in unzähligen Veranstaltungen und Artikeln die Wahrheit
verbreiten. Internationale Völkerverständigung ist das Thema, was wir am
häufigsten besprechen. Wie können wir das erreichen? Die beiden sind überzeugt
davon, dass unsere Arbeit in Deutschland, Türkei/Nordkurdistan und jetzt in
Jerewan – unser gemeinsamer Austausch in diesen Tagen – genau das ist, was
unternommen, verbreitet und ausgedehnt werden muss.
Einer Gruppe von Schülern begegnen wir am Mahnmal, sie
fragen, ob wir als Deutsche an den Völkermord glauben. Die Antwort: „Nein, ich
glaube nicht daran, ich weiß, dass und wann und von wem der Genozid an den
Armenierinnen und Armeniern – sowie anderen Volksgruppen im osmanischen Reich –
verübt wurde. Ich weiß, wessen Interessen damit bedient wurden und wer die
Verantwortlichen waren. Wir sind ArbeiterInnen aus den Ländern Deutschland und
Türkei, aus denen die Täter kamen. Ein Teil der Generation unserer Urgroßväter
hat eure Urgroßeltern ermordet. Wir sind hier, um der Opfer zu gedenken. Wir
fordern von unseren Staatsführungen, den Völkermord anzuerkennen mit allen
Konsequenzen. Wir fordern nicht nur die Anerkennung, wir fordern auch das
Rückkehrrecht nach Westarmenien und proklamieren das Recht für Westarmenien
sich mit Ostarmenien zu vereinen. Wir fordern das von der Türkei und
Deutschland als Nachfolgestaaten des osmanischen Reichs und des deutschen
Kaiserreichs. Wir arbeiten in Deutschland und in der Nordkurdistan/Türkei für
die Aufklärung über die geschichtlichen Zusammenhänge und engagieren uns für
die Verständigung der Völker.“
Voller Staunen reißen sie die Augen auf. Wir werden in den
Arm genommen und geküsst. Ein Junge sagt, dass er fast nicht glauben kann, dass
er solche Menschen wie uns hier trifft. In solch ähnlichen Situationen finden
wir uns während unseres gesamten Aufenthalts immer wieder. Ob wir allein, in
kleinen Grüppchen oder alle zusammen unterwegs sind. Die Menschen öffnen uns
ihre Herzen, sobald wir unsere Haltung offen darlegen.
Die meisten, mit denen wir sprechen, stehen hinter der
armenischen Regierung. Nur eine ältere sehr resolute Frau macht ihrem Ärger
Luft: „Unser Präsident ist sehr schlecht. Er bestiehlt uns. Woher hat er denn
die Millionen?“
Der Präsident, Sarkisian, wird in Jerewan uns gegenüber vor
allem wegen seiner deutlichen Absage an die Einladung zum Gedenken der Schlacht
von Çanakkale/Gallipoli gelobt. Der türkische Staatspräsident Erdoğan hatte
dazu ausgerechnet für den 24. April 2015
eingeladen!
In all unseren Jerewan-Diskussionen, auch über soziale
Fragen, wie Wohnkosten, Lebensunterhalt, Erwerbslosigkeit, die Frauenfrage,
Perspektiven, steht der Völkermord über allen anderen Themen. Erlebte
Erkenntnis in unserer Gruppe: Ohne den notwendige Kampf für die Lösung der
armenischen Frage als nationale Frage, kann der Kampf gegen Ausbeutung und
Unterdrückung durch die armenische Bourgeoisie nicht erfolgreich geführt
werden. Das heißt: Anerkennung des Völkermords mit allen Konsequenzen, Rückgabe
von geraubtem armenischen Eigentum, Entschädigung für die Zerstörung
armenischer Kulturgüter, Rückkehrrecht für Armenierinnen und Armenier nach
Westarmenien, Recht auf Vereinigung von West- mit Ostarmenien inklusive Recht
auf Lostrennung und nationale Selbstbestimmung.
Wir als KommunistInnen aus Deutschland und der
Türkei/Nordkurdistan unterstützen mit unserer Arbeit die Klassensolidarität und
praktizieren so den proletarischen Internationalismus!
Unsere Aktion
Vor unserem Aufbruch im Hostel ist Nazeli gerührt: „What you
are doing, hundred of Armenians could not do.“ – „Was ihr tut, könnten hundert
Armenier nicht tun.“ Sie ist davon überzeugt, dass vor allem unsere Herkunft
aus Deutschland und Türkei/Nordkurdistan für alle Menschen, denen wir mit
unserer Haltung begegnen, enorm wichtig ist. Hundert Armenier könnten die
gleiche Haltung vertreten, unsere kleine Gruppe hat ihrer Meinung nach eine
größere Wirkung.
Wir verstehen, wie wichtig es ist, dass sich für die
Anerkennung des Völkermords mit allen Konsequenzen, die Nachfolgegenerationen
der Werktätigen aus dem Land der Täter der Verantwortung, der Geschichte
stellen.
Am 24. April ist der
Himmel bedeckt. Das Taxi muss uns am Fuße des Bergs aussteigen lassen, weil die
Hauptstraße für zivile Fahrzeuge gesperrt ist. Zu Fuß gehen wir, bepackt mit
unserem Material, an der dreispurigen Straße entlang. Wir erfahren von den alle
hundert Meter postierten Polizisten, dass die Straße bis mindestens zwölf Uhr
gesperrt bleibt. Macht nichts, denken wir, solange wir nur auf die andere Seite
kommen, wo der breite Fußweg beginnt, den ab Mittag die „einfachen“ Menschen
begehen werden, um zum Mahnmal zu gelangen. Doch noch bevor wir überhaupt am
höchsten Punkt der Straße sind, werden wir von zwei Zivis freundlich aber keine
Widerrede duldend zum Umkehren aufgefordert. In einem Bushäuschen wartend,
beobachten wir die Staatslimousinen von Armenien, Frankreich und Russland.
Sarkisian, Hollande und Putin rasen keine zwanzig Meter vor uns den Berg
hinauf... Die Zeremonie für die Offiziellen beginnt pünktlich – von unserem
Platz aus können wir winzig klein die Menschen auf dem Mahnmal erkennen. Der
nächsten größeren Gruppe armenischer Männer, die bergauf gehen, schließen wir
uns an und werden unerwartet beim Schleppen unterstützt.
Wir kommen dort an, wo schon Hunderte warten, dass der
Fußweg endlich geöffnet wird. Schilder mit dem Symbol für den 100. Gedenktag, Fotos ermordeter Verwandter,
Plakate mit verschiedenen Aufschriften, Forderungen werden hoch gehalten.
Bilder von Hrant Dink, der Herausgeber der in der Türkei erscheinenden
armenischen Zeitung Agos wurde 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen.
Armenische Fahnen. Aus allen Schichten, Menschen aller Altersgruppen: Veteranen
der Roten Armee, Jugendliche, Familien, Gruppen aus verschiedenen Ländern – es
kommen immer mehr Menschen auf den Platz vor der Polizeisperre. Junge
StudentInnen verteilen die von Kindern hergestellten Anmoruks.
Ab dem Moment, als wir unser Transparent öffnen, erleben wir
keinen Moment mehr ohne von Menschen angesprochen zu werden. Immer wieder wird
der Text laut gelesen. Viele lassen sich vor und mit uns und dem Transparent
fotografieren. Eine junge Studentin adoptiert uns. „Now I‘m your armenien
daughter...“ – „Jetzt bin ich eure armenische Tochter.“ Kurze Zeit später gibt
sie vor unserem Transparent einem armenischen Fernsehsender ein Interview.
Ihre Hinweise auf die Herkunft von Yeni Dünya için Çağrı und
Trotz alledem können wir an ihrer Gestik ablesen, worüber sie sonst noch
gesprochen hat? Soviel konnte sie sich noch erinnern, dass es um die
Freundschaft der Völker ging und wie wichtig sie es findet, dass gerade
Menschen aus der Türkei und Deutschland hier diese Aktion durchführen.
Insgesamt 4 700
Flugblätter werden von den Menschen begeistert genommen und sofort gelesen.
Viele versuchen mit uns darüber zu diskutieren, auch auf Armenisch. Kurze
Gespräche, meist auf Englisch vertiefen unsere Wahrnehmung, dass diese Aktion
an dieser Stelle an diesem Tag überaus richtig und wichtig ist. Dass am 24. April auch in Deutschland und in der Türkei
Flugblätter zum 100. Jahrestag des
Völkermords verteilt werden und Aktionen stattfinden, dass es dort Werktätige,
DemokratInnen und KommunistInnen gibt, die nicht locker lassen werden, bis
nicht nur die Regierungen, sondern auch die Völker der Opfer gedenken und die
Konsequenzen ziehen, überrascht viele. Wir werden beglückwünscht und auch
unterstützt.
Nachdem er das Flugblatt aufmerksam gelesen hatte, verteilt
ein Arbeiter aus Jerewan über 1 500
davon. Unsere „armenische Tochter“ und noch ein weiterer Arbeiter aus
Aserbaidschan, verteilen mit uns. Eine Frau, überquert den Platz – Tränen in
den Augen, um unsere Genossin, die das Transparent hält, auf das Gesicht zu
küssen.
Kaum einer von uns kann sich erinnern, jemals eine solch
emotionale Aktion erlebt zu haben. Nur ein Angriff zeigte, dass auch hier der
Antikommunismus auf dem Posten ist. Von wem wir diese Blätter hätten, fragt ein
Mitglied des Komitees für den Gedenktag, so stellte er sich vor, während er
unsanft versuchte, die Flugblätter der Genossin zu entreißen. Dieser Tag sei
zum Gedenken und nicht für die Propaganda der Kommunisten. Er will nichts hören
von Völkerfreundschaft. Wir sind Kommunisten wurde ihm geantwortet, wieso wir
das verstecken sollten. Er lässt erst von uns ab und entschuldigt sich bei der
Genossin, nachdem sie ihn dazu gebracht hatte, das Transparent zu lesen.
„Türkei leugnet, Deutschland verschweigt – Wir gedenken der Opfer des
armenischen Volkes!“
Als der Regen stärker wird und wir nicht weiter verteilen
können, reihen wir uns in den Zug ein. Tausende Regenschirme und mittendrin
unser Transparent.
Auf dem Gipfel des Berges ziehen wir vorbei an der Figur
einer flüchtenden Frau mit kleinem Kind – Erinnern und Fordern!
Im Inneren des Mahnmals, inmitten der zwölf Säulen vor dem
Blumenwall spannen wir das Transparent und halten einige Minuten inne, bevor
wir uns auf der Rückseite des Säulenrunds aufstellen.
Trotz anhaltendem Regen bleiben immer wieder Menschen bei
uns stehen. Unser Transparent wird zum beliebten Fotohintergrund. Eine
Studentengruppe aus Ankara macht auf diesem Wege Bekanntschaft mit der Zeitung
Yeni Dünya için Çağrı.
Durchnässt und erfüllt von diesen Erfahrungen machen wir uns
auf den Rückweg. Bus und Metro bewältigen wir dank der Unterstützung einer
Armenierin aus dem Iran, die uns sicher durch das Gewirr armenischer Schilder
und Ansagen leitet. In unserem Stammlokal wärmen wir uns. Erst jetzt bemerken
wir, dass Schuhe, Socken, Jacken – alles klitschnass ist … Ja, wir waren sehr
zufrieden und glücklich, an diesem Tag diese Aktion durchführen zu können. Eine
Ahnung davon, wie es sein könnte, wenn die Völker sich verstehen und einig
sind, das bleibt. Viel Kraft und Motivation ziehen wir aus diesem Tag.
Ende oder Anfang?
Die vielen erfüllenden Begegnungen, die Erkenntnis über
Wesen und Bedeutung der Nationalen Frage – das Wissen, dass wir eine wichtige
und gute Aktion durchgeführt haben... bedeutende Momente. Von Jerewan nach
Moskau trägt so gut wie jeder und jede Reisende das Anmoruk. Als wir in Moskau
ins Flugzeug nach Frankfurt steigen, erkennen wir uns, die wir das Anmoruk
tragen, dass wir aus Jerewan kommen. Die lächelnden Augen mancher Mitreisenden
zeigen uns noch einmal, wie wichtig unsere Teilnahme war.
Es lebe die Völkerfreundschaft – Hoch die internationale
Solidarität!
GenossInnen von Trotz alledem!
Gedenktag – Türkei und BRD zum Völkermord an den Armeniern:
Eindrücke von Aktionen – Demonstrationen
Istanbul
Über 4 000 Menschen
formieren sich am Abend des 24. April
2015 entschlossen zu einem lautstarken Demonstrationszug auf der
Einkaufsstraße Istiklal Caddesi Beyoğlu, die zum Taksim führt.
Das Leittransparent der armenischen Organisation Nor
Zartonk, [17] die zu dieser Demonstration aufgerufen
hat, lautet „1915 – 2015 Der Völkermord hält an!“ Auf Schildern von Nor Zartonk
wird mit Fotos, Namen und der Unterschrift: „Wir sind hier“ an armenische
Menschen erinnert, die im Völkermord umgebracht wurden. Vielfach tragen junge
Menschen das Porträt von Sevag Şahin Balıkçı. Der armenische Jugendliche wurde
am 24. April 2011 bei seinem
Zwangs-Militärdienst von einem anderen Wehrpflichtigen in Batman angeblich „aus
Versehen“ erschossen. Es war ein rassistischer Mord. Der Täter wurde vom
Militärgericht freigesprochen.
Die aktuelle Titelseite der türkisch/armenische
Wochenzeitung AGOS, von Hrant Dink gegründet, wird in die Höhe gehalten. Die
überwiegende Mehrheit der DemonstrantInnen sind ArmenierInnen, nicht nur aus
Istanbul und anderen Orten Nordkurdistan/Türkei, sondern auch, wie bei allen
Gedenkveranstaltungen, aus der Diaspora. Frankreich, Australien, USA, Italien,
Österreich, Argentinien, BRD, auch aus der Republik Armenien.
Von der türkischen und kurdischen Linken sind kaum
Organisationen und Teilnehmerinnen dabei. Nur zwei Transparente sind zu sehen:
Von Çağri (Aufruf für eine neue Welt): „1915 – 2015, 100 Jahre sind genug! Zeit sich der Geschichte zu stellen!“ und von
Yeni Demokrat Gençlik: „Im 100. Jahr des
Völkermordes – Wir fordern Rechenschaft!“. Ansonsten Schilder von AKA-DER
(Anatolischer Kultur- und Forschungsverein) und der Grup İsyan Ateşi. Wir
laufen an einem Agit-Propstand der linken Gruppe EHP zur Mobilisierung für den
1. Mai vorbei. Angesprochen darauf, wie
sie an einem solch historischen Tag nicht mitdemonstrieren, sind sie verlegen
und meinen, ja das sei wohl falsch.
Es ist kein Schweigemarsch, sondern eine kämpferische
Manifestation. In den Häuserschluchten der berühmten Istiklal Caddesi sind
Slogans in armenisch und türkisch, den Völkermord anklagend und zum Widerstand
aufrufend laut zu hören. Den Herrschenden gilt die Parole: „Euer ist der
Völkermord – Unser ist der Widerstand!“ Den Werktätigen aller Nationalitäten
gelten: „Es lebe die Geschwisterlichkeit der Völker!“; „Schulter an Schulter
gegen den Faschismus!“. Den türkischen, kurdischen sowie Werktätigen anderer
Nationalitäten, die mit beteiligt am Völkermord waren: „Leugne nicht! Schweige
Nicht! Mach dich nicht mitschuldig!“.
Viele Menschen fragen uns neugierig, woher wir kommen. Wenn
wir sagen aus Deutschland, und dass wir für die Aktionen um den 24. April gekommen sind, bedanken sie sich. Wir
wehren ab, das sei doch selbstverständlich. Aber sie bestehen darauf, es ist
ungemein wichtig, dass RevolutionärInnen gerade aus dem Land der Mittäter ihre
Solidarität an diesem Tag mit ihnen demonstrieren. Dieser Herzlichkeit und
internationalistischen Verbundenheit sind wir auf allen Veranstaltungen begegnet.
Am Ende der Demonstration kurz vor dem Taksim, stoßen wir
auf die Kundgebung zum Aufstellen eines Wunschbaumes der Künstlerin Hale Tenger
vor dem französischen Konsulat. Obwohl Nor Zartonk, Mitglied des Bündnisses
„100 Jahre Leugnung sind genug“ [18] ist, nahmen die anderen Organisationen
nicht an der Demo von Nor Zartonk teil. Ihr Verständnis über die Gestaltung des
Gedenktages, das auch die über den Tag hinweg gelaufenen Aktionen prägte, war
teils ein anderes. Sie wollten stilles Gedenken, keine Parolen und politischen
Äußerungen.
Die gemeinsame Kundgebung wird mit Reden beendet. Während
der Demonstration gab es weder Angriffe der Polizei, die sich sehr zurückhielt
(internationale Presse!) noch von türkischen Chauvinisten. Eine kleine Gruppe
wurde am Ende der Demo von der Polizei eingekreist und abgedrängt.
Begonnen hatte dieser Tag mit einer Aktion vor dem
ehemaligen Gefängnis, (Sultanahmet Platz, historisches Zentrum von Istanbul),
wo in der Nacht des 24. April 1915 die
armenischen Intellektuellen inhaftiert worden waren, organisiert von dem
Bündnis „100 Jahre Leugnung sind genug“.
Eine Presseerklärung wurde in armenisch, türkisch und englisch verlesen, u.a.
von der Anwältin Eren Keskin. Vor Transparenten, die die Anerkennung des
Völkermordes und Entschädigungen forderten.
Organisationen des Bündnisses hatten eine Gruppe von
ungefähr 100 ArmenierInnen, Nachfahren
der Ermordeten, zu diesem Tag aus anderen Ländern eingeladen.
Wir trafen aber auch viele ArmenierInnen aus der Diaspora,
die selbst organisiert in die Türkei gekommen sind, um an diesem Tag zu zeigen:
„Wir sind da. Wir leben und wir wollen, dass ihr euch der Geschichte und der
Wahrheit stellt“, so eine junge Frau aus den USA.
Sprecher des Bündnisses riefen am Ende der Aktion dazu auf,
durch die Altstadt zum Bosporus zu laufen.
Dort warte ein Schiff um uns zu dem Bahnhof Haydar Paşa auf der
asiatischen Seite zu nehmen.
Ausdrücklich wurde angemahnt, keine Schilder, Transparente
zu tragen und keine Parolen auf dem Weg zum Hafen zu rufen. Ein Demozug von
über 400 Menschen bewegte sich durch die kleinen Straßen. Wir wurden laufend
von Menschen aus der Bevölkerung angesprochen, „Ihr seid doch keine
Touristengruppe, was macht ihr hier?“ Wir erklärten so vielen, wie nur möglich,
welcher Tag heute ist und warum wir hier sind.
Wir sind, wie auch bei den anderen Aktionen, keiner
Anfeindung begegnet, was uns sehr verwunderte. Im Gegenteil es gab viele
Nachfragen und auch positive Kommentare.
Die Aktion vor Haydar Paşa – von dem aus die armenischen
Intellektuellen 1915 deportiert wurden – verlief wie auf dem Sultanahmet Platz.
Es waren Veranstaltungen vor allem für die internationale und türkische Presse,
wie auch für die Nachfahren um ein wichtiges Zeichen zu setzen. Nicht nur wir,
auch andere AktionsteilnehmerInnen meinten, es wäre gut gewesen, wenn die
Bedeutung dieser Aktionen mit Transparenten und Flugblättern den Werktätigen
Istanbuls auf der Straße mitgeteilt worden wäre.
Am Mittwoch vor dem 24. April
hatten wir die Möglichkeit das Konzert „In Memoriam“, organisiert von AKA-DER
in Zusammenarbeit mit der Musikgruppe Kardeş Türküler und armenischen
KünstlerInnen aus verschiedenen Ländern, zum Beispiel Vater und Sohn, Onnik und
Ara Dinkijan und die Rocksängerin Eileen Khatchadourian, sowie KünstlerInnen
aus der Türkei zu besuchen. Auch wenn die Veranstalter selbst nicht vom
Völkermord sprachen, so trugen Nachkommen von ermordeten ArmenierInnen Gedichte
und Texte zwischen den Musikdarbietungen vor, die ihr Leid ausdrückten und den
Genozid eindringlich benannten. Über 2 000
vor allem armenische Menschen, aus Nordkurdistan/Türkei und der Diaspora
besuchten dieses Konzert im Herzen Istanbuls, im Kongresszentrum.
In Artikeln und Erklärungen der revolutionären Linken in
Nordkurdistan/Türkei, z.B. der TKP/ML (Partizan) 3
wurden der Völkermord und die Verantwortung, des türkischen und deutschen
Staates zwar verurteilt. Was natürlich wichtig ist, aber es wurde nicht auf die
Mitschuld der kurdischen und türkischen Werktätigen an dem Genozid eingegangen.
Noch wurden konkrete Forderungen nach Entschädigungen, Recht auf
Selbstbestimmung der armenischen Nation in der Türkei, noch nach einem
Rückkehrrecht für die Nachkommen aufgestellt. Das zeigt wie weit der Weg noch
ist innerhalb der revolutionären Bewegung zu einem kommunistischen Verständnis
dieser Frage.[19]
Berlin, Köln und anderswo
Im Mittelpunkt all unserer Aktivitäten standen die
Solidarität mit dem armenischen Volk und das Brechen des Schweigens über die
Mittäterschaft des deutschen Imperialismus am Genozid. Wir haben die ICOR
Erklärung „100 Jahre Völkermord an den Armeniern! Zeit sich der Geschichte zu
stellen!“ unterzeichnet und verbreitet. Die gemeinsame Erklärung BP-TA haben
wir in hoher Auflage als Flugblatt auf zahlreichen Aktionen verteilt und
intensive Diskussionen darüber geführt. In verschiedenen Städten in Deutschland
und Österreich haben wir zu dem Thema, auch zusammen mit anderen
Organisationen, eigene Veranstaltungen organisiert. Armenische Gemeinden und
Vereine haben zahlreiche Veranstaltungen, Diskussionen, Konzerte, Kulturelle
Darbietungen und Demonstrationen organisiert. Wir haben uns an vielen
beteiligt.
Wir können hier nur von einer kleinen Auswahl der
Aktivitäten berichten.
Berlin
In Berlin fanden zahlreiche Gedenkveranstaltungen anlässlich
des 100. Jahrestages des Völkermords an
den ArmenierInnen statt. Auf allen waren hauptsächlich Menschen mit armenischen
Wurzeln anwesend, wenig Deutsche und wenige Türken und Kurden, an der Hand
abzählbar. Wir haben überall unser Flugblatt verteilt, das die Menschen auf den
Kundgebungen und während der Demonstrationen als Plakate hochhielten.
Am 18. April wurden
vor der Türkischen Botschaft von AGA Mahnwache und Mahngang unter dem Motto:
„100 Jahre Genozid im Osmanischen Reich
– in der Türkei geleugnet, in Deutschland verschwiegen“, veranstaltet. Wir
haben die Transparente mitgetragen und Gespräche geführt. Es ist immer noch
eine große Wunde, die weiter blutet.
Ohne Umschweife haben die Älteren gleich von den Schicksalen
ihrer Familien berichtet. Der Völkermord hat die Familien auseinandergerissen,
sie leben über viele Länder verteilt. Das Schicksal eines Mannes hat uns sehr
berührt.
Der Großvater ist aus der Gegend von Maraş/Türkei in den
Libanon geflohen, wo sie herzlich aufgenommen wurden und er voll des Lobes für
die arabische Bevölkerung war. Dann flüchtete er 1975 nach Deutschland als der
Bürgerkrieg anfing. Er war im Libanon sehr aktiv und sie, „die armenischen
Nationalisten“ hatten auch Kontakt zu Kommunistischen Gruppen. Seine Frage war,
wie wir „Stalinisten“ dazu kämen, die „armenischen Nationalisten“ zu
unterstützen?
Wir versuchten unseren Standpunkt als KommunistInnen zu
erklären: Als Internationalisten sind wir für das Selbstbestimmungsrecht der
Völker und gegen nationale, rassistische Unterdrückung. Gleichzeitig haben wir
auch unser Unbehagen geäußert unter deutschen und EU Fahnen auf einer Aktion zu
laufen, da wir als KommunistInnen gegen den Nationalismus sind.
Freude aber auch Scham ergriffen uns, wenn sich
TeilnehmerInnen bei uns bedankten, sobald sie erfuhren, dass wir türkische und
kurdische Wurzeln haben. Es war beschämend, dass nicht Türken, Kurden und auch
Deutsche mehrheitlich die Forderungen zur Anerkennung auf die Straße trugen.
Das war leider bei allen Veranstaltungen der Fall.
Am 23. April wurde
vor dem Berliner Dom ein Lichterzug der Vergessenen organisiert. Hunderte
Kerzen brannten vor dem Dom. Im Dom fand ein Gottesdienst statt. Nationaler
Oberpfarrer Gauck ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen zu sprechen. Die Frage
war, wie er tricksen wird, welche Wortklauberei er betreiben wird. Wie einen
Tag später in der Presse zu lesen war, hat er das Wort Völkermord benutzt und
von deutscher Schuld durch einige Offiziere gesprochen. Das trifft nicht
annähernd die Mitschuld des Deutschen Kaiserreichs an dem Genozid.
Das Deutsche Reich war Finanzier, Waffenbruder, Mitplaner
und Organisator des Genozids. Dafür gibt es genug Zeugnisse. Insofern ist es
Verharmlosung, wenn Gauck von Völkermord spricht, und dabei falsch die deutsche
Rolle auf einzelne Täter im Offiziersstab zu reduzieren versucht.
Der Lichterzug lief mit einigen Tausend Menschen Richtung
Brandenburger Tor.
Am 24. April waren
wir auf der Protestveranstaltung vor dem Reichstagsgebäude, anlässlich der
Debatte im Deutschen Parlament über die Anerkennung des Völkermords. Auch hier
haben wir mit armenischen Jugendlichen zusammen unseren Flyer verteilt.
Am 25. April fand die
zentrale Demonstration statt: „100 Gedenkjahr
des Genozid an den Armeniern. Gegen Vergessen! Für Anerkennung!“ Vor dem
Bundeskanzleramt sammelten sich ca. 5 000
Menschen, überwiegend ArmenierInnen, und forderten in Reden und Transparenten
endlich Anerkennung des Genozids durch die Bundesregierung und durch das
Parlament. Sie kritisierten das 100 Jahre
andauernde Schweigen durch deutsche Regierungen.
Leider durchschauten die Veranstalter nicht die Manöver der
Bundesregierung und Gaucks. So wurde Gauck für seine Rede im Berliner Dom
gelobt, dagegen Obama hart kritisiert für seinen Schulterschluss mit der
türkischen Position des Leugnens des Völkermords.
Auf vielen Transparenten wurde das Schweigen immer wieder
thematisiert: „Unsere Wunden sind offen“, „Tränen aus Blut weinen wir“,
„Völkermord durch Türken 1915 anerkennen, jetzt und hier!“ „Wir hätten 1939
verhindern können, hätten wir 1915 verurteilt!“, „Nie wieder: Völkermord!“
Parolen wurden gerufen: „Erdoğan Lügner“, „Völkermord an den Armeniern,
Anerkennung jetzt!“
Wir haben das Transparent getragen: „1915-2015 100 Jahre Völkermord. Türkei leugnet –
Deutschland verschweigt.“ Und wir haben diese Parole auch gerufen. Unser
Flugblatt fand so viel Zustimmung, dass armenische Jugendliche es selbst
verteilten.
Ein Genosse hatte die Idee einen kleinen Stand am Demobeginn
zu eröffnen. Wir haben sehr viel Zuspruch bekommen und es gab großes Interesse
an unseren Zeitungen. Wir haben auch 200 Flugblätter in Armenisch und 100 in
Englisch verteilt.
Es war einfach überwältigend wie die armenischen
TeilnehmerInnen uns aufgenommen haben. Sie waren zuerst irritiert als sie
hörten, dass wir türkische und kurdische Wurzeln haben, empfingen uns herzlich,
und genauso freundlich blieben sie, als wir ergänzten, dass wir KommunistInnen
sind.
In Berlin haben wir auch auf der „Revolutionären 1. Mai-Demo“ das Transparent zum Völkermord an
den ArmenierInnen getragen und einen Redebeitrag dazu gehalten.
Das Gorki Theater in Berlin bot eine beeindruckende,
vielfältige Veranstaltungsreihe „Es schneit im April – eine Passion und ein
Osterfest“ zum 100. Jahrestag an. Wir
haben an vielen teilgenommen. Filme, Musik, Lesungen, Theaterstücke, Debatten…
Herausragend das Dokumentartheater von H-W. Kroesinger,
„Musa Dagh – Tage des Widerstands“. Darin wird die Beteiligung Deutschlands in
den Mittelpunkt und die Frage nach
heutiger Verantwortung und den Umgang mit Geschichte gestellt.
Die Diskussion zwischen Christin Pschichholz, Jürgen
Gottschlich und Wolfgang Gust über „Deutsche Verantwortung am Völkermord“ war
spannend und lieferte viel Material.
Köln
In Köln beteiligten wir uns an Gedenkveranstaltungen, sowie
einer Podiumsdiskussion unter dem Motto „Erinnerung und Verantwortung“.
TeilnehmerInnen waren Bilgin Ayata (Uni Berlin), Mithat Sancar (Uni Ankara),
Talin Suciyan (Uni München). Hayko Bagdad (Schriftsteller und Journalist aus
der Türkei), Minu Nikpay (Vorsitzende Armenische Gemeinde Köln).
Die Diskussion verlief in türkischer Sprache, mit
Simultanübersetzung in Deutsch und Armenisch. Ungefähr 400 Besucher waren da.
Die Diskutanten haben sich fast ausschließlich mit der Täterschaft des
türkischen Staates auseinandergesetzt. Die Verantwortung Deutschlands wurde nur
gestreift. Als es die Gelegenheit gegen Ende der Veranstaltung gab, haben wir
konkret nach der deutschen Täterschaft gefragt. Als darauf geantwortet wurde,
führte das zu einem Tumult.
Ein deutscher Mann sprang auf und wollte ob der angeblichen
Verleumdungen Deutschlands, das seiner Meinung nach, keinerlei Mitschuld trägt,
das Podium stürmen. Daher kam es leider zu keiner weiteren Diskussion.
Unserem Flugblatt in deutsch-türkisch, sowie unserer
Zeitung und Broschüre „Armenien“ wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt. Selbst
Gratulationen blieben nicht aus, wir sind nur auf Sympathie und Zustimmung gestoßen.
[1] Serdar Korucu, Aris Nalcı, „2015’ten 50 yıl
önce 1965 1915’ten 50 yıl
sonra“, (50 Jahre vor 2015 - 1965
- 50 Jahre nach 1915), Ermeni Kültürü ve Dayanışma Derneği, 2014
[2] Nationaler Befreiungskrieg: 1919-1922.
Gegen die völlige Zerschlagung und Aufteilung des Osmanischen Reiches in
imperialistische Einflussgebiete der Entente-Mächte, England, Frankreich,
Italien und Griechenland stellte sich Mustafa Kemal an die Spitze osmanischer
Truppenteile und widersetzte sich erfolgreich diesem Vorhaben. Die
militärischen Erfolge seiner Armee erzwangen von den Imperialisten den Abschluss
des Vertrages von Lausanne, der den 1920 zwischen den Entente Mächten und dem
Osmanischen Reich geschlossenen Vertrag von Sèvre aufhob.
[3] Gasi Mustafa Kemal Pascha, „Der Weg zur
Freiheit, 1919-1920“, Originaltitel „Nutuk“, Deutsche Ausgabe 1928, S. 4-5, Verlag K. F. Koehler, Leipzig
[4] Mohammedaner, mohammedanisch:
Umgangssprachlich veraltet für Muslime und muslimisch. Mohammedanismus veraltet
für Islam.
[5] Kemal, „Der Weg“, S. 16
[6] Taner Akçam, „Armenien und der Völkermord,
Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung“, 2004, S. 126-127, Hamburger Edition
[9] Kemal, „Die Nationale Revolution
1920-1927“, Deutsche Ausgabe 1928, S. 263, Verlag K. F. Koehler, Leipzig, S.
263
[11] „Lausanner Vertrag über den Schutz von
Minderheiten in der Türkei vom 21. Juli
1923“, www.suryoyo.uni-goettingen.de/library/laussaner-vertrag.htm
[12] de.wikipedia.org/wiki/Enteignung_der_Armenier_in_der_Türkei,
Stand 14.07.2015
[15] Akçam, „Istanbuler Prozesse”, S. 137
[16] „Enzyklopädie der Sozialistischen
Sowjetrepubliken“, Bd. 1, S. 728-729, 1950, Verlag Kultur und Fortschritt
Berlin
[17] Selbstdarstellung in ihrer Zeitschrift
gleichen Namens: Nor Zartonk ist eine Selbstorganisierung des armenischen
Volkes. Nor Zartonk – steht für Gleichheit, Gerechtigkeit und Frieden; – vertritt das Selbstbestimmungsrecht der
Völker und den Internationalismus; – ist
gegen das Kapital und für die Werktätigen; – tritt
für die Gedanken-, Meinungs- und Organisierungsfreiheit ein; – vertritt Basisdemokratie und Selbstverwaltung
- ist gegen Rassismus, Nationalismus, Militarismus und jegliche
Diskriminierung; – stellt sich gegen das
Patriarchat (Männerherrschaftssystem); – ist
gegen jede Diskriminerung aufgrund der geschlechtlichen Ausrichtung oder
Identität; – steht für ein ökologisches
Leben und für Anerkennung aller Arten; – ist
gegen die Gerontokrasie, die Herrschaft der Alten über die Jungen.
www.norzartonk.org
[18] AKA-DER, IHD (Menschenrechtsverein), Nor
Zartonk, Turabdin Süryanileri Platformu, Yüzleşme Platformu, Zan Sosyal Siyasal
İktisadi Araştırmalar Vakfı
[19] Siehe Gemeinsame Erklärung „Wir verurteilen
erneut den Genozid an den Armeniern am Hundersten Jahrestag“. TKP/ML,
KPGriechenlands/ML; Revolutionäre Front zur Verteidigung der Rechte der Völker
Brasilien; Revolutionäre Front der Völker Boliviens, (ML-Maoistisch); Union der
Revolutionären Kommunisten Chile (ML-M); Organisation zum Wiederaufbau der
KP-Kolumbien; KP Ecuador-Rote Sonne; MSG-Maoistische Gruppe (Keine Landesangabe
TA); Revolutionäre ml-m Lerngruppe USA; KP Indien (ML); ML Proletarische Linie
Marokko.
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