von Reinhard Großmann
Sie haben sich in kleinen Gruppen auf einen langen, beschwerlichen
Fußmarsch durch die Wüste begeben, mit nur wenigen Litern
Trinkwasser im Gepäck. Auf besonders abgelegenen und unwegsamen
Routen – um nicht von den Grenz-Patrouillen gesehen zu werden.
Ständig in der Angst, überfallen zu werden oder den Anschluss an die
schnell marschierende Gruppe zu verlieren. Mit Seilen oder Leitern
überwanden sie den Grenzzaun. Manche verletzten sich dabei, als sie
vom Zaun sprangen. Dann verloren viele die Orientierung. Sie
verdursten bei der unerträglichen Hitze.
Nicht alle dieser Migranten kommen aus Mexiko. Viele haben
bereits einen weiten Weg hinter sich. Kinder kommen beispielsweise
in Gruppen aus Honduras, El Salvador oder Guatemala und nehmen
dabei große Gefahren in Kauf. Sie klettern auf die Dächer von
Güterzügen1, um Mexiko zu
durchqueren. In den USA sollen aber ungefähr 6 Millionen
undokumentierte mexikanische Einwanderer leben.2 Warum ist das so?
Hat das Freihandelsabkommen „NAFTA“ etwa die Migration
von Mexiko in die USA verstärkt?
In den 60er Jahren entwickelte der Migrationssoziologe Everett S.
Lee das „Push and Pull“- Modell der Migration. Dabei untersuchte
er einerseits die Faktoren, die Menschen veranlassen, ihr Land zu
verlassen, die „Push-Faktoren“ und die Faktoren, die sie
veranlassen, in ein anderes Land zu gehen, die „Pull-Faktoren“.
Welche dieser Faktoren führen dazu, dass Menschen solche Gefahren
auf sich nehmen? 1994 schloss die USA mit Mexiko und Kanada das
Freihandelsabkommen „NAFTA“ ab. Hat etwa dieses Abkommen die „Push
and Pull“-Faktoren verstärkt?
Mexiko gilt als Ursprungsland von Mais und viele Kleinbauern in
Mexiko lebten vom Maisanbau. Nach dem Abschluss des
Freihandelsabkommens NAFTA waren sie nicht mehr konkurrenzfähig
gegenüber dem subventionierten Genmais, der in den USA mit wenigen
Landarbeitern auf großen Flächen angebaut wird. Millionen von
Kleinbauern verloren die Grundlage ihrer Existenz.3
Die Industrieunternehmen aus den USA bauten dagegen vermehrt
Betriebe im Norden Mexikos auf, weil sie dort in
Sonderwirtschaftszonen billig produzieren konnten. Die Löhne in
diesen „Maquiladora-Fabriken“4 sollen etwa 30 bis 60
Dollar für eine 60-Stunden-Woche betragen. Arbeitnehmerrechte
werden nicht anerkannt und Gewerkschaften gibt es kaum. Hunderte
gravierender Umweltschäden sind dokumentiert, die durch diese
Betriebe entstanden. Es wird zum Beispiel Trinkwasser aus
entfernten Gebieten mit indigener Bevölkerung entnommen und hoch
belastetes Brauchwasser an anderer Stelle ungeklärt ausgebracht.
Umweltschutzgesetze greifen nicht und werden als
„Investitionshemmnisse“ angesehen.
Die indigene Bevölkerung muss vielfach industriellen
Großprojekten weichen. Sie darf inzwischen ihr traditionelles,
unregistriertes Saatgut nicht mehr verwenden, sondern soll für
teures Geld industriell erzeugtes kaufen. Große Teile der
landwirtschaftlichen Nutzflächen werden durch ausländische
Investoren kontrolliert. Auch hier sind die Löhne sehr niedrig,
der Einsatz von Pestiziden5dafür sehr hoch – mit
negative Folgen für die Gesundheit der Landarbeiterinnen. Das
alles sind starke Veränderungen der ökologischen, der ökonomischen
und der sozialen Situation, die geeignet sind, die Migration in
die USA zu verstärken.
Erschwerte Sicherung des Lebensunterhalts in Mexiko seit
NAFTA
Die Möglichkeit der mexikanischen Bevölkerung, den
Lebensunterhalt für ihre Familien zu sichern, ist seit dem
Abschluss des NAFTA-Freihandelsabkommens stark gesunken. Viele
sehen keine andere Option als sich entweder der Drogenmafia
anzuschließen – oder in die USA zu gehen. Dort besteht die
Möglichkeit zumindest von einem besseren Leben zu träumen. Dorthin
werden die Gewinne der Investoren geleitet. Dort leben auch die
Nutznießer des Freihandelsabkommens.
Das Freihandelsabkommen NAFTA enthält auch eine Passage, die
Konzernen aus USA und Kanada die Möglichkeit bietet, Mexiko vor
einem Schiedsgericht zu verklagen. Und zwar dann, wenn sie ihre
Gewinnerwartungen durch politische Entscheidungen beeinträchtigt
sehen. So urteilte das Schiedsgericht bei der Weltbank in
Washington, dass Mexiko 15,6 Mio. Dollar an den kalifornischen
Konzern Metalclad zu zahlen hat, weil eine örtliche Behörde keine
Baugenehmigung für eine Sondermülldeponie geben wollte.6 Es gibt weitere Beispiele
für solche „Investitionsschutzklagen“. Dieses Geld fehlt dem Staat
für öffentliche Aufgaben.
Kredite für die Bevölkerung gibt es kaum. Nur wenige, vor allem
ausländische Banken, wie die US-amerikanische Citi-Bank bieten sie
an. Auch bei der relativ niedrigen Inflationsrate von etwa 4 %
sind die Zinssätze für Kredite sehr hoch. Sie können 40 % pro Jahr
und mehr betragen. Wenn die Kredite bedient werden können, fließt
Geld aus dem mexikanischen Geldkreislauf ins Ausland –
insbesondere in die USA.
Ein Teil der in den USA lebenden und dort arbeitenden Mexikaner
schickt Geld an die Familie nach Mexiko zurück. Diese sogenannten
Remesas stellen einen bedeuteten Anteil der nach Mexiko fließenden
Devisen. Die Remesas helfen den Familien hier den Lebensstandard
zu halten. Die Möglichkeit, aus dem Zielland Geld zu schicken,
weil nur so die Familie ausreichend versorgt werden kann, ist
sowohl ein Pull- als auch ein Push-Faktor. Auch die über US-Banken
gewaschenen Dollar für Drogengeschäfte heben den Lebensstandard in
Mexiko. Zunächst sorgen sie aber für einen größeren Unterschied
von Arm und Reich und für eine weiter wachsende Kriminalität.
Zusammenarbeit von Drogenkartellen, einer korrupten
Polizei und dem Staat in Mexiko
Drogenkartelle, eine korrupte Polizei und der Staat arbeiten in
Mexiko mehr und mehr zusammen. Mit dem Staat als Instanz der
wirksamen Rechtspflege kann nicht länger gerechnet werden. Mehr
und mehr Menschen verschwinden, mehr und mehr Morde geschehen. Das
ist jedoch kein Hinderungsgrund für eine Zusammenarbeit der
deutschen Polizei mit der mexikanischen. Sie führt Schulungen in
Mexiko durch.7
Die meisten Migranten, die aus Ländern wie El Salvador oder
Honduras über Mexiko in die USA reisen, werden Opfer krimineller
Banden und der Polizei. Diese Migranten sind stets der Gefahr
ausgesetzt, unterwegs ausgeraubt, vergewaltigt, getötet oder
zwangsrekrutiert zu werden.
Deutsche Waffenexporte in bestimmte, besonders konfliktreiche
Bundesstaaten Mexikos sind verboten. Trotzdem gelangen die G36
-Sturmgewehre von Heckler und Koch genau dorthin. Sie werden unter
anderem einfach in ein anderes Gebiet Mexikos exportiert oder in
Lizenz in den USA hergestellt.8 Wie stark wirkt sich ein
mangelndes Gefühl von Sicherheit, die Angst, Opfer von
Kriminalität zu werden, als Push-Faktor aus?
Für den Wahlkampf in Mexiko wird nach Vorbild der USA sehr viel
Geld ausgegeben. Nur die Kandidaten, die von den reichsten
Vereinigungen finanziell unterstützt werden, haben eine reelle
Chance. Die reichsten Vereinigungen in Mexiko sind die
Drogenkartelle. Wählerstimmen der armen Bevölkerung werden
gekauft. Als Beweis dient ein Handyfoto – oder ein Wähler muss
heimlich den leeren Wahlzettel für den nächsten Wähler aus dem
Wahllokal bringen. In welchem Maß wirkt sich eine schwindende
Hoffnung auf Veränderung als Push-Faktor aus?Ausgewiesene Menschen wohnen in Erdlöchern und Holzverschlägen
Busse bringen die aus den USA ausgewiesenen Migranten wieder in die Herkunftsländer zurück. Sie werden kurz hinter der Grenze ausgesetzt, auch wenn sie bereits mehrere Jahre in den USA lebten. In einem vermüllten ausgetrockneten Flussbett vor der mexikanischen Grenzstadt Tijuana wohnen, in Erdlöchern und Holzverschlägen, etwa 2000 der ausgewiesenen Menschen.9 Bald versuchen sie es erneut. Gelingt es ihnen, wieder mit Stricken und Leitern über den Zaun zu klettern?
Bereits 2011 haben sich etwa 50 mexikanische Organisationen an das „Ständige Tribunal der Völker“, das „Basso-Tribunal“, in Rom gewandt. Die Richter dieses ethischen Gerichts ohne juristische Vollzugsgewalt sollten den schweren, in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmenden Verletzungen von Menschenrechten in Mexiko nachgehen. Dieses Tribunal hat unter anderem die Gewalt gegen Frauen, die verloren gegangene Ernährungssouveränität, und auch den Einfluss von NAFTA auf Mexiko untersucht.10
Laut dem Urteil des „Basso-Tribunals“ sind der mexikanische Staat und die in Mexiko aktiven transnationalen Konzerne und deren Mutterländer verantwortlich für die Kriminalisierung der mexikanischen Ökonomie. Die Konzerne stammen aus den USA und aus der EU – auch aus Deutschland. Auch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank tragen laut dem Urteil Verantwortung. Das Tribunal sprach 20 Empfehlungen aus, um die Situation der Menschen in Mexiko zu verbessern. Es empfahl unter anderem, dass Mexiko aus dem Freihandelsabkommen NAFTA aussteigt.
Freizügigkeit für Kapital- und Warenströme, nicht aber für die Menschen
Der Soziologe Petrus Han sagte im Jahr 2005 voraus: „Die wachsenden strukturellen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd (…) werden den allgemeinen Migrationsdruck auf die wenigen Industrieländer weiter erhöhen. (…) Auf der anderen Seite werden die politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaftsbildungen von Nationalstaaten (z.B. EU, NAFTA, AFTA, APEC, ASEAN) die regionale Integration der Länder vorantreiben und dadurch in wachsendem Ausmaß regionale Migrationsbewegungen innerhalb der jeweiligen Gemeinschaftsbildungen auslösen.“11
Das Freihandelsabkommen NAFTA zwischen USA, Mexiko und Kanada – soll das wirklich eine wirtschaftliche Gemeinschaftsbildung sein? Würde eine Gemeinschaftsbildung nicht zumindest die völlige Freizügigkeit voraussetzten, innerhalb der Gemeinschaft zu migrieren?
Der Empfehlung des Basso-Tribunals, dass Mexiko aus NAFTA austritt, möchte ich mich anschließen. Ich denke aber, dass das nicht leicht umzusetzen ist – In Mexiko steht NAFTA, insbesondere aus Sicht der US-amerikanischen Vertragspartner, über der Verfassung. Freihandelsabkommen, die nicht für eine befristete Zeit abgeschlossen wurden, sind nach dem Völkerrecht unkündbar. Große internationale Konzerne, die USA und Europa sind maßgeblich beteiligt an der sozialen Lage in Mexiko – und auch in vielen anderen Ländern der Welt. Sie profitieren von der Arbeit, die in diesen Ländern geleistet wird. Sie profitieren von dem Ackerland, das im großen Stil aufgekauft wird und von den Bodenschätzen. Sie beuten Ressourcen in Lateinamerika und in Afrika aus. Neben NAFTA sollen immer wirtschaftsliberalere Freihandelsabkommen12 die Profite der westlichen Konzerne sichern – zulasten der Menschen in den südlichen Ländern. Selbst die „Entwicklungshilfe“ dient dazu, eigene Unternehmen zu fördern und dabei andere Staaten wirtschaftlich anzugliedern. „Hilfskredite“, die gegeben werden, müssen später mit hohen Zinsen bezahlt werden. Das gelingt in armen Ländern nur, wenn noch mehr Ackerland und noch mehr Rohstoffe für den Export eingesetzt werden. Geraten die Länder in die „Schuldenfalle“, werden sie nie mehr herausgelassen. Ihnen werden dann vom Internationalen Währungsfonds strenge Auflagen gemacht. Sie müssen zum Beispiel ihre der Ernährungssicherheit dienenden Getreidespeicher auflösen.13 Externen Nahrungsmittelspekulanten ist dagegen das Anlegen von Getreidespeichern erlaubt.14 Private „Geierfonds“ dürfen die armen Länder finanziell weiter auspressen.
Diese Politik ist in hohem Maße für die Migration verantwortlich. Statt sich der Verantwortung zu stellen, lassen westliche Regierungen hohe Zäune bauen. An der Grenze der USA – und im Norden Afrikas.
Anmerkungen und Literatur:
1 Reisen
mit Güterzügen wird stark behindert. Siehe Hillenbrand (2014):
Mexiko verstärkt Maßnahmen gegen Migranten.
2 Vgl. dazu: http://www.pewresearch.org/fact-tank/2014/11/18/5-facts-about-illegal-immigration-in-the-u-s/3 Siehe Reportage „Die Sklaven des Freihandels“ (2012).
4 Vgl. dazu: Maquiladora-Industrie im Soziologie Wiki
5 Vgl. u.a.: http://www.welt-ernaehrung.de/2011/11/14/mexiko-lateinamerika-todliche-pestizide
6 Vgl. dazu: attac (2012): Mexiko zahlt Schadensersatz wegen Erfrischungsgetränkesteuer.
7 Siehe auch: Neuber (2014) BKA bildet Polizei in Mexiko seit Jahren aus. Amerika21.
8 Siehe
auch: Guzmán (2014): Deutschen Gewehre im Einsatz gegen
Studenten im mexikanischen Iquala. America21.
9 Siehe Deutsche
Welle (2013): Wo der amerikanische Traum endet (2013)10 Vgl. Altvater (2014): Tödlicher Freihandel. Der Freitag
11 Vgl. Han, Petrus (2005): Soziologie der Migration, Lucius & Lucius, Stuttgart, S. 3
13 Zum Beispiel Niger siehe Ziegler,
Jean (2012): Wir lassen sie verhungern, Bertelsmann, München, S.
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Literaturhinweise:
Cornelia Giebeler (2013) Aliens.
Kindertransmigration in Mexiko. In: ILA (Zeitschrift der
Informationsstelle Lateinamerika) Nr. 366 Juni 40-43
Tuider
E, Wienold H, Bewernitz T (Eds) (2009): Dollares und Träume,
Westfälisches Dampfboot, Münster
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